Tomoji. Lukas Kellner

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Название Tomoji
Автор произведения Lukas Kellner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753150796



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schon wieder.“, murrte er, während sie an der Ampel auf das grüne Männchen warteten. Von der Pathologie bis zur Hauptzentrale trennten sie nur einige Querstraßen, deswegen waren sie zu Fuß hergekommen. Der Ursprung von Eliahs Frust war eigentlich nicht Palfrader, sondern das Ergebnis der Obduktion. Sie hatten große Hoffnungen in Andersch gesetzt, darauf, dass er irgendwelche Hautpartikel, Haare, Fingerabdrücke oder sonst was finden würde, das sie dem Täter hätten zuordnen können. Fehlanzeige. Anscheinend ging der Mörder noch vorsichtiger vor als gedacht, was im Grunde ein weiterer Punkt war, der für Marvins Wiederholungstäter-Theorie sprach.

      „Ich befürchte, ich weiß, was sie von uns will…“, antwortete der just in diesem Moment. Eliah sah zu ihm hinüber. Marvin hatte den Kopf gesenkt und stierte auf sein Smartphone. Ohne ein weiteres Wort hielt er ihm den Bildschirm hin. Ein Grinsen sprang Eliah entgegen, gepaart mit zwei Herzen, blonden Haaren und durchbohrten Wangen. Das Bild war eine Zeichnung und erinnerte an die Arbeit eines Malers, der Szenen aus Gerichtsprozessen festhielt, einem sogenannten Gerichtszeichner, der immer dann zum Einsatz kam, wenn Kameras im Saal verboten waren.

      Neben dieser Zeichnung jedoch war ein echtes Foto abgedruckt, darauf die Leiche im Büro, drapiert auf der schwarzen Ledercouch und misshandelt, genauso, wie sie Marvin zuletzt in Erinnerung behalten hatte. Nur die kritischen Stellen waren mit einem Weichzeichner bearbeitet, sodass man die unscharfen Flecken mit der eigenen Fantasie befüllen musste. Unter dem Bild ein ellenlanger Text, der die tragische Geschichte der Anwältin und Feministin Katharina Bolgur erzählte. Darüber die Schlagzeile: „Der (E)Moji- Mörder.“ Die größte Zeitung der Stadt hatte ein Bild der Toten, samt Spekulationen um den Tathergang vor wenigen Minuten veröffentlicht.

      Eliah starrte fassungslos auf den Bildschirm. Er griff instinktiv in seine Tasche und kramte, ohne hinzusehen, eine Zigarette mit Feuerzeug hervor. Er zündete sie sich an und nahm einen langen, befreienden Zug. Es war mittlerweile grün geworden, doch keiner von beiden überquerte die Straße.

      „Hm…“, er blies den weißen Dampf aus seinen Lungen. Eine große Wolke verhüllte für einen kurzen Moment sein Gesicht. „Wenigstens weiß ich jetzt, warum sie uns sehen will.“, meinte er, schüttelte den Kopf und begann dabei hüstelnd zu lachen. Er nahm einen weiteren, tiefen Zug, zuckte mit den Achseln und lief los.

       „Oui... ich auch“, fügte Marvin zögerlich hinzu und sah Eliah nach, der nun, immer noch grinsend, die Straße überquerte. Erst, als es wieder rot wurde, riss es Marvin aus seinem Staunen heraus und er musste einen Sprint ansetzten, um nicht von einem Auto überfahren zu werden.

      Das, was sie da gerade gesehen hatten, war ein Supergau! Ein Vorfall, der sie in den Ermittlungen um Lichtjahre zurückwarf und einen schnellen Abschluss wahnsinnig unwahrscheinlich machte. Die Medien und der öffentliche Druck würden ihre Arbeit zusätzlich behindern. Als Leiter der Ermittlungen würde das ohne Zweifel auf Eliah zurückfallen und konnte ihn gehörig in die Bredouille bringen. Jeder würde hinter ihm her sein, allen voran Palfrader, aber bei einem ‚Unfall‘ dieser Größenordnung auch Männer von höherer Stelle. Eliah würde keinen Schritt mehr tun können, ohne dass man ihm dabei penibel auf die Finger schaute.

      Umso mehr bewunderte Marvin die Art und Weise, wie er sich angesichts dieses Schlamassels verhielt. Eliah strahlte eine stoische Ruhe und Leichtigkeit aus, die ihm imponierte. Der Druck von außen schien ihm gegenüber machtlos zu sein, ganz gleich, wie groß er auch werden sollte. Während des gesamten Weges zurück zum Präsidium fragte er sich, wie Eliah sich gleich gegenüber Palfrader verhalten würde. Ob es bei einer Zigarette und ein bisschen Lachen bleiben sollte, oder eben doch noch eskalierte.

       Falten. Das war seit neuestem ihr Ding. Seitdem sie aufgehört hatte zu rauchen, war ihr jedes Ventil recht. Und auf einer Persönlichkeit in ihrer Funktion baute sich ständig Druck auf. Druck, den sie unerbittlich an der Falzkante des Papiers vor sich entlud.

