Schweizerspiegel. Meinrad Inglin

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Название Schweizerspiegel
Автор произведения Meinrad Inglin
Жанр Языкознание
Серия Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919954



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… obwohl Sie nach meiner Meinung weit über dem Durchschnitt stehen. Außerdem … ich würde es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren können, mich zwischen Sie und Ihren Mann zu drängen. Es käme nichts Ganzes dabei heraus und … ich habe auch meinen Stolz, ich würde verzichten, wenn ich etwas Halbes vor mir sähe. Ich wäre in jedem Fall Ihnen gegenüber nur der Bettler … und Liebe darf kein Almosen sein … Entschuldigen Sie, daß ich mich so ausdrücke, als ob … als ob überhaupt jemals eine Möglichkeit bestanden hätte … aber ich möchte, daß Sie sich über meinen Rückzug ganz klar sind. Ich will jetzt gehen … es hat keinen Zweck, länger darüber zu reden. Gut’ Nacht!» Er streckte zögernd seine Rechte aus. «Und noch einmal, bitte entschuldigen Sie diese …»

      Mit mühsam beherrschter Miene blickte sie ihn an, ergriff seine Hand und drückte sie fest, worauf er, verstummend, sich sogleich abwandte, aber nicht den geraden Heimweg auf der weithin sichtbaren Straße einschlug, sondern wie auf der Flucht vor ihrem Blick im nächsten Seitenweg verschwand.

      Gertrud kehrte langsam um, von unüberwindlicher Müdigkeit befallen, so langsam, als ob sie hier geduldig auf jemand wartete. «Alles aus!» dachte sie. «Er hat recht, er kann nicht anders handeln … Liebe darf kein Almosen sein … ach Gott, hätte ich ihn doch nicht … warum mußte ich ihn herausfordern! Jetzt ist für mich alles zu Ende … was noch kommt, hat ja keinen Sinn mehr … wozu gehe ich in dieses Haus zurück?» Sie hielt an, nicht wie man freiwillig anhält, sondern allmählich, schleppend, wie aus Erschöpfung, und jetzt, zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben, kam ihr der Gedanke, zu sterben. Aber sogleich erschrak sie davor, wie sie vor dem Gedanken an die Scheidung erschrocken war. Sie dachte an ihre Eltern, an die Kinder, an ihre geliebte Welt, an die schönern Tage ihres Lebens, und wußte, daß sie es niemals freiwillig tun würde. «Nein, nein, es wäre grauenhaft, ich will weiterleben, mag auch alles noch so trüb und sinnlos sein!» dachte sie tief beunruhigt und stieg von der Straße rasch die Stufen zum Garten hinauf.

      6

      «Es ist ein Unsinn, ich habe keine Ahnung von einem Schützenfest», sagte Paul gequält. Er stand in lässiger Haltung vor seinem Bruder und blätterte angewidert ein paar Drucksachen auf, Schießplan, Festschrift, Programme.

      «Ich habe dir schon gesagt», erwiderte Severin und unterbrach seine Arbeit ärgerlich zum zweitenmal, «wir müssen einen Bericht über das Kantonalschützenfest bringen, und wir haben keinen eigenen Berichterstatter dort …»

      In diesem Augenblick kam Schmid mit ein paar Papierstreifen eilig aus der Rauchkammer herüber. «Der Text des Ultimatums!» sagte er lächelnd.

      «Endlich!» rief Severin in einem Ton, als ob Schmid an der Verzögerung schuld wäre, nahm die Papiere entgegen und begann sie sogleich zu lesen.

      «Scharfer Tabak für eine Wiener Note, in Belgrad werden sie einen schönen Schnupfen bekommen.» Mit diesen Worten verschwand Schmid so eilig wie er eingetreten war.

      Paul kehrte ebenfalls in die Nebenstube zurück, schmiß die Drucksachen auf einen Haufen anderer Broschüren und setzte sich vor das Manuskript eines von Severin angenommenen Feuilletonromans, zu dem er ein kurzes Vorwort schreiben sollte. Er befand sich in seiner bittersten Stimmung, das heißt, er fühlte sich auf unerträgliche Weise angeödet, und war schon halbwegs entschlossen, weder dies Vorwort zu schreiben, noch das Schützenfest zu besuchen. Während er mit Überwindung weiterlas, kam unerwartet Severin herüber und lief zum Telefonkasten, den er aus seinem Büro hieher verbannt hatte.

      Severin läutete die Agentur an und bat um die mündliche Wiederholung einer undeutlich geschriebenen Stelle des Notentextes. «Wenn Sie uns schlechte Abzüge schicken, so ist das nicht unsere Schuld», sagte er trocken verweisend, nachdem er die Antwort stenographiert hatte. «Wir haben hier keine Zeit, Rätsel zu lösen. Und hören Sie! Wenn Sie im Verlauf dieser Stunde noch Auslandnachrichten bekommen, so telefonieren Sie doch bitte sofort, nicht wahr!» Er hatte kaum den Hörer angehängt, als er auf Pauls Tisch das Manuskript bemerkte und mit einem zornig erstaunten Ausdruck stehenblieb. «Das ist doch eine verfluchte Schlamperei!» sagte er heftig, ohne seine Haltung zu ändern. «Der Roman sollte längst im Satz sein. Wenn du keine Einleitung zustande bringst, so laß es bleiben!» Damit trat er entrüstet ab.

