Schützenhilfe. Gabriel Anwander

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Название Schützenhilfe
Автор произведения Gabriel Anwander
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919275



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selten genug – ein Glas mit mir und erzählte Geschichten von früher. Sie hatte sogar meinen favorisierten Single Malt ins Sortiment aufgenommen, nicht etwa um mir einen Gefallen zu erweisen, sondern weil sie selbst auf den Geschmack gekommen war.

      An diesem Morgen befreite sie die Tische und Stühle von der Kette, während Svetlana, ihre Angestellte, mit einem viel zu grossen Besen die ersten herbstlichen Blätter zusammenkehrte und aufhäufte. Als ich aus meinem Wagen stieg, hielten sie inne, und Rosi nickte mir mechanisch zu. Sie meinte: «Du bist früh dran, Alex.»

      Ich grüsste, setzte ein reserviertes Lächeln auf und strebte ohne Umwege meiner Agentur zu. Ich hatte das Dossier über Nacht studiert und wollte Frau Scheidegger meine Zusage bekannt geben. Kaum war ich an ihnen vorbei, rief sie meinen Namen: «Alex?»

      «Ja?»

      «Hilfst du mir, den Tisch da rüberzustellen, ja?»

      Auf dem abgegrenzten Platz standen drei kleine Bistrotische und ein grösserer Metalltisch. Die drei kleinen Tische wollte sie für die Dauer des Winters in den Keller tragen, den grossen in die Ecke unter die Platane verschieben, wo sie den amerikanischen und japanischen Touristen, die auf der Suche nach einem Fotosujet vom Bärengraben her kommend hier vorbeischlenderten, nachmittags, wenn die Sonne den Nebel aufgesogen hatte, ein Bier, einen Tee oder einen Punsch servieren könnte.

      Ich legte das Dossier auf die Tischplatte, hob den Tisch mit ihr zusammen an und realisierte zu spät, dass sie das Deckblatt lesen konnte.

      Sie bemerkte: «Wie bist du zu dem Auftrag gekommen!?»

      Ich gab keine Antwort.

      Für Rosi gab es zwei Sorten Männer: charakterlose und erfolglose. Ihre Bemerkung und die Art, wie sie die Bemerkung machte, zeigte, dass sie mich eher der zweiten Sparte zuordnete. Allerdings war man bei ihr nie sicher. Es ehrte und kränkte mich zu gleichen Teilen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass es für sie eine dritte und vierte Sorte Männer gäbe, wenn sie ein drittes und viertes Mal geheiratet hätte.

      Sie liess nicht locker: «Willst du seinen Mörder suchen?»

      «Hast du ihn gekannt?»

      Wir stellten den Tisch ab.

      «Wen? Schild? Jetzt sag bloss, du weisst nicht mehr, wer das war», sagte sie erstaunt.

      Ich musste wieder mal eine Augenbraue hochgezogen, vielleicht sogar dümmlich geblickt haben, gesagt hatte ich nichts. Sie trat näher an mich heran, schickte sich an, mich zu schütteln, mich einen Blödian oder so was Ähnliches zu schimpfen, liess es aber bleiben, wandte sich an Svetlana, die das Laub mit einer Kehrichtschaufel umständlich in einen Abfallsack stopfte und sich dabei fortwährend um den Sack und das Laub drehte, sagte ihr, sie solle danach die Stühle mit dem Lappen reinigen, wies gleichzeitig auf einen blauen Eimer, der neben der Tür stand, gab mir einen Wink und verschwand im Lokal.

      Ich folgte ihr. Sie war hinter die Bar getreten, ich stellte mich davor. Sie drückte einen Knopf an der Kaffeemaschine, stellte zwei Tässchen darunter, wartete, kratzte sich hinter dem Ohr, während sich der herrliche Kaffeegeruch zu verbreiten begann, und platzierte die Tellerchen mit den kleinen Tassen und dem fingerdicken Schäumchen auf dem Kaffee genau zwischen uns.

      «Vor einem Jahr, ungefähr», begann sie und gab zwei Zucker in ihren Kaffee, «hat der Kerl, Makler oder was er war, wie hat er geheissen? Ist ja egal, hat der also letzten Herbst eine Affäre mit Svetlana gehabt. Er hat sie besucht, oben in ihrem Zimmer, öfters, und wie sie schwanger geworden ist, ist er weggeblieben. Hat sich nicht mehr blicken lassen. Das muss, warte mal, jetzt haben wir September, Anfang Jahr, gegen Ende Januar, gewesen sein. Wie gesagt, so ungefähr.»

      Sie rührte den Zucker ein, warf einen Blick hinaus, sah zu, wie Svetlana den Sack zuschnürte, und erzählte weiter: «Sie hat ihn angerufen, in seinem Geschäft, und ihm gesagt, er könne sich freuen.»

      Sie stürzte ihren Espresso hinunter. Sie trank ihn nie mit Genuss, wie ein Italiener, sondern wie ein Postbote, der die Post hereinbringt und die nächsten Briefkästen im Kopf anpeilt, um seine Tasche möglichst rasch leer zu haben. Sie liess ihre Hand sinken, stellte das Tässchen auf die Untertasse, wischte sich mit Daumen und Zeigefinger die Mundwinkel sauber und meinte: «Tja, und da hat er ihn geschickt: den Schild. Seinen Anwalt. Das kannst du nicht vergessen haben! Er ist hinten gesessen, Tisch zwölf, fast den ganzen Vormittag hat er da gehockt und mit Svetlana geredet.»

