Schützenhilfe. Gabriel Anwander

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Название Schützenhilfe
Автор произведения Gabriel Anwander
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919275



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zu, nahm es auf und ergänzte wie beiläufig: «Bei der Belohnung dachten wir an fünfzigtausend.»

      «Spesen extra?»

      «Selbstverständlich.»

      Sie gab mir das Dossier in die Hand, deutete darauf und sagte: «Sie finden alles da drin, Namen, Adressen, alles über den Hergang der Tat – soweit bekannt natürlich – und zehn Prozent Vorschuss.»

      «Sie möchten in diesem Fall die Seiten wechseln», sagte ich, «Sie stellen sich auf die andere Seite, ausnahmsweise, auf die Seite der Anklage. Das ist neu für Sie. Und weil Sie die Seite der Verteidigung kennen, nicht aber die Seite der Anklage, brauchen Sie einen Helfer.»

      «Ich wusste, Sie würden das begreifen», nickte sie, und um ihre Lippen bildete sich etwas wie ein Lächeln.

      Wir gaben uns die Hand. Ich versprach, es mir zu überlegen und ihr am nächsten Morgen meinen Entschluss mitzuteilen. Dann liess ich sie allein in ihrem verrauchten Büro. Allein mit ihrer Wut, ihrer Trauer, ihrem Leid.

      3

      Als ich auf die Strasse trat, war die Dämmerung schon weit fortgeschritten. Der Himmel zeigte im Westen seine rote Scham vor der Nacht, die sich über die Stadt legte, als plante sie deren Entwürdigung. Der weisse, zerknitterte Alpenkamm verblasste in der Dunkelheit. Der Mond hing wie zum Hohn als dünne Sichel hoch über den Dächern.

      Die Läden in den Gassen hatten geschlossen. Die Verkäuferinnen hatten die Kleiderständer mit der angeketteten Ware hereingezerrt, die Tafeln mit den Hinweisen auf Neuheiten oder Sonderangebote achtlos in die Eingänge gestellt, die Stereoanlagen aus- und die Alarmanlagen eingeschaltet. Sie hatten die Säcke mit den Abfällen des Tages zur Strassenecke geschleppt, dort in einen Container geschmissen und waren danach auf den Bus geeilt, der sie nach Bümpliz brachte, oder Ostermundigen. Die Schaufenster warfen ihr Licht auf das Pflaster und machten es so hart und kalt wie einen Gletscherboden, und die Spatzen und Tauben, die tagsüber flink und frech auf dem Gehsteig umherhüpften, hatten sich wer weiss wohin verzogen.

      Ein junges Paar schlenderte vorbei. Sie wackelte mit ihrem Bauch- und Nierenspeck im Freien, bei ihm hingen die Gesässtaschen seiner Jeans im Kniebereich. Die Hände der beiden klebten aneinander fest. Sie waren auf der Suche nach einem unverschlossenen Hauseingang, wo nebst dem Knutschen ein wenig Fummeln möglich sein sollte.

      Ein Lüftchen blätterte in einer Gratiszeitung, die im Rinnstein lag, und schubste eine leere Bierdose unter meinen Wagen.

      Ich hatte mich längst entschieden.

      Ich stieg ein, schaltete die Leselampe ein und schlug das Dossier auf. Drei Zeitungsausschnitte flatterten heraus, je einer aus dem «Bund», der «Berner Zeitung» und der «Neuen Zürcher Zeitung». Die Tat war gestern Abend geschehen, zu spät, um noch eigene Recherchen anzustellen. Der Artikel im «Bund» gab praktisch die Pressemitteilung der Polizei wieder. Diesen Artikel hatte ich gelesen, am Morgen in meinem Büro, die beiden anderen Artikel sparte ich mir auf.

      Nebst den drei Zeitungsausschnitten gab es ein Foto mit Angaben zum Ermordeten, zu seiner Tätigkeit, seiner Frau und seinem Haus, und zuhinterst fand ich eine kurze Zusammenfassung zum Stand der Ermittlungen.

      Ich betrachtete das Foto eingehend. Den Mann hatte ich ein Mal getroffen, da war ich mir sicher. Doch wo? Wann? In welchem Zusammenhang? Ich blätterte im Dossier, und nach der letzten Seite überkam mich das Gefühl, dass etwas fehlte. Das Dossier war nicht vollständig – das konnte es natürlich nie sein –, aber ich hatte das Gefühl, dass es dem Zeitpunkt entsprechend nicht vollständig war. Ich sass still und versuchte, das Gefühl ins Bewusstsein aufsteigen zu lassen: Wo hatte ich den Mann getroffen? Was fehlte im Dossier? Gab es einen Zusammenhang mit einem anderen Fall? Ich schweifte mit meinen Gedanken zurück, langsam, behutsam, rief Erinnerungen wach und liess sie wieder versinken. Ich blätterte im Dossier vor und zurück und forschte nach dem Hinweis, dem Auslöser, dem Grund, der mein Gefühl derart in Erregung versetzte. Ich versuchte, meiner Empfindungen Herr zu werden, um sie deuten zu können, doch dieses Gefühl blieb im Bauch haften, unbestimmbar und jenseits meines Willens.

