Immer mutig. Paul Scheerbart

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Название Immer mutig
Автор произведения Paul Scheerbart
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742766236



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nimmt jeder Erzengel den großen Dom,

       den er im Arme trug, in beide Hände und setzt ihn auf

       ein hohes Schneegebirge. Danach ziehen alle Zwölf ihre

       dicken Pelzhandschuhe aus und greifen geschwinde mit

       ihren zarten Fingern in ihren weltmeergroßen Rucksack.

       Aus ihrem Rucksack holen die Engel viele hundert

       neue, blitzblank glänzende Paläste hervor. Und mit den

       Palästen schmücken sie den großen Schneeball, der sich

       Erde nennt, daß er bunt wird und mächtig funkelt; die

       Augen der Erzengel leuchten dabei, als wenn sie für

       artige Kinder Spielzeug auskramten.

       Nachdem die Rucksäcke geleert sind, flattern die

       Engel wieder empor und schweben munter plaudernd in

       mäßiger Entfernung auf und ab in schönen großen

       Kreisbogen.

       Die Erde sieht bunt aus, als wäre sie mit den Flügeln

       der kostbarsten Schmetterlinge, erfrorenen

       Paradiesvögeln und gleißenden Diamanten bestreut.

       Und die Paläste werden hell. Millionen Lampen

       werden überall drinnen angesteckt; durch die bunten

       Glasfenster der hohen Dome und all die vielen Schlösser

       strömt gedämpftes Licht tausendfarbig in die violette

       Schneenacht hinaus.

       Die violette Sonne wird noch dunkler. Die fernen

       goldenen Sterne verlieren auch viel von ihrem Glanz. Der

       sammetschwarze Himmel rahmt die sanft aufglühende

       Erde ringsum prächtig ein.

       Und die großen Glocken der Dome läuten alle.

       Ein Sehnsuchtsschauer durchrieselt die weiten

       Schneegefilde; durch die nagende Schwermut des kalten

       Erdballs ringt sich ein neues Leben durch – das ewige

       Leben!

       Die Toten stehen auf.

       Überall hebt sich die Schneedecke. Und all die

       Menschen, die einst auf der Erde lebten und starben,

       steigen aus ihren Gräbern heraus, schütteln sich den

       Schnee ab und sehen sich erstaunt an. Als sie merken,

       daß sie auferstanden sind, fallen sie sich gegenseitig um

       den Hals und sind sehr gerührt.

       Ja! Ja! Wer hätte nicht gern ein neues Leben

       begonnen!

       Die Erde dreht sich schneller.

       Doch dieser große ernste Augenblick ähnelt einem

       großen drolligen Maskenfest, denn alle Menschen haben

       Kleider an, die denen gleichen, welche sie zu ihren

       Lebzeiten am häufigsten trugen. Die Bettler gehen neben

       den Königen, die Priester neben den Kriegern, die

       Handwerker neben den Gelehrten – in all den vielen

       Trachten all der vielen Zeiten. Vom Fellschurz bis zum

       gebügelten Oberhemd ist alles da.

       Die Auferstandenen steigen die goldenen Stufen zu

       den Schlössern und Domen empor. Es wimmelt man so!

       Alle Sprachen der Erde wirbeln durcheinander, daß es

       mächtig durch den ganzen Himmel brummt und die

       Glocken nicht mehr zu hören sind.

       Oben aber vor den Türen der Schlösser und Dome

       stehen viele tausend Engel, die nicht größer als die

       Menschen sind, in zarten hellgrünen, hellblauen und

       hellroten Gewändern und warten.

       Feierliche Begrüßung! Händedrücken und

       Wangengestreichel! Kopfnicken und Armgewackel! Viel

       Gelächter! Und viel lächelnde Behaglichkeit!

       Die großen Burgen, die aus reinen Riesendiamanten

       bestehen, sprühen ihren Farbenbrand so festlich in die

       Dämmerung. Und die andern Edelsteine der weiten

       Säulenhallen glänzen mit den reinen Riesendiamanten um

       die Wette. Und die kostbaren Steingewächse, die aus den

       Domen aufstreben, sind auch so wunderbar. Die

       Smaragdkuppeln einzelner Schlösser werden von innen

       erleuchtet und werfen in den schwarzen Sanimethimmel

       weite grüne Lichtkegel, die sich langsam bewegen. Die

       Saphirtürme ragen höher empor als die anderen Türme.

       Und das stille Licht, das überall durch die

       tausendfarbigen Glasfenster hinausströmt, das schimmert

       so heilig-bunt und verheißungsvoll. Ungeheure

       Palastgebirge sind mit riesigen Opalbogen umgittert.

       Wenn das Auge von Pol zu Pol schweift, so wird es

       verzückt bei all der Glanzglut. Der Bauzauber ist so

       gewaltig, daß man sich verwundert fragt, wie es kommt,

       daß die auferstandenen Menschen nicht einfach toll

       werden. Aber – so entsetzlich es auch ist, so wahr ist es:

       die meisten Menschen denken bloß an das gute

       Abendbrot, das ihnen nach ihrer Meinung in den Domen

       und Palästen von eifrigen Dienern vorgesetzt werden

       wird.

       Wie verblüfft sind da die Auferstandenen, als sie im

       Innern all der vielen Glanzburgen gar kein Abendbrot

       finden! Männlein und Weiblein sehen sich verwundert

       um, entdecken aber nichts. Draußen haben sie schon

       schmerzlich den gänzlichen Mangel an Bäumen, Früchten

       und Gemüsen bemerkt – und jetzt ist auch drinnen Alles

       nur unfruchtbarer Stein! Marmor und Rubine, Gold und

       Silber, bunte Lampen und bunte Wände, entzückend

       gegliederte Kuppeln, ein bißchen Sammet und Seide,

       mächtige Granatsäulen, glitzernde Glasgrotten und

       ähnliche Sachen gibt's ja in unüberschaubarer Menge –

       doch von Hammelbraten, Schneckensalat und Feuerwein

       keine Spur!

       »Engel, wo bleibt das Abendbrot?«

       Also ruft demnach baldigst ziemlich einstimmig das

       ganze große Menschengeschlecht.

       Die Engel öffnen schweigend im Innern der Paläste

       und Dome kleine Seitenpforten, die bis dahin den

       Blicken der Menschen entzogen waren. Alle denken

       natürlich – jetzt gibt's zu essen, zu trinken und zu

       rauchen. Hei! Wie sie sich freuen!

       Indessen – diesmal ist die Enttäuschung noch viel

       größer.

       Das »alte« Leben grinst die Menschen an.

       Es