Ländlicher Schmerz. S. Corinna Bille

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Название Ländlicher Schmerz
Автор произведения S. Corinna Bille
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038550129



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Germain, der vor dem Tisch kniete. Er schien nichts zu hören, aber plötzlich wandte er sich um und sagte mit rauer, fremder Stimme:

      – Sie ist eine Heilige.

      Da begriffen sie, dass Germain von Sinnen war, und führten ihn hinaus.

      Das gefallene Mädchen

      Sie lauerten ihr auf, versteckt hinter einer Hecke am Rhone­ufer. Es waren ihrer sieben, sieben Männer zwischen zwanzig und dreissig, und jeder hielt in den Händen einen ­Besen von Schwarzdorn und pfefferig riechenden Weidenruten, alles gut zusammengeschnürt. In ihren Augen konnte man nicht lesen, denn es war eine sternenlose Nacht, eine blinde Nacht, welche die ganze Welt auslöschte, nur nicht die Wut dieser kleinen Menschen. Aber man konnte sie reden hören. Sie sagten zueinander:

      – Jetzt reicht’s. Die hat manche zum Weinen gebracht und manchen braven Kerl zum Laufen!

      – Man kann sogar sagen umgebracht: Kinder, Männer …

      – Ja, ein Kind haben sie erwürgt in ihrer Kammer gefun­den, während sie ohnmächtig in ihrem Blut lag … Und alle, die man nicht gefunden hat! Aber Männer? Das ist übertrieben.

      – So, und der, den sie in die Fremdenlegion schickte? Um ihr eine Freude zu machen, wollte er ihr ein Ballkleid kaufen. Aber er war pleite. Da hat er das Geld aus der Kasse des Meisters genommen. Es war am Fasnachtsabend. Hernach, um nicht im Gefängnis zu landen, machte er sich aus dem Staub. In einem afrikanischen Kaff ist er ums Leben gekommen. Ein Kollege von mir. Wagst du jetzt noch zu behaupten, dass nicht sie ihn getötet hat? He?

      Sie alle kannten diese Geschichten und noch viele an­dere, aber in dieser Nacht empfanden sie das Bedürfnis, sie wieder aufzuwärmen.

      – Und trotzdem bist du auch in die Person vernarrt!, warf ein Dritter ein.

      – Du kannst ja sehen, wie ich sie traktieren werde.

      – Mit dem Hass ist es wie mit der Liebe. Wenn es einen packt, muss man abwarten, bis es vorbei ist, fügte der Jüngste leise hinzu.

      – Bist du sicher, dass sie kommt?

      – Die hat genug gequält und genug Unheil angerichtet. Und seit sie bei diesem reichen Alten wohnt, sieht sie uns nur spöttisch an.

      – Mit den Augen spottet sie, aber mit dem Körper lockt sie …

      – Bist du ganz sicher, dass sie hier vorbeikommt?, fragte die Stimme wieder aus dem Dunkel.

      – Jeden Abend, ja, ich weiss es, antwortete der Jüngste und sang leise vor sich hin: Sie hatte goldne Augen und hell maisgelbes Haar …

      – Ich höre sie, sagte einer.

      Aber es war nur ein alter Mann, der vorbeiging.

      – Sie hat Lunte gerochen und kommt heute nicht.

      – Sie sieht zwar dumm aus, aber sie ist raffiniert.

      Diesmal war sie es wirklich. Ihre hohen Absätze hämmerten den Boden, ihr kurzer Rock schwang hin und her in der kalten Nacht. Sie konnten sie nicht sehen, aber sie errieten alles. Sie kannten das Lächeln auf ihren breiten Lippen, den welligen Gang und die langen, harten Beine. Sie wussten, dass in ihrer Brust kein Herz schlug.

      – Halt!

      Sie sah sich umstellt von sieben Burschen, die keinen Spass verstanden. Sie schien weder erstaunt noch verängstigt. Mit wiegendem Kopf und gedehnter Stimme sagte sie:

      – Was fällt euch ein?

      Sie rührte sich nicht von der Stelle, und die andern drängten sich um sie.

      Plötzlich, mit gesenktem Kopf, versuchte sie zwischen zwei Körpern durchzuschlüpfen, die sich einen Augenblick verschoben hatten. Aber die Mauer schloss sich wieder. Hände packten zu. Über ihren Mund spannte sich eine Binde, und ihre Schreie erstickten im Stoff.

      – Das soll dich lehren, du Aas, du Hure!

      Rutenstreiche prasselten auf sie nieder, zerrissen ihr das Kleid und zeichneten die Haut mit verworrenen Striemen. Aber das reichte ihnen noch nicht. Sie mussten unter den Nägeln dieses Fleisch spüren, das in ihre Gewalt geraten war.

      Mit zusammengebissenen Zähnen und halb geschlos­se­­nen Augen begannen sie das Mädchen zu kratzen. Sie ­zerkratzten ihr das Gesicht, um sein Lächeln zu töten, sie zerkratzten ihr die Brust, um ihr Geheimnis zu töten, sie zerkratzten den ganzen Körper. Jetzt fiel sie zusammen. Mit Fusstritten stiessen sie die unförmige Masse hin und her. Sie kannten sie nicht mehr: Sie lag so kläglich auf dem Weg wie eine tote Kröte.

      Dann gingen sie weg, ohne sich nochmals umzudrehen.

      Beim Dorfeingang trennten sie sich. Jeder ging nach Hause mit Ausnahme des Jüngsten. Der kehrte um.

      «Nein», dachte er, «so kann man sie nicht liegen lassen!» Er begann zu laufen. «Und ich bin an allem schuld, ich habe ihnen gesagt, dass sie am Abend hier vorbeikommt. Natürlich hat sie es verdient … Aber sie in diesem Zustand zurücklassen, nein! Sie hat jetzt gebüsst. Die Männer verachten sie, aber hat sie nicht auch das Recht, die Männer zu verachten? Und diese Geschichten … Das sind vielleicht alles Lügen.» Er wollte zu ihr zurückkehren. Er wollte ihre Wunden pflegen, er wollte ihr sagen: «Ich, ich liebe dich wirklich.»

      Er fand sie immer noch auf dem Boden liegen ohne Regung, ohne Form, nachtschwarz. Er beugte sich vor, kniete nieder. Er nahm ihren Kopf in seine Hände. Er küsste sie, und diese Küsse hatten einen Geschmack von Staub und Blut. Er legte das Ohr an ihre Brust, um das Herz schlagen zu hören. Er hörte nichts.

      So stimmte es am Ende, was man sich erzählte: Sie hatte kein Herz?

      Oder dann? … Er hatte sich aufgerichtet. Plötzlich fuhr er zurück und rannte davon.

      Der schwächste Schüler des Pfarrers

      Als Hyazinth Rinati am Priesterseminar studierte, wurde von ihm gesagt: «Das ist ein Umgetriebener», oder auch: «Das ist ein Calvinist.» Seine Lehrer wunderten sich über seine krankhaften Skrupel und warfen ihm vor, er sehe alle Dinge zu heftig, zu leidenschaftlich an. «Bremsen Sie, bremsen Sie!», mahnten sie immer wieder.

      Als er zum Priester geweiht wurde, wies ihm der Bischof, der ihn gründlich kannte, eine Pfarrei in einem kleinen Dorf zu. «Das raue, gesunde Leben dieser Bergler mit ihren einfachen Sitten wird ihn zur Ruhe bringen», hatte er gedacht.

      Am Anfang ging alles gut. Seine strengen Predigten, seine ungezähmte Frömmigkeit gefiel den Gläubigen. Aber es wurde Sommer, und diese Jahreszeit erregte ihn jedes Mal. Zudem war es ein besonders heisser Sommer. In den abschüssigen Bergwiesen zirpten Tausende von Grillen. Die ganze Erde schien zu singen. Einzig Pfarrer Rinati hörte nicht darauf und blickte gen Himmel. Der war den ganzen Tag tiefblau, blau bis zur Verzückung, und am Abend liess die Sonne ihre Zauberlaterne über die Berggipfel gleiten … Wenn er diese langen, roten Bahnen betrachtete, diese sprühenden Funken, so glaubte er die Tore der Hölle zu sehen, und dieses Bild erschreckte ihn nicht; es gab ihm vielmehr neuen Mut.

      Aber wenn der Mond über einem Berggrat aufging, versuchte ihn der unselige Priester umsonst mit einer Hostie zu vergleichen und wurde ganz verwirrt. Dieses fremde Licht verlieh der Welt viel zu weiche Umrisse, und seine Heiterkeit hatte etwas Heidnisches. Dann verkroch er sich in seine Kammer, zog die Fensterläden zu. Ach, in jeden ­Laden war eine herzförmige Öffnung geschnitten, und das Mondlicht warf auf Boden und Wände glänzende, schwebende Herzen … Er bemühte sich, an das Herz-Jesu zu denken; aber das blutete, während diese Herzen unversehrt blieben. Um sie zum Verschwinden zu bringen, nagelte er Brettchen auf die Fensterläden. Und als immer noch gelbe Strahlen durch die Ritzen drangen, liess er dicke Vorhänge anbringen. Aber an diesen Berghäusern sind die Fenster schon klein genug, und nun konnte gar keine frische Luft mehr in die Räume des Pfarrhauses einströmen, und es roch überall nach Weihrauch, Staub und kaltem Schweiss.

      In solchen Nächten konnte er nicht schlafen. Er erinnerte sich an die Ratschläge, die man ihnen im Seminar ­erteilt hatte: «Wenn die Versuchung