      Jetzt sah ich ihn vor mir. Daher kannte ich ihn! Der Mann war leise eingetreten, leise und vor Zuversicht strotzend, man spürte, der hatte sich nicht im Lokal geirrt, der hatte eine Order.

      Er hatte nach Svetlana gefragt, dann den ganzen Tisch belegt und sich so hingesetzt, dass er den Raum überblicken konnte. Die Aktenmappe neben sich, die Hände gefaltet auf der Tischplatte, so hatte er gewartet. Mit seinem weissen Hemd, seiner Krawatte und einer Haltung, die Position, Macht und Entschlossenheit erahnen liess, hatte er quasi den ganzen hinteren Teil des Lokals in Beschlag genommen. Jedenfalls traute sich niemand in seine Nähe. Er hatte nicht nur aufrecht, sondern siegessicher dagesessen; Svetlana hatte sich geweigert, hatte sich regelrecht gesträubt, an seinen Tisch zu gehen. Sie musste sich ihrer Aussichtslosigkeit, ihrer Ohnmacht gegenüber der Geschliffenheit eines Anwalts, wie er es war, bewusst gewesen sein. Rosi hatte sie hinführen müssen, wie man ein Kalb zum Metzger führt, hatte sich neben sie gesetzt und die Rolle des Türöffners übernommen. Er musste rasch begriffen haben, dass es ein leichtes Spiel sein würde, dass er für seinen Mandanten das maximale Ergebnis nicht nur fordern, sondern auch würde durchsetzen können.

      Ich hatte an der Bar gesessen, Zeitung lesend, und hatte unauffällig hingesehen. In Situationen wie dieser erwacht mein Spürsinn, mein Forschergeist. Ich hatte längst nicht alles, was sie sprachen, verstehen können, denn im Hintergrund lief Musik. Svetlana hatte geschwiegen, vorerst, hatte lediglich gesagt, sie rede mit Franz, und nur mit Franz, ihrem Freund, mit niemandem sonst. Er hatte keine Fragen gestellt, hatte lediglich festgehalten, was sie gesagt hatte, hatte ihre Aussage in andere Worte gepackt, aber letztlich ihre Weigerung wiederholt, was mich irritierte. Er hatte weder Ungeduld noch Nachsicht gezeigt, hatte auch nicht gelächelt, wirkte bloss aufgeräumt.

      Es waren Gäste eingetreten, Handwerker, Bundesangestellte, Leute vom Strassendienst, ein Taxifahrer, zwei Männer in Leder, Motorradfahrer vermutlich, ziemlich durchfroren, sie hatten sich an der Bar oder an den Tischen niedergelassen, und Rosi war hin und her gelaufen, hatte serviert, da und dort gescherzt, hatte Bemerkungen über die trockene Kälte fallenlassen und ab und zu besorgte Blicke zum Tisch zwölf geworfen.

      Er hatte Zeit.

      Svetlana hatte gleichwohl zu reden begonnen, hatte sich weder beklagt noch beschwert, hatte weder geschimpft noch gefleht oder gar gebettelt, ihn auch nicht bedrängt. Sie hatte auf die Tischplatte herab gesprochen, eine Hand auf ihrem Bauch. Von dem, was sie sagte, hatte ich nur Bruchstücke verstehen können, der Tonfall jedoch, der Tonfall ihrer Rede, der blieb mir unvergesslich: Es war ein Sington, zwischen weinerlich und enttäuscht, zwischen verletzt und verzagt. Sie war näher der Scham, denn der Reue, getrieben von einem letzten Funken Hoffnung.

      Nachdem sie geendet hatte, hatte er losgelegt, sachlich, klärend vielleicht, unnachgiebig auf jeden Fall, soweit ich das im Nachhinein beurteilen kann. Er hatte seiner Aktenmappe einen zweiseitigen Vertrag entnommen, ihr unterbreitet, vor ihren Augen mit der Hand darüber gestrichen, auf besondere Punkte hingewiesen und auf die Stelle getippt, auf der zweiten Seite, wo ihre Unterschrift erwartet wurde; sie hatte sich umgeblickt, Hilfe suchend, mit glühenden Wangen und feuchten Augen, hatte dann schnell und ohne zu lesen mit seinem Füllfederhalter ihren Namen hingekritzelt und war davongestürzt – Rosi hinterher.

      Rosi zündete sich eine Zigarette an, fixierte mich durch den Rauch und fragte: «Na, dämmerts?»

      Ich bewunderte ihre vollen Lippen, die zu ihrem ungeizigen Wesen passten und mit denen sie ihre Stimmungen vollendet ausdrücken konnte. Ein Schmollen zum Beispiel oder wie jetzt Gereiztheit, mit einem abschätzigen Lächeln.

      «Ja», sagte ich, «ja, ich erinnere mich: teurer Anzug, teure Uhr, teure Haare.»

      Rosi legte ihre Hand auf