Schweizerspiegel. Meinrad Inglin

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Название Schweizerspiegel
Автор произведения Meinrad Inglin
Жанр Языкознание
Серия Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919954



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Sie von unserer Wäsche!» sagte Gertrud, ergriff eine Schale mit kleinem Gebäck und trug sie hastig ins Wohnzimmer hinüber.

      In diesem Augenblick öffnete Hartmann vom Gang her die Tür, ärgerlich, flüchtig, auf der Suche nach seiner Frau, während ihm Willy vom obern Stock herab mit schnarrender Stimme etwas zurief. «Du bekümmerst dich also um nichts mehr?» fragte Hartmann leise, im kalt drohenden Ton einer letzten Frage.

      «Macht was ihr wollt, macht was ihr wollt!» schrie Gertrud.

      «Schrei nicht!» zischte Hartmann und schloß eintretend rasch die Tür.

      Gertrud zitterte, ihr Gesicht nahm den Ausdruck krampfhaften Weinens an. Sie fühlte, daß sie die Herrschaft über sich verloren hatte und nahe daran war, sinnlos loszuschreien. Hochatmend lief sie ins Kinderzimmer.

      Hartmann folgte ihr sofort.

      «Was willst du?» fuhr sie ihn an, wobei sie der schlafenden Kinder wegen die Stimme unwillkürlich dämpfte, und blickte ihm mit einem Haß in die Augen, der ihm über alle Worte und Vermutungen hinaus zum erstenmal etwas von ihrem wirklichen Zustande verriet.

      «Ich habe mit dir zu reden, bitte setz dich!» antwortete er, und im nächsten Augenblick, als sie weglaufen wollte, packte er ihr Handgelenk.

      «Laß mich!» fauchte sie und versuchte ihm die Hand zu entreißen, das Gesicht entstellt vor Wut.

      Beherrscht, entschlossen, mit steinharter Miene stieß er sie vor sich her zum Diwan und ließ sie erst los, als sie den Widerstand aufgab und sich hinwarf. Er riegelte beide Türen ab, sah nach den Kindern, die im Schatten des abgedunkelten Lichtes lagen, und begann, während er sich ihr langsam näherte, in unterdrücktem Ton, aber zuerst noch jeden Satz heftig ausstoßend: «Jetzt wird Schluß gemacht. Mehr lasse ich mir nicht gefallen. Ich habe dir monatelang zugesehen, ohne ein Wort zu sagen, du hättest Zeit gehabt, Vernunft anzunehmen. Ich war auf Launen gefaßt und ich hätte noch länger gewartet. Aber daß du schließlich Skandal machen würdest, das habe ich nicht erwartet. Es ist abscheulich, wie du dich bei Tische benommen hast, und es war vorhin im höchsten Grade rücksichtslos, mich so anzuschreien, daß Willy und die Mädchen es hören konnten. Ich will keinen Skandal, verstehst du! Was zwischen uns vorfällt, bleibt unter uns. Das ist das Wenigste, was ich von dir verlangen kann, aber das verlange ich. Über Willy und Mathild magst du denken wie du willst, aber wenn sie unsere Gäste sind, hast du sie als Gäste zu behandeln. Eine Schande, wie du uns bloßgestellt hast! So etwas ist mir vollkommen unbegreiflich …»

      Gertrud verbarg das Gesicht im Arm und schluchzte vor Mitleid mit sich selber. Hartmann war nie ein sanfter Gatte gewesen, aber daß er ihr auch auf diese lieblose Art Gewalt antun könnte, hatte sie nicht erwartet. Sie fühlte sich grenzenlos entwürdigt und hörte nicht auf seine Vorwürfe. Plötzlich aber begann er von «diesem Herrn Pfister» zu sprechen. Ihre erste Regung war, aufzufahren und ihm jedes weitere Wort zu verbieten. In diese zarteste Beziehung einzudringen hatte er kein Recht, es war ein roher Übergriff in das Reich ihrer Seele, ihrer einzigen Heimat in der Fremde dieser Ehe. Aber sie war kaum imstande, sich auch nur zu regen, und begann unter seinen erbarmungslosen Worten den Atem anzuhalten wie unter Stockhieben auf ausgesucht empfindsame Stellen.

      «Ich wollte noch nicht darüber reden, aber einmal muß es heraus», fuhr er fort. Er sprach noch immer in gedämpftem Ton, aber ruhiger, bestimmter, vom Bestreben erfüllt, ihr jetzt ein für allemal knapp und klar seine Meinung zu sagen. «Du hast Beziehungen zu diesem jungen Mann … wenn man ihm Mann sagen darf. Wie weit diese Beziehungen gehen, kann ich nicht wissen, ich habe keine Beweise. Aber so etwas sieht und spürt man. Man kann’s euch von den Augen ablesen. Merke dir nun bitte folgendes: Wenn dieser Herr sich hier noch einmal zeigen sollte, werde ich ihn hinausohrfeigen. Diese Beziehungen haben aufzuhören. Ich werde sie unter keinen Umständen länger dulden. Und es wird auch nicht weitergemogelt. Ich will eine vollständig klare Situation haben. Bist du dazu nicht bereit, so bleibt dir logischerweise nur übrig, die Scheidung zu verlangen. Dann kommt es zu einem Skandal, über den ganz Zürich reden wird. Die Schuld daran wirst du allein zu tragen haben, denn mir kannst du nicht das geringste vorwerfen, was dich vor Gericht rechtfertigen würde. Du wirst dich auf jeden Fall im Unrecht befinden, auch vor der Öffentlichkeit. Alle anständigen Leute werden auf meiner Seite stehen, deine Eltern mit eingeschlossen. Auf deiner Seite wird nur dieser blasse Jüngling stehen, ein Dichterling, soviel ich weiß, ein armer Schlucker. Ich bin überzeugt, daß auf die Dauer für dich dabei nichts herauskommen würde als eine Blamage. Damit bin ich fertig. Ich werde nicht mehr davon anfangen, außer wenn du selber es wünschest.» Mit einem letzten erzürnten Blick wandte er sich von ihr ab und ging ruhig hinaus.

