Giacometti hinkt. Isolde Schaad

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Название Giacometti hinkt
Автор произведения Isolde Schaad
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551812



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wahr, Helen, das sind die Widersprüche einer grünen Nationalrätin. Obszöne Gedanken schleichen sich ein, wenn der Nichtangetraute nicht kooperiert mit Tisch und Bett. Sie klopft sich auf die Schulter. Bis dann wirst du nicht mehr im Rat sein. Doch kann sie nicht verhehlen, dass sie in letzter Zeit von Destinationen der euphorischen Plakatromantik träumt. Träumen wird wohl noch erlaubt sein.

      Die Ansteckung ihrer Schülerinnen? Das wäre Grund zur Besorgnis. Denn Gymnasiastinnen von heute wollen zwar studieren, aber gleich darauf, oft schon vorher heira­ten und Kinder kriegen. Von wegen Berufsleben, Frauen in die Politik, Quotenfrauen oder keine, da bricht ein einziges Oh Gott / oh Gähn / oh du Scheisse aus, und die grosse Freche fängt an, sich die Fingernägel zu lackieren. Man kann so lausig daherkommen, wie man will, doch Fingernägel müssen hip und vorneweg sein, knallroter Lack ist obligatorisch.

      Der Hochzeitstag sei das Grösste, der wichtigste Tag im Leben der zeitgemäss denkenden Frau. Verkündet an­schliessend die grosse Freche und gibt sich lasziv. Man müs­se klar die Entjungferung vorher absolvieren und fleissig üben. Damit es in der Hochzeitsnacht dann ­me­ga­geil klappe. Dafür sei jeder Geld- und Zeitaufwand ge­­rechtfer­tigt, inklusive das umfassend professionell durchgeführte Fotoshooting, das die Gesamtinszenierung von der Kirche bis zum Bankett begleite. Die Kosten habe klar der Pa des Bräutigams zu übernehmen, denn der sei stinkereich, darum geht’s ja, dass der stinkereich ist, damit sich die Chose lohnt; ist doch logisch. Sind da noch Fragen?

      Helen hat es aufgegeben, mit ihren Schülerinnen zu diskutieren. Sie hat ein paar Begabten des Romanistik-moduls ein inoffizielles Seminar angeboten. Da sind vier Girls und drei Jungs, die hell im Kopf sind und arbeiten wollen. Sie fand es schade, die wirklich interessierten Kids aussen vor zu lassen. Doch die Eltern haben dagegen opponiert.

      Der Sex, das strapazierte Thema in den Medien. Von wegen der Mann will immer, nein, will er nicht, wenn er den Kopf voll Forschung hat. In dieser problematischen Phase der Zweisamkeit würde ihr der gegenseitige Besuch der ehemaligen Feuchtgebiete genügen, die nun ziemlich spröde sind, aber immer noch ansehnlich. Eine zwar mürbe ge­wordene, aber noch nicht erschlaffte Fleischlichkeit aus Mulden, Hügeln, Abschussrampen, lässt sich manuell be­handeln, das mag sie, das hat er früher auch gemocht. Ist die Tätigkeit genannt Streicheln definitiv ausser Betrieb? Bloss weil man seit achtundzwanzig Jahren zusammen ist? Das kann nicht sein. Was will die Frau? Statt einen schnellen Akt und das Schnarchen kurz darauf die ausführliche Beziehungspflege, ja gewiss, körperlich mit Haut und Haar. Wichtiger als der Koitus wird dann das Spiel, und nach dem Spiel einschlafen in der Löffelstellung. Das panische Geschlechtswerkzeug des Mannes im Zenit seiner Manneskraft darf auch mal ruhen, dann findet sich stattdessen ein lustiger Trabant von einem Penis in der gemeinsamen Mitte, ein Familienmitglied, mit dem frau tändeln und herumflottieren möchte. Das wäre dann der Flow, der in der Kreativproduktion erwünscht ist. Sie legt sich auf die Seite und hört Uwes näselnden Atemzügen zu.

      Das Spiel hat einen Namen zwar, doch der ist von den Therapeuten und Beraterinnen ausgelutscht und abgenutzt, er weiss nicht mehr, was die wahren Körperfreuden sind: Er lautet Kuschelsex. Dass Uwe nie von Kuschelsex spricht, ist Helens Hoffnung. Und ja, hat dieser nun vorwiegend fremde Mann im Bett nicht letzthin freiwillig und spontan gekocht? Das muss wohl eine Liebeserklärung gewesen sein.

      Sie wird die Erinnerung nicht los. Die Inspektion, eine freundeidgenössische Zeremonie. Zu diesem Zweck stieg der Vater in die tannengrüne Lodenuniform – daher wohl Helens Abneigung gegen Tannen –, gegürtet mit ledernen Patronenhaltern, den Felltornister mit dem gerollten Caput auf dem Rücken. Jeder Schweizer Staatsbürger ­hatte seine militärische Ausstattung, die wie eine camouflierte Rüstung im Mottenschrank auf dem Estrich ruhte, einmal im Jahr seiner Feldkompagnie vorzuführen. Dazu war der Karabiner aus dem Dachschrank zu schultern, ein bedrohliches Gerät. Die ganze Aktion schien dem Teenager fehlgeleitet, ihr Vater gab sich so der Lächerlichkeit preis. Denn eine solche Aufmachung entsprach einem Pausenclown, der sich HD Läppli nannte und das Boulevardtheater bediente. Auch im Radio riss er faule Spässe und heizte die radiophone Heiterkeit an. Das hatte nichts mit dem aufgeklärten Zeitgenossen, der ihr Vater war, am Hut, besser gesagt am Helm, die Krone der militärischen Einkleidung. Helen verstand diese künstliche Maskerade nicht, ihr Vater war kein billiger Sprücheklopfer, sondern ein ernsthafter Debattierer über das Weltgeschehen, und nicht nur, wenn Besuch kam.

