Schweizerspiegel. Meinrad Inglin

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Название Schweizerspiegel
Автор произведения Meinrad Inglin
Жанр Языкознание
Серия Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919954



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ist geschmacklos, zugegeben, aber was den Triumphbogen betrifft … das ist eine Dekoration wie jede andere.»

      «Eben ja! Es ist alles zur Dekoration geworden, alles ist entwertet und für den Massengebrauch zugeschnitten …»

      «Aber die Hauptsache ist doch das Schießen!»

      «Und die Festrede, der Hurrapatriotismus, der Bechertrunk, die Ehrenmeldung … Übrigens die Ehre, das ist auch so ein Punkt, mein Lieber. Einst war Ehre mehr wert als ein Bändel im Knopfloch oder eine Karte auf dem Hut, Ehre war etwas Hohes, Seltenes, aber dafür auch wirklich Vorhandenes, und geehrt wurde nicht jeder zweite Füdlibürger. Hier aber gibt es Ehrendamen, Ehrenbecher, Ehrenzeichen … Ehrenmeldungen, Ehrenweine … weißt du nicht noch mehr? Ha! Die Ehre ist billig geworden.»

      «Du betrachtest das alles von der falschen Seite», wandte Fred ein, während er schmunzelnd ein Stück Fleisch zerkaute.

      «Wieso? Ich bin durchaus nicht der einzige, der ein solches Schützenfest für eine grenzenlose Banalität hält. Aber das eigentlich Bedenkliche daran ist, daß man es als Höhepunkt des nationalen Lebens inszeniert. Allerdings …» Er machte, hinterhältig lächelnd, mit Schultern und Armen eine schwankende Bewegung. «… angeblich tritt ja hier dieses sogenannte nationale Leben am sichtbarsten zutage … es wird schon so sein, und das ist nicht mehr nur bedenklich, es ist …» Er hielt einen Augenblick inne, schien aber plötzlich dieser ganzen Erörterung überdrüssig zu werden und schloß, ohne den Satz zu beenden, mit seinem gewohnten müden Lächeln und einer gleichgültig erledigenden Handbewegung: «Ach … es ist ja überhaupt hoffnungslos!»

      Fred wiegte kurz den Kopf, halb zustimmend, halb zweifelnd. Die Einwände gegen das Fest schienen ihm nicht unbegründet, obwohl er es einigermaßen bedenklich fand, daß Paul mit seiner Meinung recht haben sollte gegen die Tausende, die das Fest begingen. Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit aber vermochte er nicht zu teilen. Ihm schien, Paul urteile immer von den Zuständen aus und verkenne die Menschen, wenn er sie ihnen gleichsetze, oder ziehe sie gar nicht in Betracht, während zwischen den Menschen und den Zuständen doch tausend Vorbehalte möglich waren. Indessen gab er den Widerspruch auf, den er tiefer zu führen und richtig vorzubringen doch nicht hoffen konnte; es lag ihm auch wenig daran.

      Sie tranken nach dem Essen einen schwarzen Kaffee, unterhielten sich über die Verwandten im Rusgrund, von denen Paul nur den Onkel Robert seiner bärenhaften Vitalität wegen bemerkenswert fand, und brachen endlich mit ironischer Neugier zum Festplatz auf.

      7

      Vom Bahnhof, wo ein Zürcher Zug eingefahren war, kamen kurz hintereinander mehrere Wagen dahergerasselt, deren lange Sitzbänke mit Schützen dicht besetzt waren, aber eine zahlreiche Menge von Schützen und Festbummlern zog auch zu Fuß hinaus, und vom Orte selber befand sich familienweise die halbe Einwohnerschaft unterwegs. Die Straße, dieselbe, auf der Christian seinen Vetter Fred in die Ferien gefahren, war nach je fünfzig Schritten mit einer bunten Reihe dreieckiger Wimpel überspannt, von denen der Nachtwind einige über den Draht geworfen hatte. In ihrer mäßigen Breite vermochte sie den Verkehr nicht ganz zu fassen, so daß die den Fahrzeugen ausweichenden Fußgänger und die eiligeren Schützen Seitenpfade in die Wiese zu treten begannen. Fred, dem diese Schändung des Rasens mißfiel, blieb mit dem Bruder absichtlich auf der Straße, aber nachdem sie ein paar Minuten lang geduldig hinter einer breiten kleinen Frau hergeschlendert waren, die mit der Rechten einen Kinderwagen schob, an der Linken ein kleines Mädchen führte, schlug Paul plötzlich mit ärgerlicher Miene doch einen Seitenpfad ein, und Fred folgte ihm unwillig. Von der Straße wälzte sich eine graue Staubschlange träge nach rechts in die Wiese hinaus, die Luft flimmerte in der hochsommerlichen Hitze, und vom Schießstand her knatterten wie trockene Peitschenschläge die Schüsse, die am gegenüberliegenden Hang ein ununterbrochenes brausendes Echo weckten. Zum Staub und zur Hitze gesellte sich bald der wirre Lärm der Budenstadt, der auf dem Festplatz selber dermaßen anschwoll, daß man nicht einmal das nahe Geknatter der Schüsse mehr hörte.

