Ländlicher Schmerz. S. Corinna Bille

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Название Ländlicher Schmerz
Автор произведения S. Corinna Bille
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038550129



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aber sie knarrte doch ein wenig. Ein Mann trat heraus und stützte sich aufs Geländer. Einen Augenblick lang rührte er sich nicht. Vielleicht sah er in sich hinein und versuchte sich zurecht­zufinden. Dann kam er leise herunter. Seine Schuhnägel knirschten auf den untersten Stufen. Justine wagte nicht zu glauben, was sie sah. Sie wartete, bis die Erscheinung sich auflöse. Und plötzlich stand Germain vor ihr. Erst jetzt nahm er sie wahr. Er stiess einen Fluch aus.

      – Was tust du hier?

      Sie versuchte zum Dorf hinaus- und fortzukommen, aber er holte sie ein.

      – Spionierst du uns nach?

      Justine antwortete nicht. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie sah nur, wie dem Mann die Haarsträhnen ins Gesicht hingen. Ganz verloren sah er aus. Germain erfasste, dass sie das alles sah, und sein Zorn wuchs. Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie:

      – Geht dich das etwas an?

      Und weil sie vor ihm stehen blieb ohne Furcht, ohne Worte, begann er sie zu schlagen. Und damit sie sich nicht entziehen konnte, hielt er sie am Arm mit hartem Griff … Sie schrie nicht, sie sagte nur, wie um Hilfe rufend, aber ganz leise: «Germain, Germain!»

      Dann liess er sie los und stieg bergan.

      Er kam erst gegen Ende der Nacht zurück, als sie grau wurde und kalt.

      *

      Im Dorf nahm das Leben wieder seinen gewohnten Gang. Nichts schien sich geändert zu haben. Man war noch am Heuen. Bald sollte die Roggenernte beginnen. Justine hatte geschwiegen. Wenn man Germain antraf, fragte man:

      – So, wie geht’s den jungen Eheleuten?

      Dann lachte er heiser auf:

      – Natürlich geht’s!

      Flavie sah man nicht häufig. Sie ging nicht mit ihrem Mann aufs Feld, wie es sonst Brauch war. Sie brachte ihm am Mittag sein Essen heraus und setzte sich ein paar Minuten schweigend abseits ans Wiesenbord, dann kehrte sie wieder nach Hause zurück.

      Den Leuten gefiel das nicht. «Der trägt Sorge zu ihren weissen Händen, anstatt sie arbeiten zu lassen. Die wird ihn noch teuer zu stehen kommen!» Einmal hatte man sogar beobachtet, dass er seine Frau wie ein kleines Kind auf den Armen durch einen Bach trug. Da hatte man sich über ihn lustig gemacht. «Lasst ihn nur, das wird ihm bald vergehen», prophezeiten die alten Ehemänner kraft ihrer Erfahrung.

      Aber es ging von Flavie eine solche Überlegenheit aus, dass man in ihrer Gegenwart nichts zu sagen wagte. Ihre Augen waren immer noch durchsichtig wie Wasser, und dennoch konnte man ihnen nicht auf den Grund sehen. Woraus bestand er? Aus feinem Sand, geschliffenen Kieseln oder aus trübem Schlangengewimmel? … Germain blickte in diese Augen und flehte sie an, ihm zu antworten, aber sie blieben stumm.

      Niemand, ausser Justine vielleicht, wusste, dass das Leben für ihn zur Hölle geworden war. Schlimmer als eine Hölle, denn dort kann man sich wenigstens gehenlassen, kann stöhnen und heulen; man hat das Recht, unglücklich zu sein. Aber in einem Dorf mit all seinen lauernden Fenstern … Ah, wenn er sie nur hätte schlagen können, seine Flavie! Sie durchwalken und dann unterwerfen. Aber er sah es jetzt ein, dass sie nicht war wie die anderen Frauen. Noch in den heftigsten Wutanfällen blieben ihm die Arme gelähmt vor ihr, und seine Zunge fand nicht einen Fluch. Und was noch schlimmer war: Sie hatte immer recht, er fühlte sich ihr gegenüber schuldig und ging so weit, sie um Verzeihung zu bitten.

      Aber wenn er wieder allein war, stieg eine mächtige Empörung in ihm auf. Das Blut in seinen Adern wurde zu Gift, und auch wenn er sich fast zu Tode arbeitete vom Morgen bis zum Abend, war er doch nur von einem Gedanken besessen: «Ich mähe sie ab wie einen Halm, das ist mein gutes Recht.» Und immer hörte er ihre kristallene Stimme antworten: «Nicht eher, als bis du alle Gräser und alle Ähren der Erde abgemäht hast …» Und das hiess so viel wie nie.

