Blindgänger. Ursula Hasler

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Название Blindgänger
Автор произведения Ursula Hasler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038550600



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schon. Adoptionspapiere wurden schnell ausgestellt, ein Kind weniger in den unterversorgten Heimen.

      Also, rebelote, zurück an den Start. Wie weiter? Kei­ne Ahnung …

      Royan, Freitag, 23. Mai 2003

      Eine griffige Definition von Heimat wäre jetzt hilfreich. Das Problem: diffuse Heimatlosigkeit. Der Mensch gewöhnt sich an alles, an Wohnorte, an Häuser, an Orte, selbst an andere Menschen. Winkt am Ende des Gewöhnens dann Heimat? Sind Kinder und Familie Heimat? Braucht das einer (wie er)? Er hat im Unterschied zu all den andern im Leben Herumstolpernden doch eine bequeme Entschuldigung für seine Verlorenheit. Wer seine Herkunft nicht kennt, hat auch keine Heimat.

      Heute weiß er, warum die Tatsache seiner Adoption ihn so aus der Bahn geworfen hat, damals. Er war nicht mehr in den Zeitstrom der Generationen eingefügt, wurde brutal hinausgeworfen. Erst die Geburt von Nadine half ein bisschen. Damit steht er am Anfang einer Ge­nerationenkette, ein Adam. Seine Tochter führt sie fort, und für alle nach ihr wird es immer unbedeutender, dass hinter ihm, dem Gründer, nur Leere ist. Annet wirft ihm vor, er weiche immer aus, würde keine Verantwortung für sein Leben übernehmen. Unsinn. Wahr ist, dass das Nichts hinter ihm oft eine praktische Ausrede liefert, wenn die Dinge falsch laufen. Die Schuld der unbekannten Gene, manchmal ganz praktisch. Ein kleiner Vorteil sei ihm vergönnt.

      Die irrationale Sehnsucht, eine Geschichte zu haben, schmerzt manchmal richtig körperlich, wie jetzt. Ein Brennen hinter dem Brustbein. Ja, ein Heimweh nach Fa­miliengeschichte. Aufgehoben sein in Geschichten, Anekdoten, über Generationen erzählt. Die Familiensagen der Martys gehen ihn nichts mehr an, nicht seine Vorfahren. Ist so verdammt wichtig, dass es seine Blutsverwandten sind. Alles, was sie taten, war notwendig und richtig, weil es zur Existenz seines Vaters und seiner Mut­ter geführt hat. Was die Voraussetzung für seine Zeugung und sein Leben war. Voilà. Von seinem Leben aus gesehen, ist die ganze Ahnenreihe nur dazu da, damit er gezeugt wurde. Er will wissen, welche Zufälle oder Schicksalsfügungen es brauchte, um seine Existenz zu ermöglichen. Wessen Gene seinen Körper so geformt haben, wie er ist.

      Wie sah eine Frau, wie ein Mann aus, damit ein Kind wie er entstehen konnte: dunkle Haare (als Kleinkind blond), helle Augen, etwas zwischen blau und grün. An die Vererbungslehre müsste man sich erinnern, dominan­te und rezessive Merkmale, braune Augen dominieren blaue, schwarze Haare blonde. Haben aber zwei braun­äugige dunkelhaarige Elternteile beide ein rezessives blaues Auge und verstecktes Blondhaar, besteht ein Viertel Chance, dass das Kind helle Augen und Haare hat. Also gab es in seiner Ahnengalerie blonde, helläugige Vorfahren. Ist er das Viertelskind, hatten die Eltern braune Augen. Ist er aber ein Dreiviertels­kind, hatten Vater oder Mutter oder beide helle Augen. Alle Kombinationen sind möglich, er steht mit seiner lächerlichen Laiengene­tik wieder am Anfang.

      Wie steht es mit Körperbau und Charakter: mittelgroß, eher feingliedriger Körperbau, lange, schmale Hän­de, eher unmusikalisch, unsportlich, unsicher, untüchtig im Leben, aber scharfer, manchmal zersetzender Intellekt und so weiter. Anzufügen wären noch die zerfleischenden Selbstzweifel. Was angeboren, was anerzogen – nicht zu beantworten.

      Datei «Charente», 13. Mai 2003, unverändert übernommen

      Problem mit Departementsbezeichnung: Charente-Maritime (hier in Royan, Dept. 17) hieß bis 4. September 1941 Charente-Inférieure. Die Charente (Dept. 16, Hauptstadt Angoulême) liegt östlich, nicht am Meer.

      Mutter sprach nur von Charente. Charente wurde aber im Sommer 1944 befreit, keine Bombardierungen mehr nachher. Muss sich also um die heutige Charente-Maritime handeln. Umso besser, schränkt Radius ein.

      Ein weiterer Morgen. Er hat mittelprächtig geschlafen, verglichen mit den normalen schlaflosen Nächten zu Hause sogar gut. Er liegt noch ein Weilchen auf dem Rücken, wie meist, Arme hinter dem Kopf verschränkt, das Zimmer noch beinahe im Dunkeln, nur wenig Licht dringt durch die Ritzen der Läden ohne Jalousien. Zu we­nig Licht, um das Wetter zu erraten. Etwa halb acht, wie immer. Er schlägt die Bettdecke zurück, die Latschen liegen nicht in der Nähe, der Boden ist kalt, wie immer, barfuß schließt er das Fenster, er kann nur bei geöffnetem Fenster schlafen, wenn überhaupt. Wie immer erster Gang auf die Toilette, auf dem Weg dorthin Kaffeemaschine anstellen, wie immer hat er am Abend Filterpapier eingelegt, dazu zwei Löffel Kaffeepulver und in den Wasserbehälter zwei Tassen Wasser geleert. Noch bevor er um die Küchentür Richtung WC biegt, blubbert sie schon, wie immer.