      Eliah saß schweigend da und beobachtete sie, während sie mit viel zu viel Kraft einen neuen Knick in das Stück weißen Papiers vor sich faltete. Palfrader gab sich nicht einmal Mühe, eine Tierfigur, ein Schiffchen oder einen Papierflieger zu basteln. Es ging ihr nur darum, den Knick mit ihrem Fingernagel nachzufahren und dabei so viel Kraft aufzuwenden, dass der Daumen hellweiß anlief. Eliah hatte sie schon oft so erlebt, es war jedes Mal dasselbe. Meistens konnte er die Ansprache sogar im genauen Wortlaut vorhersagen. Er überlegte sich, wann sie wohl das erste Mal beim Reden spucken würde und nahm in Gedanken Wetten dafür an. Die Idee amüsierte ihn so sehr, dass er ein kurzes Schmunzeln nicht verhindern konnte.

      „Was ist denn so witzig?“, zischte Palfrader. Sie machte den Eindruck einer hungrigen Löwin, der man gerade ein Stück Fleisch wegstibitzt hatte. Eliah ging nicht weiter darauf ein. Er räusperte sich und sagte:

      „Hören Sie…“. Doch weiter kam er nicht.

      „WAS? Was soll ich hören? Wie konnte das passieren? Haben Sie eigentlich irgendetwas im Griff? Von Anfang an muss ich Ihnen in den Hintern treten! Sie sind nicht erreichbar, bringen keine Ergebnisse und jetzt kommt das. Die Chancen, jetzt noch saubere Ermittlungen zu führen, liegen bei Null! Verdammt, Eliah!“

      Sie hatte aufgehört zu falten, ballte stattdessen die Hände zu Fäusten und legte die Arme links und rechts auf dem Schreibtisch ab, als würde sie sich gleich darauf abstützen wollen. Die blonde Mähne und der aufrechte Sitz gaben ihr das Aussehen eines sich aufplusternden Papageis. Einen Moment lang blieb es still. Keiner sagte auch nur ein Wort, bis Marvin todesmutig versuchte, die Spannung zu durchbrechen: „Eliah hatte darauf keinen Einfluss, wenn man sich die Bilder ansieht, erkennt man ganz deutlich, dass…“, begann er zu argumentieren, doch in diesem Moment hob sein Mentor auch schon die Hand. Eliah lehnte sich langsam in seinem Stuhl nach vorne. Für einen kurzen Moment befürchtete Marvin, er würde jetzt gleich ebenfalls die Beherrschung verlieren und losschreien. Palfrader hatte diesbezüglich gerade ganz gut vorgelegt. Sie war so schon nicht der Typ für Fingerspitzengefühl, doch ihre jetzige Wortwahl war selbst für ihre Maßstäbe verbissen. Marvin spürte Wut und Abneigung in ihm hochkriechen und das, obwohl er nicht Ziel ihrer Attacke gewesen war. Eliah ließ die Hand langsam wieder sinken. Er hob den Kopf und sah Palfrader an, die immer noch vor Wut zu kochen schien. Er fixierte sie eine ganze Weile, ohne irgendetwas zu sagen. So, als ginge er alle Optionen in seinem Kopf durch, als wolle er keine vorschnelle Entscheidung treffen, die er irgendwann einmal bereuen könnte. Dann erhob er das Wort.

      „Wie wär’s wenn wir rausgehen und das draußen besprechen?“ Beide, Marvin und Palfrader, starrten ihn entgeistert an. Seine Worte schwangen geradezu durch den Raum, klangen weich und beiläufig, so als besprächen sie gerade nichts Wichtiges, als führten sie ein angenehmes, kleines Pläuschchen. Da war nichts Bedrohliches in seiner Stimme, kein Beben oder Brechen, kein Unverständnis und schon gar kein Befehlston. Trotzdem war das eindeutig kein Nachgeben und auch kein ‚Ist schon okay ‘. Palfraders Worte schienen zwar an Eliah abgeprallt zu sein wie hölzerne Pfeile an einer Betonmauer, doch etwas in seiner Stimme vermittelte eine unmissverständliche Botschaft: Bis hier hin und nicht weiter!

      Palfrader starrte Eliah mit halb geöffneten Mund und noch immer geballten Fäusten an. Dann zuckte ihr Blick auf das Papier vor sich. Das Blatt war mittlerweile an der Faltkante eingerissen. Sie zog ihre beiden Arme an den Körper, blickte auf und erhob sich, ohne Eliah dabei auch nur für eine Millisekunde aus den Augen zu lassen. Er tat es ihr gleich, hielt ihr beim Hinausgehen die Tür auf und sie waren verschwunden. Zurück blieb ein verblüffter Marvin, der ohne ein einziges Wort verstanden hatte, dass er bei diesem Gespräch nichts verloren hatte. Er stierte auf den Platz, den sein Vorgesetzter soeben verlassen hatte. Nach einer Weile begann er, leicht zu nicken und murmelte: „Ha…“

      Er erhob sich und wollte gerade den Raum verlassen, als sein Blick auf das zerrissene Blatt Papier auf Palfraders Tisch fiel. Er griff danach und musterte den Druck darauf. Es war das Foto, das gerade auf jedem Titelblatt der Stadt abgebildet war. Das Foto einer Frau, die brutal ermordet und anschließend einem Smiley entsprechend entstellt worden war. Trotz der unscharfen Flecken über Gesicht und dem Intimbereich, musste es früher oder später jemandem auffallen: Die Bilder waren digital bearbeitet worden. Zwar stand in dem Artikel ‚Foto der Spurensicherung vom Tatort‘, doch sprachen einige Faktoren gegen diese Behauptung. Die Kameras, mit denen die SpuSi hantierte, waren von der Marke Canon aus