      Lächelnd schritten die Brüder an den ersten Bretterständen vorbei, wo man Zigaretten, Türkenhonig, Magenbrot, Appenzeller Fladen und dergleichen kaufen konnte, verweilten einen Augenblick vor einem Karussell und ließen sich dann mit der gestauten Menge langsam zwischen den Buden weitertreiben. Aus einer umfangreichen Tunnelbahn drang hastig und gequetscht die Ouvertüre zu «Dichter und Bauer», in die eine fünfköpfige Blechkapelle vom gegenüberliegenden Zirkus kräftig hineinmusizierte. Das benachbarte Unternehmen stellte einen Glaskasten aus, worin eine halbnackte wächserne Mannsfigur mit regelmäßigen Bewegungen eine hingesunkene Frau erstach, während der Direktor auf dem Podium nebenan das Publikum brüllend darauf aufmerksam machte, daß es hier Gelegenheit habe, einer Dame durch den Leib zu sehen. Vor einem Zelthaus mit der Überschrift «Exotische Schau» rührte ein schwitzender Neger zähnebleckend eine dumpfe Trommel, neben ihm turnte ein Affe herum, und an der Kasse saß eine üppige Mulattin. Fred drängte sich hin, sah dem Affen zu und verlor den Bruder aus den Augen. Paul suchte ihn von der Seite her zu erreichen und geriet dabei vor eine Bude, aus der ihn eine hochblonde Dame anrief. «Schießt der Herr e mal?» rief sie energisch, indes sie hastig ein Luftgewehr spannte und vor einen Schießlustigen hinstellte. Paul ging rasch vorbei, machte sich dem Bruder bemerkbar und wartete ihm dann vor einem Bretterstand, wo ein Schütze im Kreis seiner lachenden Kameraden Bälle nach hölzernen Köpfen warf. Fred folgte, sah sich aber noch einmal nach dem Affen um und stolperte über einen eingerammten Seilpflock, dann schloß er sich vergnügt dem Bruder wieder an.

      Sie kamen am Ende der Budenstadt auf den freien Platz zwischen Festhütte und Schießstand. Dieser Platz war zum größten Teil von Schützen belebt, die sich von den Festbummlern deutlich unterschieden, obwohl die meisten ihre Gewehre eingestellt hatten. Sie wechselten, Resultate überzählend und einander vorweisend, lachend, unternehmungslustig oder schimpfend zwischen Stand und Hütte hin und her, einige in grauen Überhemden, viele ohne Kragen, während manche, Schatten und Ruhe suchend, sich ohne Rock dem Stand entlang in den Rasen gelagert hatten. Die Brüder beschlossen, nun sogleich zum Mittelpunkt des Festes vorzudringen, und betraten den Schießstand, ein älteres, mit einem Türmchen versehenes Holzgebäude, das durch zwei neu angebaute niedere Flügel erweitert worden war. Sie hatten als bloße Zuschauer beim Eintritt eine Karte zu lösen, die Fred hinter das Hutband steckte, während Paul sie in der Tasche verschwinden ließ. Im Innern des Standes, wo die Schüsse nicht mehr das draußen hörbare trockene Geknatter, sondern ein hallendes Krachen hervorriefen, standen die Schützen dicht gedrängt hinter den Gewehrrechen; zwischen ihren Köpfen hindurch gewahrte man in der Entfernung von dreihundert Metern die lange Reihe der beweglichen Scheiben, auf denen da und dort Zeigerkellen erschienen, doch von den Schießenden selber war hinter der geschlossenen Menge nur wenig zu sehen.

      Die Brüder suchten eine Lücke und schritten den Stand nach beiden Seiten hin ab, wobei sie fortwährend ausweichen mußten oder beiseite geschoben wurden. Im rechten Flügel stießen sie auf ihren Vetter Christian, der, eine grüne Rosette am Rockaufschlag, zur Wand der Wartenden hinausdrängte und einem der Büros zustrebte, die sich hinter Verschlägen an der Rückseite des Raumes befanden.

      «Einen Augenblick!» sagte Christian, nachdem er kaum recht genickt hatte, und verschwand hinter einer Tür, um nach einiger Zeit wieder zu erscheinen und seine städtischen Vettern kurz zu begrüßen. «Ich habe noch Schießaufsicht, aber in einer halben Stunde werde ich abgelöst», erklärte er sehr ernsthaft, mit beschäftigter Miene. «Wollen wir uns in der Festhütte treffen?» In diesem Augenblick wandten sich in der Nähe, beim Gewehrrechen, ein paar Schützen um und riefen: «Schießkomitee! Schießkomitee!»

      «Also in einer halben Stunde beim Eingang der Festhütte!» sagte Christian hastig und schob sich, dem Rufe folgend, eilig durch die Reihen.

      Paul blickte in diesem Gedränge, Lärm und fortwährenden Krachen kopfschüttelnd den Bruder an, als ob ihm das alles unfaßbar wäre, und winkte mit der Rechten müde ab, aber auch Fred fand kein Vergnügen mehr an diesem Aufenthalt.

      Sie verließen den Stand, bummelten noch ein wenig und setzten sich zur verabredeten Zeit mit ihrem Vetter endlich in der Festhütte an einen der langen, mit weißem Papier bespannten Tische. Fred bestellte eine Flasche Wein. Durch den hohen Hüttenraum, der gegen dreitausend Personen fassen mochte,