      Ein Gefühl verschliesst sich bekanntlich unserer Verfügungsgewalt besonders dann, wenn man den Anlass, die Ursache dazu bestimmen will. Es ist, wie wenn man eine Münze auf dem Grund eines Tümpels glänzen sieht. Sobald man danach greift, ist sie weg. Man sieht nur noch Schlamm, trübes Wasser.

      Vielleicht ist es das, was uns zu armen Teufeln und für Streitereien so anfällig macht. Wie soll ich meinem Nächsten meinen Unmut begreiflich machen, wenn mir die Ursache selbst nicht klar ist? Wie soll ich den Aufruhr meines Nächsten verstehen, wenn er zwar den Auslöser, aber die Ursache dazu nicht erklären kann? Und Gewalt, das weiss die ganze Menschheit, Gewalt löst keine Missverständnisse. Trotzdem wird ständig wettgerüstet und gestritten, gekämpft, geschossen, bombardiert – und gelitten.

      Ich gab das Grübeln auf, zählte den Vorschuss – fünf neue Tausender – und steckte ihn ein.

      Immerhin.

      Als Nächstes wollte ich wissen, wo der Tatort lag. Am Stadtrand, an der Grenze zu Muri, stand im Dossier.

      Ich fuhr hinaus, Richtung Muri, überquerte die Autobahn und fand die Strasse, eine Ringstrasse in einem Quartier mit Einfamilienhäusern. Ich fand die Adresse beim ersten Anlauf. Es war das letzte Haus in einer Sackgasse, die vor einem Maisfeld endete.

      Ich lenkte meinen Wagen auf den Platz vor dem Betonunterstand, nahm das Dossier in die Hand und stieg aus. Der Unterstand bot Platz für mindestens zwei russische Panzer. In der einen Hälfte stand ein Mercedes, in der anderen Hälfte beleuchteten zwei Neonröhren einen Campingtisch und vier oder fünf Klappstühle, die verloren vor bunten Skiern, Reserve-Rädern, einem alten Bauernschrank und einem Regal platziert waren. Dann standen da noch Rasenmäher, Schubkarre und allerlei Gartenwerkzeuge herum.

      Zwei Polizisten, eine Frau und ein Mann, beide in Uniform, sassen am Tischchen, er rauchte, sie las Zeitung. Ich trat an den Tisch und sagte: «Guten Abend allerseits.»

      Der Mann drückte seine Zigarette aus und stemmte sich hoch; die Frau blieb sitzen und lächelte ein freundliches «Guten Abend».

      Für ihn war ich ein Störfall, für sie ein Erlöser.

      Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der blonde Strang quoll hinten aus der blauen Mütze, als wäre er angeheftet, und die Haarspitzen streichelten ihren Nacken bei der kleinsten Kopfbewegung. Die Mütze sass eine Idee zu weit vorne auf dem Kopf, die Sonnenblende überschattete ihre Augen und ihren gesegneten Augenabstand.

      «Das ist doch das Haus, oder?»

      Sie taten, als müsste ich ihnen helfen. Er stierte auf meine Brust und sie hob ihren Kopf, sodass ich ihre dunklen Augenbrauen und ihre tiefschwarzen Augen sehen konnte. Sie senkte danach ihren Blick, sah ebenfalls auf meine Brust und fragte: «Welches Haus denn!?»

      Er schob seine Mütze auf den Hinterkopf, als spielte er den Nachtwächter in einer Operette von Richard Strauss, und machte ein Gesicht, als hätte ich ihn bei einem Schwur unterbrochen; er blickte auf den Pferdeschwanz, dann wieder zu mir, murmelte etwas und verschränkte seine kurzen Arme über dem mächtigen Bauch.

      «Das Haus von diesem Anwalt, wie hiess er noch?», ich suchte den Namen auf dem Deckel des Dossiers und sagte: «Schild.»

      Keine Reaktion.

      «Also gut, ich schau am Briefkasten nach …»

      «Das ist das Haus», tönte es vom Mann her. Er liess die Arme sinken.

      «Und was wollen Sie in dem Haus?», fragte die Frau, setzte ein pflichtgetreues Gesicht auf und sah zu ihrem Kollegen auf.

      «Es muss um diese Uhrzeit passiert sein», sagte ich und war versucht, nur noch mit ihr zu sprechen, «ich will sehen, wie das ist mit dem Licht, den Schatten, der Umgebung, den Geräuschen; ich muss wissen, warum er den Täter nicht rechtzeitig bemerkt hat. Warum ist er nicht ins Haus geflüchtet?»

      «Kantonspolizei?», fragte sie, und von ihm hörte ich wieder fast gleichzeitig: «Fahnder, was?»

      Ich