      Gertrud richtete sich mit geröteten Augen und verwirrtem Ausdruck langsam auf, horchte eine Weile und erhob sich plötzlich, um die Tür, durch die er das Zimmer verlassen hatte, abzuriegeln. An der Tür blieb sie, rasch und aufgeregt atmend, einen Augenblick stehen, um abermals zu horchen, dann überzeugte sie sich, daß auch an der andern Tür der Riegel vorgeschoben war. «Ich bin fertig mit diesem Mann», dachte sie. «Ich werde nie, nie mehr etwas mit ihm zu tun haben. Daß er derart roh und rücksichtslos sein könnte, hätte ich nicht erwartet … oder doch, ich habe es geahnt, ich habe gewußt, daß es so enden werde … Und jetzt wälzt er alle Schuld auf mich. Das ist unerhört, sogar wenn er einen Grund dazu hätte … aber er hat keinen Grund, er ist grauenhaft ungerecht, er unterschiebt mir irgendetwas und stößt mich weg, ohne auch nur danach zu fragen … Beziehungen zu Albin? Aber was habe ich denn getan? Ich habe nichts getan … Und selbst wenn Albin mich lieben würde … aber was weiß ich denn, was weiß ich? Er hat nie ein Wort gesagt, er hat nur …» Ohne genau zu bedenken, was er denn eigentlich getan habe, erinnerte sie sich jetzt an die paar Augenblicke, in denen sie seine reine, scheu zurückgehaltene Liebe gespürt hatte; aber es widerstrebte ihr sofort, mit dem Verstand daran zu rühren wie an etwas Meßbarem. «Nein, das soll er mir nicht beschmutzen! Das steht turmhoch über alldem, was hier geschehen ist, und Albin selber steht turmhoch über ihm. Ein Dichterling, ein armer Schlucker! Wie brutal er mir das hingeworfen hat! Ja, er ist brutal, er hat mich behandelt, wie man kein Dienstmädchen behandeln würde. Und dazu spricht er noch von Scheidung!»

      Bei diesem Gedanken wurde ihr schwach und kalt. Weder vor noch während ihrer Bekanntschaft mit Albin hatte sie jemals an diese Möglichkeit gedacht, wie sie denn überhaupt nichts mehr auf irgendwelche Folgen hin bedacht, sondern aus lauter Angst vor der Zukunft nur noch von einem Tag in den andern hinübergelebt hatte.

      Sie setzte sich auf den Diwan, aber im nächsten Augenblick erhob sie sich aufgeregt wieder. «Ich kann nicht hier bleiben, sonst werde ich verrückt … es muß etwas geschehen … Ach, was soll ich tun, was soll ich tun?» Ihr nächster Gedanke war, Mama aufzusuchen und ihr alles zu bekennen, aber sie sagte sich sogleich, daß Mama für das Verzweifelte ihrer Lage kein Verständnis hätte. «Sie würde mir nur Vorwürfe machen und gar nicht begreifen, wie furchtbar es für mich ist … und wenn ich sagte, daß Albin … sie würde es niemals begreifen … sie kennt Albin nicht, und wenn sie ihn dann mit diesem Menschen vergliche, den sie ja für einen Edelmann hält … nein! Albin ist ja tausendmal mehr wert als dieser Mensch, der mir den Umgang mit ihm verbieten will … Verbieten! Als ob ich seine Leibeigene wäre! Niemals! Überhaupt … ich wollte zu Junods fahren, und er soll mich nicht daran hindern … er weiß, daß ich Albin treffen will, und wenn ich jetzt hierbleibe … diese Genugtuung soll er nicht haben … ja, ich muß Albin treffen, das ist das einzige, was ich jetzt tun kann …»

      Zu welchem besondern Zweck sie ihn jetzt treffen und was sie ihm sagen wollte, war ihr durchaus unklar, aber sie klammerte sich zuletzt an diesen Gedanken wie der Ertrinkende an den nächsten festen Gegenstand, der die Flut überragt, gleichgültig, ob er dadurch gerettet werde oder nicht.

      5

      Hastig begann sie Kleid und Haare in Ordnung zu bringen, wusch sich die Augen, klingelte dem Mädchen und ließ einen Taxi bestellen. Sie benutzte die erste Gelegenheit, das Haus unbemerkt zu verlassen, und wartete in der Dämmerung des Gartens auf den Wagen. Auf der ganzen Fahrt wurde sie alsdann von der dunklen Vorstellung begleitet, daß ihr eine entscheidende Stunde bevorstehe, die all das Gemeine, Erniedrigende tilgen werde; erst vor dem ihr wohlbekannten Hauseingang erwachte sie zum