Giacometti hinkt. Isolde Schaad

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Название Giacometti hinkt
Автор произведения Isolde Schaad
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551812



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amüsierten, halb besorgten Miene, als er sie beim Stochern inspizierte, bevor er sich seinem prall gefüllten Teller zuwandte.

      Uwe, du musst verstehen, dass diese Schuhe meine Kindheit tyrannisierten. Es geht um die traumatischen Bilder, die sie in mir auslösen. Es sind die Bilder, die ich weghaben möchte, ausradieren.

      Ihr Ton war eindringlich, und sie sah, dass er ein Stück weit verstand.

      Dann sieht sie die Schuhe wieder auf dem Flohmarkt im Quartier. Inmitten des versilberten Nippes. Gegen diesen geschwätzigen Kleinkram wirken sie wie stumme Tölpel aus dem Bilderbuch des ewigen Gestern. Sie nähert sich, sie untersucht die Schuhe, sie muss wissen, wo der Junge ist, nein, es sind nicht ihre Schuhe, das heisst Uwes Schuhe, das heisst Vaters Schuhe. In der Lederferse dieses zum Verwechseln ähnlichen Verwandten findet sie eine winzige Etikette, die den Namen des ehemaligen Trägers enthält. Wanzenried Robert, Korporal, Wiesendangen, Abteilung 56B II / Kompanie B5, drittes Corps 1941.

      Wo ist der Junge, diese Frage wird dringend. Sie will sicher sein, dass der Junge ihre Schuhe hat. So sucht sie den Kontakt mit den Eritreerinnen diesmal gezielt. Tatsächlich tauchen sie bald auf dem lokalen Marktplatz auf, und Helen spricht sie an: Verzeihen Sie, ich bin besorgt um Ihren Schützling, wie geht es ihm? Haben Sie seine Identität feststellen können?

      Die Frauen zucken die Achseln. Ach, Sie sind’s? Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass der Bursche getürmt ist. Ausgerissen mit seinem kleinen Habundgut, das er in der grossen Migrostasche herumschleppt. Er hütet es wie einen Schatz. Wir hoffen, dass er wiederauftaucht, wenn er Hunger hat. Helen verkneift sich die Frage, ob sich unter dem kleinen Habundgut Militärschuhe befänden. Sie tritt von einem Fuss auf den anderen.

      Würden Sie mir, also könnten Sie …

      Was wollen Sie eigentlich von uns?

      Ihnen Hilfe anbieten.

      Es entsteht eine Pause, in der die Jüngere verlegen auf ihre mit Henna verzierten Zehenspitzen blinzelt.

      Wissen Sie, sagt schliesslich die grosse Eindrückliche, wir brauchen Ihre Hilfe nicht, wir sind beide ordnungsgemäss registriert, wir haben den Ausweis A, seit drei Jah­ren arbeite ich bei der Asylbehörde als Übersetzerin und unterrichte in der autonomen Schule. Und Ar­meida, meine kleine Schwester, sie legt der Jüngeren die Hand auf den Unterarm, hilft mir im Haushalt und lernt Deutsch. Sie ist diplomierte Ingenieurin und möchte später in ihrem Fach arbeiten.

      Helen tritt ein paar Schritte zurück.

      Dann, also, möchte ich Sie nicht weiter stören.

      Die Enttäuschung steht ihr ins Gesicht geschrieben, als sie durch die Wohnungstür tritt. Uwe kommt auf sie zu, nimmt sie ordentlich partnerschaftlich in Empfang. Es ist lange her, dass er jene Frage stellte, die man nicht be­antworten kann: Wie geht es dir?

      Da kann Helen nicht an sich halten und bricht in Tränen aus. Das ausgiebige Gespräch, das folgt, wirkt zwar wie ein reinigendes Gewitter nach der geballten Sommerhitze, doch hätte man nicht behaupten können, seither sei der gewohnte Alltag dieses Paars eingekehrt und damit das gute Leben nach Seneca, das die beiden pflegen. Aus der Distanz hätte man zwar feststellen können, alles sei paletti mit diesen beiden, wie man sagt, wenn man im Trend liegt. Von nahem jedoch wirken die zwei Leute zwar verbunden, das schon, aber nicht verbündet. Denn wir wissen nicht, inwieweit Uwe nun auf dem Laufenden ist, ob Helen ihn endlich über ihre Pläne orientiert hat. Zwar hat sie die Erfahrung mit den Eritreerinnen direkt und ohne Umschweife berichtet. Hat diese Erfahrung aus der Mördergrube, zu der sich ihre Seele zusammenkrampft, geborgen, vor ihm entfaltet, ausgebreitet, um nicht zu sagen brühwarm aufgetischt. Auch über den Jungen ist Uwe in­formiert, doch das Eigentliche ist Schweigen, und das ist – frei nach Shakespeare – kein Rest.

