Schützenhilfe. Gabriel Anwander

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Название Schützenhilfe
Автор произведения Gabriel Anwander
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919275



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was?», sie zog die Hand zurück, blickte verwundert.

      «Seine Haare. Pechschwarz, glänzend und so geordnet, als käme er von einem Fünf-Sterne-Friseur.»

      «Pomade!», sie wusste Bescheid, «macht jünger! Das solltest du mal versuchen», sagte sie und packte es in einen vieldeutigen Blick.

      Ich fragte sie: «Woher hast du gewusst, dass er Schild hiess?»

      Svetlana trat aus der Küche, ging hinaus, kam zurück mit dem Wassereimer in der Hand. Sie stellte ihn hin und goss sich ein Glas Cola ein, trank es in einem Zug aus, nahm den Eimer und ging damit nach hinten zur Toilette.

      Als die Tür zu war, sagte Rosi: «Vom Vertrag. Sie hat ihn mir gezeigt.»

      «Schätze, sie ist nicht gut weggekommen in dem Vertrag.»

      Rosi schnipste die Zigarettenasche in den Aschenbecher und sagte: «Das war null gerecht.»

      Ich sagte: «Wir hätten ihr zu einem Anwalt verhelfen sollen. Einen Gegenspieler, der hätte sie vertreten, eine Vaterschaftsklage aufgesetzt und eine satte Forderung gestellt. Er hätte den Franz, den Vater des Kindes, zu einer langjährigen Unterstützung verklagt. Vermutlich hätten die Anwälte gefeilscht, es hätte vielleicht sogar eine längere Gerichtsverhandlung gegeben. Aber so? Kein Mensch tritt eine Auseinandersetzung dieser Art allein an. Ohne Unterstützung, ohne Gegenposition.»

      «Ach ja?», sagte sie, «Gerechtigkeit muss also in jedem Fall erkämpft werden?»

      «Du verwechselst Gerechtigkeit mit Recht. Gerechtigkeit ist eine Tugend, sie wird den Menschen anerzogen, basiert auf Gefühlen und hat keinen Anspruch auf irgendetwas. Dürrenmatt hat einmal gesagt: Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zugang hat. In der Natur, übrigens, existiert keine Gerechtigkeit.»

      «Wir sind keine Affen mehr, vergiss das nicht», sagte sie.

      «So weit davon entfernt, wie viele glauben, sind wir nicht! Und wenn wir schon dabei sind: Recht ist eine menschliche Erfindung.»

      «Immerhin verlangt beides nach der Wahrheit!», warf sie ein.

      «Ja, ja, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Woraus besteht denn die Wahrheit? Zur Hauptsache aus Ansichten und trügerischen Erinnerungen. Fünf Leute, die etwas beobachtet haben, haben fünf Ansichten, daraus ergeben sich fünf Wahrheiten. Recht ist hingegen ein Zustand, ein Gleichgewicht, um das gerungen wird, und zwar mit Spielregeln, die von einer Gesellschaft vorher festgelegt werden. Denk an Justitia mit der Waage: Sie ist blind. Richter lernen bei ihrer Arbeit, die Argumente abzuwägen, ohne sich dabei von Gefühlen leiten zu lassen. Und vergiss nicht, lügen ist nicht verboten!»

      Ich war in Fahrt gekommen.

      Sie stoppte mich: «Weisst du eigentlich, dass du von einem Kind redest?»

      «Na ja», sagte ich.

      «Eins ist sicher: Der Wisch, den Svetlana unterschrieben hat, hatte weder mit Gerechtigkeit noch mit Recht was zu tun», sagte sie, drückte den Zigarettenstummel aus und fügte hinzu: «Du mit deinem Dürrenmatt. Ich sage dir mal meine Definition: Die Gerechtigkeit wohnt im Himmel und die Justiz auf dem Mond, auf der Erde, hier auf der Erde herrscht ein Fürst mit dem Namen Geld, und das Gegengewicht zur Moral ist die Macht. Jawohl!»

      Was hätte ich dazu sagen sollen? Das Fressen kommt vor der Moral, wer hatte das gesagt? Schild war nicht gekommen, um seinen Mandaten freizukaufen oder zu entschuldigen. Er war als Anwalt gekommen, um die Rechte seines Mandanten zu verteidigen, seinen finanziellen Schaden zu begrenzen, und dies mit gesetzlich erlaubten Mitteln.

      Svetlana kam zurück, trank noch ein Glas Cola und verschwand in der Küche.

      Nach diesem Zusammenprall war sie verschwunden, den ganzen Sommer über hatte ich sie nicht gesehen. Ich hatte Rosi nicht nach ihr gefragt, hatte einfach angenommen, sie sei ersetzt worden, durch die Neue, die Spanierin mit dem Namen Dolores. Vor vier oder fünf Wochen war Svetlana zurückgekehrt, dünner, bleich, um die Mundwinkel auffällig kummervoll, und mit einem Quantum dunkler Leere in den Augen. Leiser, um Jahre gealtert, aber nicht weniger freundlich.

