Giacometti hinkt. Isolde Schaad

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Название Giacometti hinkt
Автор произведения Isolde Schaad
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551812



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Krieg hat ein Medusenhaupt, und jedem angeblichen Friedensvertrag wachsen ein paar neue Kriege aus dem abgehauenen Stumpf. In Den Haag, am Internationalen Strafgerichtshof, behaupteten die Kriegsverbrecher vom Balkan, jene wenigen, die man endlich hatte fassen und zur Verantwortung ziehen können, sie wüssten von nichts, das seien Hirngespinste des ehemaligen Feindes, ausserdem hätte man sich doch längst versöhnt.

      Die Wahrheit stirbt zuerst, eine Binsenweisheit im Krieg oder in der Politik, seiner Vorläuferin. Das weiss sie jetzt bis ins Knochenmark, wenn sie in der Session sitzt, vor sich das heroische, dabei grandios unschuldige Pano­rama, genannt die Wiege der Eidgenossenschaft. Es ist ein harmloses Landschaftsgemälde vom Urnersee, das von einem Maler namens Charles Giron stammt. Eingelassen in eine heimelige Täfelung aus Holz, und Holz das Gute an sich.

      Seit bald einem Jahr ist sie Nationalrätin, eigentlich aus Versehen, sie fühlte sich zur Annahme des Mandates gedrängt. Politik war schmerzhafter, als sie geahnt hatte. Das Haupthandwerk der Parteien bestand im Uminterpretieren einer Tatsache in ihr Gegenteil, das war die übliche Methode, wenn die Sachgeschäfte aufs Tapet kamen, die vorher theoretisch untermauert worden waren. Sachzwang war auch so ein Wischiwaschiwort, das jede Lüge rechtfertigen musste unter der Himmelskuppel der vereinigten Nationalversammlung. Was man unter sich ab­gesprochen hatte, vorher, in den unzähligen Kommissions­sitzungen, war im Sessionssaal auf einmal nichts mehr wert. Wurde nicht verfochten, ja, es war, als hätte man gar nie davon gesprochen. Sie war empört, damit hatte sie dann doch nicht gerechnet, und nach vier Jahren würde sie genug gehabt haben von diesen Füllhörnern der Heuchelei. So reifte der Entschluss, mit eigenen Augen zu sehen, was vor Ort ablief.

      Als Uwe nach Hause kam, war die erste Frage, Helen, wo sind meine Bergschuhe?

      Sie liess sich Zeit für die Antwort, sie sollte kein Stimmungskiller sein. Aber die Ungeduld in ihr preschte vor.

      Uwe, sie sind scheusslich! Ich kaufe dir bequeme Wanderschuhe, die etwas taugen. Dafür nehme ich mir einen freien Tag.

      Ach woher, diese Schuhe sind praktisch und solide, sozusagen untilgbar.

      Eben, das ist es ja.

      Er schüttelte den Kopf, er war irritiert.

      Du sprichst in Rätseln.

      Weisst du, sagte sie hastig, der Krieg, sie erinnern mich an den Krieg.

      Ach du liebes bisschen, rief Uwe erleichtert, ihr Schweizer wisst doch gar nicht, was Krieg ist. Und auch ich kann nicht behaupten, es zu wissen, dafür bin ich nicht alt genug.

      Das war vor einem Monat gewesen, Ende August. Uwe hatte sich nicht umstimmen lassen und war in seinen Militärschuhen über die Greina geprescht. Lass mich vorangehen, so verschonst du mich wenigstens vom Anblick deines Militärlooks. Ach Helen, er schüttelte erneut den Kopf, ihre Umstandskrämerei mit seinen Schuhen versteht er nicht. Die Wanderung war fast wortlos verlaufen: Wenn man die Greina in zwei Tagen bewältigen will, ist sie zu anstrengend für einen Disput. In der berühmten Bergeinöde walten die Kräfte der Natur; sie sind vordergründig, und man muss sich konzentrieren, wenn man nicht stolpern will oder sich das Knie verrenken. Sie hatten ihre besten Jahre hinter sich.

      Der Zweite Weltkrieg ist niemals zu Ende, sagte sie jetzt und rührte gedankenverloren in ihrer leeren Kaffeetasse. Der Mann blickte sie prüfend an, so, als müsste er ihr Ge­sicht skizzieren.