      Wenn er danach ins Badezimmer geht, zieht bereits Kaffeeduft durch den Korridor. Jeden Morgen ärgert er sich über den Duschvorhang, der an seinem nassen Körper klebt. Vor dem Rasieren ein prüfender Blick in den Spiegel, schwere Augenlider heute, das hingegen ist nicht jeden Morgen der Fall. Anzeichen des Alters. Im Schlafzimmer faltet er die sperrigen Holzläden des Fensters zurück, heute grau verhangener, windstiller Himmel. Kaffee trinken, Zeitung von gestern nochmals durchblättern, meist ist danach bereits halb neun, Zeit sich langsam bereit zu machen, um neun beginnt der Unterricht, für den Weg braucht er kaum zehn Minuten, er mag aber nicht zu knapp eintreffen, man plaudert vorher noch ein bisschen herum. Heute ist kein Unterricht, sie sollen an ihren Projekten arbeiten.

      Sein Alltag läuft am Schnürchen, ohne dass er den Kopf noch benötigt. Wann kippt das, wann beginnt beim Ungewohnten das «Un» zu verblassen und sich in das Gewohnte aufzulösen? Nach etwa zwei Wochen. Die Zeit der ersten Tage an einem fremden Ort ist dehnbar, sie kann unendlich viel aufnehmen und in Erinnerung umwandeln. Nur einer, der fremd ist, sieht die Dinge. Nur einer, der sich selbst fremd wird, sieht sich wieder.

      Diesen aufregenden ersten Blick auf das Neue mit geschärften, hungrigen Sinnen. Damals, als er nach der ersten Nacht früh durch sein Sträßchen schritt. Die Frische der Morgenluft mischte sich mit der verbrauchten Nachtfeuchte aus den geöffneten Haustüren der alten Häuser. Und als er in der Dämmerung nach dem ersten Tag auf dem Balkon stand, die Silhouette der Pinien im Hinterhof schnitt eine schwarze Fläche aus dem grünen Abendhimmel, schnalzten in der Schwärze wilde Tauben im Liebeswerben oder im Träumen davon. Wie kann einer diesen Zustand halten oder immer wieder herstellen?

      Die Tücke der Gewohnheit ist, dass sie das Leben er­leichtert und einen blind macht. Jahrelang hat er sich mutlos nur im gewohnten Alltag bewegt, er ist ein Langweiler gewesen und die Zeit vorübergerast, nein falsch, es gab keine Zeit mehr, auf jeden Fall kein Zeitgefühl. So kommt man sich selbst abhanden. Man hat kein Sinnesorgan für Zeit. Man sieht nur die Millimeter oder Zentimeter, die Uhrzeiger auf dem Ziffernblatt sichtbar zurücklegen. Er verabscheut Digitaluhren, sie zeigen nur Zahlen, keine Bewegung mehr, du siehst nicht, wie die Zeit von Stunde zu Stunde fortschreitet.

      Schluss. Er steht auf und giesst den schwarz konzentrierten Kaffeerest aus dem Glaskrug in die henkellose Tasse. Er könnte zum Beispiel: Beim Gehen durch Straßen das vorher nie Bemerkte bemerken. Vielleicht lässt sich das Gehirn so trainieren, lassen sich die Erken­nungsmuster so auszuschalten, wie er es mit den Wörtern kann. Sie immerzu wiederholen, bis sich jeglicher Sinn auflöst. Etwas anschauen, anschauen, anschauen, bis man es nicht mehr erkennt. Bis der Stuhl zu einer bedeutungslosen Konstruktion aus Holz wird. Dekon­struktion der Bedeutung auch beim Sehen.

      Auf der Küchenuhr, ebenfalls Relikt aus den Fünfzigern, gehen die Zeiger unaufhaltsam ihre Wege, die Zeit einer kompletten Umdrehung auf dem Ziffernblatt, bald zehn Uhr. Bon, was steht heute an?

      An diesem außerordentlichen Sitzungstermin am Freitagabend, 19. September 2003, saß Marty pünktlich um fünf mir gegenüber, ordnungsgemäß auf dem Klientensessel, und erkundigte sich leicht betreten, ob ich Zeit ge­funden hätte, den Text zu lesen. Ja, ich wies auf die vor mir auf dem Schreibtisch liegenden Ausdrucke und sah ihn auffordernd an, erleichterte ihm aber in keiner Weise den Einstieg in das von mir gefürchtete Eingeständnis, er sei der Aufgabe nicht gewachsen.

      Es war ihm sichtlich peinlich. Er komme nicht weiter. Er habe sich völlig verheddert in den Aufzeichnungen. Dann noch diese Datei mit dem fremden Manuskript. Es bringe nichts. Es funktioniere nicht. Es könne nicht funktionieren. Nichts geschehe in seinem Kopf.

      Er wartete auf Einspruch von mir, der ihm Widerspruch und Gegenargumente ermöglicht und die unangenehme Entscheidung auf uns beide verteilt hätte.

      Ich