Blut für Gold. Billy Remie

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Название Blut für Gold
Автор произведения Billy Remie
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752923964



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sich das gesamte Stimmengewirr auf dem Marktplatz einfand und ein großes Fest gefeiert würde. Es wurde gegrölt, gejubelt. Jemand schrie. Vor Schmerz, nicht vor Freude. Und bald darauf roch es nach Rauch und heißem Fleisch.

      Darcar schüttelte den Kopf, wollte endlich aus diesem Alptraum erwachen.

      In seine Gedanken versunken, bemerkte er den anderen erst, als es bereits zu spät war. Darcar blieb stehen, als er den Schatten bemerkte, der am Ende des Kanals auf der Veranda einer Mühle saß und mit einem Stuhl im Mondschein kippelte.

      Sie sahen sich direkt an, Darcar spürte die Augen des anderen in seinen, brennend, bohrend, obwohl das Gesicht des Fremden vollkommen im Dunkeln lag.

      Nicht wissend, was er jetzt tun sollte, blieb Darcar wie zu Stein geworden einfach stehen. Er hatte Angst, wenn er sich bewegen würde, dass der andere ihn dann erst recht anfiel. Als wäre vor ihm kein Mensch, sondern ein gefährliches Raubtier. Genauso hatte er sich gefühlt, als er als kleiner Junge mal vor einer wildgewordenen Bulldogge gestanden hatte, die ihn zähnefletschend angeknurrt und in Sprunghaltung gegangen war. Sein Herz wollte aus seiner Brust springen, in seinen Ohren pulsierte es heiß.

      »Hey!« Der Fremde ließ seinen Stuhl nach vorne fallen und pflanzte die Füße auf den Boden.

      Darcar erwiderte den Gruß nicht, er stolperte rückwärts und lief wie der letzte Feigling in eine Seitengasse. Er fühlte sich richtig schlecht, als er davonlief, kindisch, mutlos – schwach. Er wollte für Veland die Verantwortung übernehmen, doch stattdessen rannte er sogar vor einem einzigen Schatten davon. Weder hatte er seine Brüder wie versprochen beschützt, noch war er in der Lage, für sie zu sorgen. Oder auch nur für sich selbst.

      Wuttränen liefen still über seine Wangen, als er die dunklen Gassen entlang trottete und anfing, sich selbst zu hassen.

      Ohne Wasser, ohne Essen suchte er den Weg zurück. Es dauerte eine Weile, denn in der Dunkelheit sah alles anders aus. Doch da die Feier auf dem Marktplatz im vollen Gange schien, waren zumindest die Gassen wieder wie leergefegt. Darcar verzweifelte bereits, als er dann überrascht feststellte, dass er vor der Bibliothek stand und beinahe vorbeigelaufen wäre.

      Er hastete hinein und die morschen Stufen nach oben, flüsterte Velands Spitznamen, während er um jede Ecke lugte. Das Lager fand er verlassen und stockfinster vor. Ihm sank das Herz in die Knie. »V?«, flüsterte er panisch und sah sich um. »V?« Dieses Mal wurde er lauter, stampfte durch den Raum und versuchte, die langen Schatten mit seinem Blick zu durchdringen.

      »Darc?«, wimmerte es leise aus einer Ecke, als ob eine Maus zu sprechen gelernt hätte.

      Darcar fuhr herum. Da sah er, wie Veland sich aus einer Ritze zwischen zwei Regalen hervorquetschte. Er konnte sich dünn wie eine Spinne machen, um in jedem Riss zu verschwinden. Ein Talent, das ihm beim Versteckspiel immer hatte gewinnen lassen.

      »V!« Darcar ging erleichtert mit großen Schritten auf ihn zu. Und als Veland ihm in die Arme rannte, ging er in die Knie, um ihn an sich zu drücken. Er krallte eine Hand in das Haar seines Bruders und presste dessen Gesicht an seinen Hals, warmer Atem küsste seinen Kehlkopf.

      »Ich dachte, du würdest nicht zurückkommen«, gestand Veland ihm gehaucht. »Sie kamen von überall, ich habe gehört, wie sie durch die Straßen zogen. Hab mich versteckt, wie du gesagt hast. Sie waren unten, haben Bücher geholt, glaube ich, sind dann weiter…«

      Als Darcar die schnellen Worte hörte, die sich aufgeregt überschlugen, hielt er Veland noch fester, nur einen Moment, um ihn zu spüren und sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Er fühlte Vs hämmernden Herzschlag an seiner Brust und wartete, bis er sich etwas beruhigt hatte.

      »Ich habe doch versprochen, dass ich zurückkomme.« Er nahm V bei den Schultern und drückte ihn ein Stück von sich. Im Licht des Mondscheins, das durch die trüben Fenster fiel, sahen sie sich in die Augen.

      Veland runzelte die Stirn. »Du hast geweint«, stellte er fest und hob einen Arm. Zärtlich strich er mit den winzigen Fingerspitzen über die feuchten Spuren auf Darcars Wangen.