      Rosi räumte die Tassen weg, wischte mit einem Lappen über die Bar.

      Ich legte das Geld für den Espresso hin, wandte mich zum Gehen und dachte: Er war der Typ Mann, der sich nicht so schnell was diktieren liess. Warum, um Himmels willen, hatte er sich so glatt abknallen lassen?

      Rosi schob das Geld in meine Richtung zurück, wedelte mit der Hand darüber, um klar zu machen, dass ich eingeladen gewesen war, und sagte: «Danke für die Hilfe mit dem Tisch.»

      Ich griff nach dem Geld.

      Sie legte rasch ihre Hand auf meine Hand, beugte sich vor und sagte: «Weisst du, was ich hoffe?»

      «Was denn?», fragte ich.

      Ich konnte das Parfum des Puders riechen, den sie aufgetragen hatte, und ihre Stimme klang sonderbar schneidend, als sie sagte: «Ich hoffe, eine Frau hat ihn erschossen.»

      Eine Frau? Der Gedanke traf. Ich überlegte, wog ab und geriet wohl leicht aus der Fassung. Sie liess meine Hand los, beobachtete mich, lachte, hustete, schüttelte sich und prustete: «Nein, Alex, nicht was du denkst!»

      Wieso konnte immer alle Welt meine Gedanken lesen?

      Svetlana streckte den Kopf aus der Küche und fragte: «Was ist?»

      Rosi beruhigte sie und fragte mich: «Hast du keine Sonnenbrille?»

      Ich blickte mich um, es war nicht übermässig hell im Lokal.

      Sie zeigte auf mich und raunte: «Dein Gesicht», ihre Finger berührten mich fast, «es gleicht einer Wetterkarte – du musst was dagegen tun. Unbedingt! Setz eine Sonnenbrille auf oder lass dir von einem echten Profi zeigen, wie man ein Pokerface macht.»

      6

      Ich ging zu meiner Agentur hinüber, nahm die Werbeprospekte aus dem Briefkasten, schloss die Tür auf und trat aus dem hellen Morgen hinein ins dämmerige Empfangszimmer.

      Innerhalb dieser dicken, alten Sandsteinmauern blieb es in der Wohnung – egal wie heiss die Sonne draussen auf den Asphalt brannte – schattig und kühl. Es roch nach Walderde, getrockneten Pilzen und manchmal nach angefaulten Kartoffeln, schwach, aber doch streng genug, um zu verhindern, dass in mir das Gefühl der Vertrautheit entstehen könnte. Das Flusswasser, das während einer Woche durch das alte Quartier geflossen war, hatte genügend Zeit gehabt, unter die Bodenplatten und ins Fundament zu sickern und sich von den Gipswänden aufsaugen zu lassen; eine Restfeuchte hatte sich im Holz und in den Dichtungsmassen unter den Fenstersimsen festgesetzt, da und dort kamen nach Monaten noch schwarze Schimmeltupfer zum Vorschein.

      Ich hatte Vorhänge anbringen lassen, schwere, blickdichte Ware aus Baumwolle, damit sich die Klienten nicht beobachtet fühlten. Das Gewebe dämpfte nahezu alles, Geräusche, Licht, Wärme, sogar die Erschütterungen, bloss die Gerüche, die dämpfte es nicht. Langsam hegte ich den Verdacht, dass die Vorhänge die Austrocknung der Wohnung sogar verhinderten. Erfolgreich verhinderten.

      Ich riss sie zurück und das Fenster auf und liess frische Luft herein.

      An der Wand wartete ein Sofa auf Klienten, ein breites, modernes Sofa. Dem Sofa gegenüber stand der dazu passende Sessel. Ich hatte die beiden Möbel mit meinem ersten Honorar gekauft, darauf gesessen und gewartet hatte bisher niemand. Geschlafen hatte ich hingegen mehr als einmal auf dem Sofa, Langnau lag im Emmental, und die Fahrt dahin dauerte immerhin 45 Minuten, und wenn ich jemanden observierte, der sich in derselben Nacht in zwei Betten niederlegte, verbrachte ich halbe Nächte im Auto, unter einem Baum oder hinter einem Container.

      In der Mitte stand ein Tischchen, auf dem Zeitschriften lagen, die wie neu glänzten, obschon ich sie zur Eröffnung gekauft hatte, und neben dem Sofa hatte ich ein Plakat mit Reissnägeln direkt auf die neue Tapete gepinnt. Es zeigte den Berg Niesen, gemalt von Paul Klee; nichts als den Niesen und rechts davon die Sonne, abstrakt und in Farben, die alles andere als grell waren und präzis zu meinem Gemüt passten, wie ich fand.

      Jedes