      Schmid sah sich lächelnd nach seinem jungen Kollegen um.

      Paul zerdrückte seine Zigarette im Aschenbecher, ohne eine Miene zu verziehen, dann nahm er ein Blatt Papier vom Block und begann entschlossen zu schreiben: «Die bekannte hochverehrte Autorin unseres neuen Romans schildert die Schweiz im Chaletstil. Es geht so recht behaglich, so recht sauber, so recht freundlich zu. Wir zweifeln nicht, daß unsere Leser sich angeheimelt fühlen werden. Das Kleine bleibt klein, das Große auch. Die Vergangenheit wird anhand von Spinnrädern, Schulbüchern und Großmuttermärchen wachgerufen. Sie erwärmt das Herz. Die Gestalten lieben einander und ihr Ländchen. Ein inniges, sinniges, trautes Beisammensein. Vaterländchen! Heimatchen! Schweizlein!» Mit einem saueren Grinsen erhob er sich und begann rauchend durch den engen Raum zu gehen. «Was meinen Sie, Herr Schmid, könnte man sich in München oder Berlin als freier Journalist einigermaßen durchschlagen?»

      Schmid blickte freundlich auf, dann kratzte er sich in den Haaren. «Hm … schwierige Sache, am Anfang wenigstens. Man müßte schon mit ganz gerissenen Dingen kommen … Versuchen Sie lieber zuerst, von hier aus Verbindungen anzuknüpfen. Wenn man Sie nicht kennt, werden Sie nicht so rasch ankommen. Übrigens ist die Luft dort faul, warten Sie ab!»

      Paul setzte sich von neuem hin und erwog, was er schon dutzendmal erwogen hatte, ob er nicht doch ohne Papas Geld im Ausland leben könnte, dann warf er sein Vorwort in den Papierkorb und trug den Roman in die Setzerei.

      Am Sonntag darauf, zu Hause beim Frühstück, fragte ihn Fred scherzhaft, ob er zum Schützenfest mitkomme.

      «Zum Kantonal-Schützenfest? Ja, fährst du denn hin? Du, das ist ja ausgezeichnet! Du könntest mir für den ‹Ostschweizer› einen Bericht schreiben, du bekommst …»

      «Ich? Du bist ja verrückt!»

      «Warum nicht? Du verstehst offenbar etwas davon und könntest …»

      «Quatsch! Ich fahre in den Rusgrund. Am Schützenfest liegt mir eigentlich nichts … aber komm’ mit, dann sehen wir uns den Rummel zusammen an!»

      «Hm … ich werde dazu genotzüchtigt, weißt du … wenn ich nicht hingehe, schmeißt mich Severin bei der nächsten Gelegenheit hinaus, und dann hab ich Papa wieder auf dem Buckel. Auf die Dauer werde ich allerdings lieber im Ausland Hobelspäne fressen als zum schweizerischen Festberichterstatter versimpeln.»

      «Und ich würde bald lieber Hobelspäne fressen als weiterstudieren. Du kannst wenigstens froh sein, daß du fertig bist. Ich habe nicht das Gefühl, daß ich jemals fertig werde …»

      «Ach! Man kann ein Jahr lang froh sein, und dann geht eine neue Schweinerei los … Aber du wirst dich doch irgendwie durchschlängeln können?»

      «Du hast eine Ahnung! Als Jurist oder Philologe kann man sich schlängeln, bei uns nicht.»

      «Aber Naturwissenschaft wäre doch immerhin …»

      «Ja, was? Ha! Zuerst kommt eine Wüste, auf der nur Formeln wachsen … es ist zum Verdursten … und nachher spezialisiert man sich auf die Erforschung eines Fliegendrecks. Ich behaupte ja nicht, besonders viel Talent zu haben, aber entweder bin ich ein dummer Löli, oder dann …»

      «Nein nein, weißt du … ich könnte dasselbe von mir sagen. Aber es liegt nicht an uns. Es ist ja alles faul … wir sind nicht die Einzigen, die das riechen. Wir sitzen jetzt da so schön bequem beim Morgenessen, nicht wahr … Porzellan, Silberbesteck, Bedienung, warmer Kaffee, Röllchenbutter, frische Gipfel … nichts zu maulen! Mama ist in der Kirche, es lebe die Christenpflicht! Papa ist noch im Nest … hoch die Freiheit! Und jetzt fahren wir also zum Schützenfest. Wir leben im Paradies, mein Lieber! Aber dieses Paradies stinkt zum Himmel, und wer eine etwas feinere Nase hat, der hält es nicht mehr aus. So liegt die Sache.»

      Fred rollte die Serviette zusammen, steckte sie in den Ring und erhob sich lächelnd, ohne zu antworten. Er kannte Pauls Ansicht in dieser