      »Hab ich nicht«, log dieser und umfing das dünne Handgelenk seines kleinen Bruders, um seinen Arm niederzudrücken.

      Veland sah traurig aus, sagte aber nichts weiter dazu. Vermutlich hätte ihn Darcars Menschlichkeit irgendwie getröstet, doch Darcar hielt eisern an seinem Vorhaben fest, für V stark zu bleiben. Der Kleine sollte nicht das Gefühl haben, dass sein großer Bruder ihn nicht beschützen könnte oder nicht wüsste, was er tat. Auch, wenn das der Fall war, er wollte, dass Veland sich bei ihm sicher fühlte.

      Er wollte doch einfach nur, dass V niemals Angst haben musste. Auch jetzt nicht.

      »Wo ist das Wasser?« Velands Frage riss ihn aus seinen Gedanken.

      »Ich habe keins«, gab er trocken zurück. Veland wollte es sich nicht anmerken lassen, lächelte nachsichtig, doch es trat Enttäuschung in seine Augen. »Aber ich weiß, wo es welches gibt«, fuhr Darcar fort und grinste, »und morgen früh werde ich uns welches holen.«

      Um jeden Preis, das hatte er sich geschworen, nachdem er vor dem Schatten, der ihn angesprochen hatte, wie ein verschrecktes Huhn davongerannt war. Er würde noch einmal zum Kanal gehen und Wasser besorgen. Er würde jedoch das Messer mitnehmen.

      Denn er konnte sich keine Angst mehr leisten.

      Kapitel 5

      Darcar schlief kaum in jener Nacht, er hielt Veland im Arm, dessen Kopf auf seinen Beinen ruhte, und bewachte ihn, während er innerlich bei jedem kleinsten Geräusch hellhörig wurde. Wachsam zu bleiben war anstrengend, Angst zu haben noch mehr. Das beklemmende Gefühl hatte sich wie eine Kette um seine Brust gelegt und beschwerte seine Atmung, Schwäche und Nervosität kribbelte durch seine Eingeweide. In der Ferne erklang das Gelächter auf dem Marktplatz, es hielt beinahe die ganze Nacht an. Darcar erlaubte es sich nicht, die Augen zu schließen, er passte auf, dass sie niemand fand. Der Wind pfiff durch die Häuserruinen und es wurde kälter, doch weil er kein Licht erzeugen und auf sich aufmerksam machen wollte, hatte Darcar kein neues Feuer entfacht. So saß er stundenlang im Dunkeln und hielt Veland warm, bis sich die Versammlung – oder was auch immer es gewesen sein mochte – auf dem Marktplatz auflöste. Mit angehaltenem Atem lauschte er den näherkommenden Schritten und Gesprächsfetzen, jemand sang schief und rau, berauscht vom Alkohol. Darcar kannte diese lallenden Gesänge von Männern, die aus Saloons torkelten und die Straße hinauf stapften.

      Niemand kam in die Bibliothek, niemand entdeckte sie. Kurz vor dem Morgengrauen wurde es wieder grabesstill in der Stadt, und obwohl Darcar wach bleiben wollte, fielen ihm irgendwann die schweren Lider zu, sodass er ein, zwei Stunden Schlaf fand, bis ihn plötzlich die Morgensonne wachküsste.

      Er fühlte sich, als wäre eine Armee über ihn drüber getrampelt, seine Augen brannten, seine Zunge war pelzig und sein Atem schmeckte sauer. Er hatte Durst und Hunger, ihm war kalt und er wusste, dass in wenigen Stunden sein Vater hingerichtet wurde.

      Alles in ihm schrie danach, einen Ausweg aus diesem Loch zu suchen, sich eine Waffe zu besorgen und seinen Vater zu befreien. Doch er war nicht allein, er hatte eine Verantwortung für Veland, den er nicht einfach in den Selbstmord mitziehen konnte. Er hatte ein Versprechen gegeben. Außerdem würde er ohnehin nichts ausrichten können, selbst wenn Veland nicht bei ihm wäre.

      Er blieb noch eine Weile sitzen, streichelte den Rücken seines kleinen Bruders, dessen Brust sich unter ruhigen Atemzügen dehnte und senkte. Das Gefühl, wie er auf ihm lag, atmete, lebendig war und Schutz suchte, tröstete Darcar. V roch so gut, immer schon, nach Zuhause, nach Familie, dass es Darcar beinahe die Tränen in die Augen trieb.

      Vor dem Fenster erhob sich das erste Licht des Tages. Ein schicksalhafter Tag. Darcar lehnte den Kopf an die Wand, von der die Verkleidung abgeplatzt war, und beobachtete, wie sich die Sonne über dem Rattenloch erhob. Er hatte einen dicken Kloß im Hals, und doch wollten ihm keine Tränen kommen. Es wäre leichter gewesen, hätte er weinen können. Denn an diesem Morgen würde man ihn seines Vaters endgültig berauben. Und er saß fest.

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