      Die Zeit geht dahin, und mittlerweile sind die zwei weiter voneinander entfernt als je. Das hat seine Gründe, die wir nun kennen, und es soll ja, wie am Anfang der christ­lichen Zeitrechnung feststeht, gemäss den biblischen Predigern eine Zeit zum Reden und eine Zeit zum Schweigen geben, eine Zeit zum Warten und eine Zeit zum Handeln. Doch zerrt das Warten mit dem Geständnis, das Helen vor sich herschiebt, allmählich am Grundeinverneh­men dieses Paars. Er schweigt länger als sonst, und sie ist nervös. Er scheint keinen Dunst von ihrem inneren Aufruhr zu haben. Ja, sie ist für ihn gar nicht mehr vorhanden, er sieht sie nicht mehr, oder bildet sie sich das bloss ein?

      Menschen enttäuschen einander, das ist die Lektion. Menschen tun nie das, was man von ihnen gerne hätte, jedenfalls nicht von selber. Helen ist daran, sich mit dieser Lebenslehre abzufinden. Und dann kommt der Tag, da Uwe sie überrascht mit dem Vorschlag, endlich die gesprochenen Forschungsgelder zu feiern. Er wolle kochen, halt das Übliche, ja, den ewigen Sugo, halt nichts Neues, aber das Bewährte umso besser. Dazu würde er endlich diesen grossen Bordeaux entkorken, diesen Château Grand Cru de soundso, in diesem Punkt mangelt es Helen an Detailkenntnissen, nun, sie stimmt erfreut zu und erwägt, ob der Anlass zu ihrem IKRK-Geständnis tauge oder nicht. Sie bietet sich an, den Tisch zu decken, kauft sogar wieder mal Blumenschmuck, diese ökologisch einwandfreien Carolröschen, die sie mag. Und dann geht Uwe in den Keller, um diesen sagenhaften Bordeaux, diese Inbrunst von einem edlen Tropfen, von dem Uwe endlos schwärmen kann, heraufzuholen. Nach seinen beherzten Schritten ins Dunkel passiert jedoch nichts. Warten, ein Knistern und wieder nichts.

      Es kann doch nicht so lange dauern, einen Wein aus dem Keller zu holen. Sie blickt auf die Uhr, nun steckt Uwe schon volle zehn Minuten dort unten, in seiner Effektenkammer, die Helen seit Monaten nicht mehr betreten hat.

      Sie fühlt den bekannten Ärger in sich aufsteigen, und bevor der Abend im Eimer ist, bevor die Zweisamkeit in ei­nem Fiasko landet, beschliesst sie, den Mann aus dem Kel­ler zu holen, dieser Terra incognita für sie.

      Sie kommt ihm auf der Treppe entgegen, und als Uwe sie sieht, flüstert er, dann spitzt er die Lippen zu einem «Pscht», er ist auf Zehenspitzen die Treppe hochgeschlichen, die doch sonst in der Kurve ein Knarren von sich gibt. Komm, sagt er leise, leiser geht’s nimmer, komm, ich muss dir etwas zeigen.

      Hinter den Regalen mit den Klasseweinen liegt der Junge auf einem Lager aus Holzscheiten. Er schlummert selig auf der Tasche, die er mit einer alten Wolldecke ge­füllt hat, um sich eine Bettstatt herzurichten. Seine Fundstücke hat er um sich herum gruppiert. Uwes Schuhe, Vaters Schuhe, diese Chimären der Vergangenheit presst er an sich wie den heiligen Gral, dessen Energie er spürt. Er lächelt im Schlaf.

      Wir lassen ihn, haucht Uwe, und sie nickt.

      Die beiden schleichen aus dem Abteil, als seien sie zwei Strauchdiebe, die sich ohne Skrupel in reichen Häusern bedienen. Oben nimmt der Abend dann einen gebührenden Verlauf, mit Dauerprost und verschworenen Blicken über der schmackhaften Pasta, auch der Salat und erst der Nachtisch sind nicht zu verachten. Dann stellt Uwe unvermittelt eine Frage: Wie siehst du das? Ist der Junge nun unser Kuckuckskind, oder würdest du ihn für den von den orthodoxen Juden lange erwarteten Messias halten?

      Helen ist perplex. Sie hat den Mund geöffnet und haucht, also du, ich bin verblüfft, ich möchte. Bevor sie wei­terfahren kann, sagt Uwe ohne irgendeine Betonung: Ich denke, da wartet eine Aufgabe auf uns, und weisst du was, er nimmt einen Schluck, holt aus mit seinem Vorzugs­prädikat «göttlich», das ausschliesslich für Weine reserviert ist, bevor er fortfährt: Ich denke, diese Aufgabe ist dringender und ausserdem bekömmlicher als ein Einsatz mit dem IKRK. Sie pausiert mit offenem Mund: Woher weisst du, was weisst du, und er setzt das Glas prompt und mit ungewohntem Nachdruck auf den Untersatz.

      Liebe Helen, ich bin doch nicht blind. Was du vorhast, hast du schlecht verhehlt.

      Warum hast du nie etwas gesagt?

      Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen.

      Du bist doch einer, also einer … Sie kann sich kaum er­­holen, dann prustet sie los. Also deinen Wittgenstein – ist doch Wittgenstein? Den kannst du dir sparen. Ich bin nämlich froh, dass es endlich heraus ist.

      Es ist, als sei eine Zentnerlast von ihr gefallen, sie hat ver­gessen, wie klug und bedacht der Mann an ihrer Seite ist. Und wie gern sie mit ihm zusammen ist. Das ist ein Glücksmoment. Der Moment, der sagt: