Schützenhilfe. Gabriel Anwander

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Название Schützenhilfe
Автор произведения Gabriel Anwander
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919275



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das Plakative; sie enthob das Plakat der Versuchung, ein eigenständiges Bild zu sein. Das Plakat blieb Plakat, Träger des Abdrucks eines Klee-Bildes, und das Klee-Bild mit dem Niesen wurde zum Ereignis, zum Kernpunkt. Je häufiger ich darüber nachdachte, desto mehr kam ich zur Überzeugung, dass dies auch für Menschen galt, die im Dienst der Gesellschaft stehen. Für Polizisten zum Beispiel, für Lehrer, Politiker oder Soldaten. Egal welchen Auftrag sie haben, sie werden eher akzeptiert, wenn man spürt, dass sie mit menschlichen Eigenschaften wie Vergesslichkeit oder Fehlbarkeit gestraft sind und Aufträge so erfüllen, wie sie es mit ihrem eigenen Gewissen vereinbaren können. Abwehr oder gar Widerstand lösen die anderen aus, die Männer und Frauen, die ihren Weg wie eine hellerleuchtete Promenade vor sich haben, denen selber nie ein Fehler unterläuft. Wer kennt sie nicht, diese senkrechten Menschen, die bis zur Zahnstellung vollkommenen Figuren, die alles in ihrem Leben richtig machen, angefangen bei den Eltern, die sie sich ausgesucht haben, bis hin zum Glück, die richtigen Kinder mit dem richtigen Partner gezeugt zu haben, als wären sie nicht zum ersten Mal Mensch auf dieser Erde?

      Als Polizist nehmen sie jede Untat, jedes Vergehen als persönliche Beleidigung und ahnden streng, kleinlich und unnachsichtig. Sie verspüren eine tiefe Befriedigung, sobald sie eine Person eines Vergehens überführen können. Sie wähnen sich immerzu auf der Seite des Rechts und halten sich gar für das Mass oder die Norm des Rechts, als hätten sie es geschaffen, führen sich auf wie Vollstrecker statt Vollzieher.

      Am unerträglichsten sind diese Menschen, wenn sie an der Macht sind, wenn sie Herr sind über ein Heer von Polizisten. Gerade in dieser Stadt gab es zu jener Zeit einen Polizeivorsteher, der hiess die Stadtpolizei selbst dann einschreiten, wenn etwas nur schon nach Verbrechen oder Sünde roch, und er bezichtigte jede Verharmlosung der Mitschuld. Oft war sein Blick getrübt oder beschränkt, weil er die Gesetze vor dem Gesicht trug, statt im Kopf.

      Seinesgleichen geniessen wenig Vertrauen in der Bevölkerung, und ohne Vertrauen wird jede Aktion gegenüber Menschen, jedes Eingreifen oder Einschreiten vom Publikum als Beleidigung empfunden; das wusste schon Konfuzius. Ich hatte mich oft über die Kurzsichtigkeit des Kerls gewundert; wie erbärmlich musste sein Alltag, sein Privatleben ausgesehen haben: Alles, was für ihn zählte, war erstens Sicherheit, zweitens Sicherheit und drittens Sicherheit. Jede Bewegung, jeder Aufruhr, jeder Krawall war für ihn ein Zeichen des Niedergangs, der Verwahrlosung, des Zerfalls. Toleranz, Freizügigkeit und Nachsicht waren für ihn Merkmale der Schwäche. Kurz: Für ihn war alles, was Menschen bewegt, was sie zusammen- oder auseinanderbringt, gefährlich und konnte nur mittels rigorosem Durchgreifen unterdrückt und bewältigt werden. Er war auf seine Weise so unerträglich wie jeder religiöse Fanatiker.

      Das Telefon klingelte und holte mich unsanft aus der Grübelei. Ich sauste hinüber ins Büro, das ich im Schlafzimmer eingerichtet hatte. Hier waren die Vorhänge zurückgeschoben, und die Sonne streckte ihre warmen Strahlen bis aufs verstaubte Pult. Ich liess die Prospekte in den Papierkorb fallen, was den Staub zünftig aufwirbelte, und hob der Hörer ab.

      Es war Deborah, die Sekretärin des Stellvertretenden Polizeichefs. Statt einer Begrüssung sagte sie: «Endlich! Wo warst du so lange?»

      «Ich habe heute meinen freien Tag.»

      «So? Und trotzdem bist du in deiner Agentur?»

      «Ich muss meine Blumen giessen. Habe gestern keine Zeit gehabt.»

      Sie kicherte: «Auch keine Zeit zum Staubwischen?»

      Sie war hiergewesen und hatte durchs Fenster gespäht, so viel war klar! (Und Frauen sehen nun mal jedes Staubkorn, so wie ihnen jeder Tupfen Fliegenkot auf einer Fensterscheibe ins Auge springt.)

      Ich blickte den winzigen Teilchen nach, wie sie den Sonnenstrahlen entlang hinauf und hinaus in die Welt tanzten, und gab zur Antwort: «Nein, ständig ruft jemand an.»

      Sie sagte: «Ach, du bist immer noch derselbe Spassvogel, was? Wann kommst du wieder zu uns zurück? Du fehlst hier, weisst du das? Du hast unserem Laden gutgetan. Seit du weg bist …»

      Ich unterbrach sie: «Wenn das so weitergeht, brauche ich Verstärkung. Möchtest du nicht für mich arbeiten?»

      «Du meinst, ich könnte bei dir Staub wischen?», fragte sie in höchstem Ton.

      Hatte sie angerufen, um mich zu ärgern? Ich versuchte, bei ihr eine empfindliche Stelle zu treffen: «Ich mein es ernst, oder suchst du nicht mehr was anderes?»

      Es wurde still. Ich lauschte und liess meinen Blick aus dem Fenster schweifen. Stehend konnte ich zwischen den Häusern die Aare sehen, sie floss aufgewühlt unter der Steinbrücke durch. Nach hundert Jahren Schweigsamkeit hörte ich einen Seufzer am anderen Ende der Leitung, und bevor sie etwas entgegnen konnte, setzte ich einen drauf: «Verstehe, du hast dich abgefunden mit deinem Chef, seinen kindlichen Erklärungen, seinen Selbstlobhudeleien, Peinlichkeiten …»

      «Ach, Alex!»

      «… mit den unkollegialen Kollegen, mit den einfältigen Kolleginnen, Hyänen, Schlangen und Oberkühen; mit all den Reibereien, mit …»

      «Hör auf!» Es klang wie Hoffnung, die von Verzweiflung zerfressen wurde. Sie senkte ihre Stimme, die Zischlaute stachen wie Nadeln in mein Ohr, ich stellte mir vor, wie sie mit ihrer Hand die Sprechmuschel abschirmte, damit nichts von dem, was sie sagte, in unbefugte Ohren gelangen konnte: «Du wirst es nicht glauben, aber seit du weg bist, ist hier alles noch schlimmer geworden.»

      Ich hielt den Hörer vom Ohr weg und brüllte in die Muschel: «Ha, und du willst mich zurücklocken! Sag mal, hasst du mich so sehr? Warum verlässt du die Abteilung nicht auch endlich?»

      «Ach, Alex», hörte ich sie jammern, «es ist schwer, sehr schwer in meinem Alter. Ich hab es versucht, glaub mir, ich habe 45 Bewerbungen verschickt», und wie um der Zahl zusätzlich Gewicht zu verleihen, fügte sie hinzu, «eine für jedes meiner Jahre.»

      Ich hatte ihren wunden Punkt getroffen. Ich sagte in versöhnlichem Ton: «Du und ich, wir wären ein starkes Team.»

      Ich hörte ein Geräusch im Hintergrund, jemand war zu ihr ins Sekretariat gekommen, bestimmt Konrad Oberli, der Hausdienstleiter, der sich dauernd auf ihr Pult setzte, als wäre er ihr bester Freund. Das lenkte sie ab, zwang sie zur Teilung ihrer Aufmerksamkeit, deshalb überhörte sie mein Angebot. Sie änderte ihre Stimmlage ein weiteres Mal und sagte: «Der Chef will dich sehen.»

      «Sag ihm, er soll selbst bei mir anrufen, wenn er was von mir will. Ich bin jetzt mein eigener Chef.»

      Sie sagte: «Er sagt, du seiest gestern Abend am Tatort gewesen. In Muri, bei Schilds Haus. Er will mit dir darüber reden.»

      «So? Hat er das gesagt? Weisst du zufällig, was er mir sagen will?»

      Sie redete, als wäre sie allein: «Er hat gesagt, der Fall … Er meint, es könnte gefährlich werden, du könntest in Teufels Küche geraten und es am Ende teuer bezahlen.»

      «Meint er.»

      «Ja. Er hat gesagt, er könne dich nicht schützen und auch nicht decken oder rausholen, wenn du in die Klemme gerätst», sagte sie mit einer Ernsthaftigkeit, die mir zu denken gab.

      «Verstehe, er hat Angst um mich.»

      «Sieht so aus», sagte sie.

      «Das glaubst du ja selbst nicht. Der hat noch nie um jemanden Angst gehabt, ausser um seinen eigenen Arsch. Und helfen würde er nicht einmal seiner Mutter, wenn sie in der Klemme sässe. Er weiss doch, dass das jeder weiss. Deborah, was will er wirklich?»

      Beim Reden kam mir der Gedanke: «Oder setzt ihr verdeckte Ermittler ein? Meint er, ich könnte einen erkennen und auffliegen lassen?»

      Sie wich den Fragen aus: «Hast du tatsächlich den Auftrag, Schilds Mörder zu suchen?»

      «Ich hab doch gesagt, wenn das so weitergeht, brauche ich Verstärkung.»

      «Warum überlässt du das nicht unserem Fahnder?», sie klang, als erhoffte sie sich Unterstützung von Oberli.

      Tatsächlich ertönte ein Grunzen aus dem Hintergrund, es klang wie Beifall