      Helen wartet die nächste Gelegenheit ab, mit den Eritreerinnen ins Gespräch zu kommen. Sie begegnet ihnen fast täglich auf dem Gang zum Grossisten. An diesem Tag sieht sie, dass der schwarze Junge in seiner grossen Tasche un­förmige Gegenstände mitschleppt. Nun fasst sie sich ein Herz, überquert die Strasse und spricht die beiden Frauen an.

      Hallo, Ladies, ich glaube, wir haben denselben Heimweg. Ich würde Sie gerne kennenlernen. Ihr Junge ist reizend, wie heisst er?

      Dann beisst sie sich auf die Zunge. Was ist in sie gefahren, so kann sie doch nicht mit der Tür ins Haus fallen.

      Die Eritreerinnen sind stehen geblieben. Sie blicken Helen misstrauisch an. Sind Sie vom Migrationsamt?, fragt die grosse Eindrückliche.

      Ach woher, ich bin Ihre Nachbarin, ich wohne Ihnen schräg gegenüber.

      Aha, sagt nun die Kleinere und verzieht ihre fein­gesponnenen Züge.

      Wissen Sie, eigentlich interessiert sich niemand für uns ohne Grund.

      Der Junge sperrt die Augen auf und schmiegt sich an die grosse Eindrückliche. Sie tastet nach ihm, als wolle sie ihn abweisen, dann fährt sie fast schnippisch fort: Wir sind sonst nur interessant für das Steueramt und die Fremdenpolizei.

      Oh du meine Güte, verzeihen Sie meine Zudringlichkeit.

      Nun drängt sich der Junge vor und schaut Helen herausfordernd an. Die grosse Tasche hat er im Rinnstein de­poniert.

      Schön, dass du deiner Mutter hilfst, sagt Helen etwas tapsig.

      Das ist nicht unser Kind, wir wüssten selber gern, wer er ist. Er spricht kein Wort, er hat sich bei uns eingenistet. Er haust in unserm Keller.

      Also, wirklich, das ist ja, also eine Überraschung.

      Falls, falls ich Ihnen behilflich sein kann. Helen stutzt, sie fühlt sich dermassen ohnmächtig, dass sie zu stottern beginnt.

      Wir sind bereits daran, herauszufinden, wer er ist. Bevor Helen antworten kann, gehen die Eritreerinnen weiter. Ihre Geste ist eindeutig, sie heisst Ablehnung. Der Junge schleppt die Tasche, in dem Helen die Militärschuhe vermutet, knapp hinter ihnen her.

      Die folgenden Wochen verfliegen im Nu, am Feierabend sinniert Helen über den Dokumenten und Formularen, die sie von der Geschäftsstelle des Schweizerischen Roten Kreuzes angefordert hat. Einen Universitätsabschluss kann sie vorweisen, ein Lizentiat in Romanistik, aber ge­nügen ihre Sprachkenntnisse?

      Das Spanische, das Englische werden vorausgesetzt, Arabisch erwünscht. Also heisst es Spanisch büffeln und Englisch lesen. Arabisch wird sie ohnehin nur radebrechen können.

      Uwe fällt nicht auf, dass sich seine Gefährtin jeden Abend in ihrem Zimmer verbaut. Erst als sie eines Abends ruft, mach dir ein Spiegelei, Mann, ich bin beschäftigt bis mindestens um zehn Uhr, bemüht er sich herbei, klopft an ihre Zimmertüre und poltert frohgemut, als sie einen Spalt öffnet, komm, gehen wir zum Italiener, ich hab keine Lust auf Spiegeleier.

      Der Italiener, die beste Erfindung der deutschen Nachkriegsgeneration! Eine protokulinarische Schöpfung, die sich im südlichen Ausläufer der vereinten Bundesländer ausführlicher präsentiert, den Italiener gab es im Land der Eidgenossen um jede Ecke, er hatte einen klangvolleren Namen und die besseren Weine.

      Helen stochert in den Ravioli alla panna und bringt ihr Anliegen nicht heraus. Wieder vertröstet sie sich selber mit der reiflichen Vorbereitung und beschliesst, Uwe erst dann zu informieren, wenn sie das Aufgebot in der Tasche hat. Wobei sie im Grunde weiss, dass sie sich das Aufgebot vormacht, sehr wahrscheinlich wird sie ihm nicht genügen, ihr Jahrgang spricht dagegen, also wozu Uwe informieren, wenn die Sache sowieso im Sand verläuft?

      Uwe räuspert sich und legt die Dessertkarte, die der Kellner bringt, auf die Seite. Weisst du, deine Phobie ge­gen