      Kam er an der Kirche vorbei, so fielen ihm die Worte des Priesters zu ihrer Hochzeit ein: … So sind sie nun nicht zwei, sondern ein Fleisch. Was denn Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Germain wusste wohl, dass sie nicht vereint waren und dass nichts, weder Himmel noch Hölle noch die Menschen, daran etwas ändern konnten. Und er spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Eines Abends begann er sogar fast laut vor sich hin zu murren:

      – Das Leben ist ungerecht, ungerecht! Wie soll man da noch an Gott glauben?

      Aber dann fiel sein Blick auf das Kruzifix, und schnell machte er ein grosses Kreuzeszeichen.

      Es gab freilich auch Tage, da er wieder Hoffnung schöpfte, Tage, an denen die Freude in der Luft lag. «Nein», dachte er, «das kann ja nicht ewig so weitergehen … Einmal muss ja ein Wunder geschehen. Es braucht nur Geduld.» Aber bald war die Qual wieder da. Ein ganzes Leben lang würde das dauern! Wenn er seine Not wenigstens jemandem hätte ­anvertrauen können; aber das gehörte zu den Dingen, über die man nicht sprach – lieber sterben als das –, sogar im Gebet hätte er es nicht gewagt.

      So verging der Sommer, dann der Herbst, dann der Winter, und es wurde wieder Frühling. Und weil man Flavie fast nie zu Gesicht bekam, fragte man Germain: «Erwartet sie etwa ein Kleines?» oder: «Ist sie guter Hoffnung?», was dasselbe bedeutet. Dann verdüsterte sich seine Miene, und er wandte sich ab.

      In seinem Rücken wurde gezischelt:

      – Er sperrt sie ein vor lauter Eifersucht.

      Und man lachte über ihn.

      *

      Der Mai kam, der Monat Marias. Der Altar der Jungfrau wurde mit Geranientöpfen geschmückt, mit papierenen ­Lilien und Rosen und mit vielen, vielen Kerzen.

      Doch eines Abends, als die Dorfleute in die Kirche kamen, um ihren Rosenkranz zu beten, fanden sie den Altar der Madonna geplündert: keine Blumen mehr, keine Leuchter … Man lief zum Pfarrer und meldete es ihm. Er wusste von nichts. Man versammelte sich in der Vorhalle. Jemand hatte ihre Kirche geschändet! Eine böse Glut glomm in den Blicken der Männer auf, die Frauen bekreuzigten sich, die Kinder weinten in den Wald der Röcke hinein. Sie waren alle sehr aufgeregt, aber ihre Empörung machte sich nicht in Worten und Gebärden Luft, sie blieb im Innern wie alles, was das Bergvolk heftig bewegt.

      Ein kleines Mädchen kam zu seiner Mutter gelaufen und zog sie an der Hand: Komm schau, komm schau!

      – Was hast du?

      – Komm schau, wiederholte das Kind.

      Es bat so eindringlich, und sein Gesicht hatte einen so merkwürdigen Glanz, dass die Mutter sich führen liess. Und als die andern das sahen, folgten sie.

      – Was hast du gesehen?, fragten sie das Kind.

      Aber das konnte es ihnen nicht erklären in seiner Aufregung. Seine Ungeduld wirkte ansteckend, und der Zug, den die Kleine anführte, wurde immer länger und bewegte sich immer eiliger. Auch Justine schloss sich an. Ihr schwante ein Unglück. Sie zogen die Strasse hinunter, überquerten einen Platz, gingen um ein paar Scheunen herum und hielten schliesslich vor einem Haus. Es war Germains Wohnung.

      – Da ist es, und das Mädchen wies auf die obere Türe.

      – Was hast du gesehen?, fragte die Mutter abermals.

      Sie erinnerte sich jetzt, dass sie die Kleine vorher zu Flavie geschickt hatte.

      Mehrere Personen hatten sich schon die Treppe hinaufgedrängt. Man stiess die Türe auf, trat in den Gang und öffnete schliesslich die Stubentüre. Die Vordersten blieben auf der Schwelle stehen. Zuerst nahmen sie nur das Flackern von Kerzen wahr und den Geruch von Weihrauch. Dann sahen sie Flavie ausgestreckt auf dem Tisch.

      Sie lag unbeweglich in ihrem Sonntagsstaat, und ihre aufgelösten Haare umgaben den Körper mit einem flammenden Goldschein. Das Haupt gekrönt mit dem Falbelhut, die Augen weit offen, die Hände gefaltet, bleiche Hände, an denen der Ehering glänzte, die künstlichen Blumen und die Wachskerzen in frommer Einfalt um sie herum angeordnet – so glich Flavie jenen wächsernen Bildern, die in ihren Glassärgen in den Krypten ruhen.

      Und in ihrer Brust steckte ein Dolch.