      Der Zweite Weltkrieg macht Station auf der ganzen Welt.

      Wie meinst du das?

      Sagen wir mal so: Die Ukrainer wollen ihre Rechte, die Tschetschenen desgleichen, die Armenier und die Kurden sowieso. Überall müssen die Kleinen sich die Hände schmutzig machen und einen Hinterhofkrieg gegen eine Grossmacht führen. Und das sind nur die alten Fehden auf unserm ausgebufften Kontinent, von den akuten Brandherden im Nahen Osten und Übersee nicht zu re­den.

      Das sind doch alles Interessenskonflikte aufgrund der ungleichen Ressourcen, das kann man doch nicht mit dem Zweiten Weltkrieg kurzschliessen.

      Doch, doch, kann man. Es sind nämlich immer die glei­chen Schuhe, die ausrücken, um die blühenden Zivili­sationen in Sumpf und Schutt zu stampfen. Wenn diese Schuhe nicht wären, könnte es besser bestellt sein auf dieser Welt.

      Sie rutschte auf dem Stuhl hin und her.

      Wenn die Krieger von heute Sandalen trügen wie damals in der Antike, in Antiochia oder auf den Feldzügen des Perseus, dann wäre mir wohler. In Sandalen wäre der Krieg vermutlich menschlicher.

      Du phantasierst, sagte der Mann hinter der Zeitung, der moderne Krieg hat andere Methoden, er geht nicht mehr zu Fuss.

      Oh doch, das ist ja das Monströse, er geht in denselben Schuhen, wenn er Minderheiten bekämpfen und um ihr Recht und ihr Land bringen will. In Tat und Wahrheit will er sie beseitigen, krass gesagt ausrotten, das ist das grosse Tabu im Parlament. Das wird spürbar, wenn’s wieder mal um die Waffenausfuhr geht. Die Minderheiten sind leider oft die Initialzündung, wenn ein Weltkrieg beginnt. Das heisst, wenn er in einer anderen Weltgegend aufflammt, denn er hat ja gar nie aufgehört. Palästina brauch ich wohl nicht speziell zu erwähnen.

      Helen, willst du wirklich darüber reden, jetzt?

      Sie seufzte und schwieg.

      Komm schon, du vergisst den Arabischen Frühling, es gab, trotz aller Rückschläge, Fortschritte vor Ort.

      Der Arabische Frühling war eine Revolte und kein Krieg.

      Uwe näselte und erhob sich. Frau Professor, soll ich uns noch einen Kaffee machen, ist dir das recht?

      Sie nickte. Und versank in Gedanken. Einst waren wir glühende Israelfans und dachten, so ein Kibbuz sei das bes­sere Pfadfinderlager. Das sagte sie laut, und er lachte, das wollte ich auch. Die gesamte Nachkriegsgeneration wollte nach Israel, um sich gross und gut zu fühlen. Uwe setzte sich, stellte die Kaffeetasse auf den Tisch und schaute ihr geradewegs in die Augen.

      Ist was los?

      Sie schüttelte den Kopf. Sie hat verdrängt, dass Uwe vier Jahre jünger ist als sie, also vier Jahre unbeschwerter von einer sagenhaften Kindheit. Uwe war gut drauf, wie die Heutigen sagen. Uns Studenten machte die Haganah, eine der beiden zionistischen Untergrundorganisationen, grossen Eindruck. Es ist, als sei das Heldentum dort drüben wiederauferstanden, wenn du dir die Siedler in den besetzten Gebieten anhörst.

      Sie nahm einen tiefen Schnauf. Yes dear, die Nationalkonservativen sind gross in Fahrt. Sie benehmen sich wie die von der Weltregierung gesandten Vollstrecker des Bibelworts. Wie jener Ari Ben Kanaan aus dem Schmöker «Exodus». Ein Rassist, dieser Leon Uris, vor allem in seinen Afrikabüchern, bloss haben wir das damals nicht gemerkt.

      Nun kam das Thema also auf den Tisch, in einem schändlich lockeren Ton, der sie verdross, immerhin würde sie so Mumm bekommen, das heisse Eisen zu packen. Sie nach Syrien, das würde etwas absetzen, obschon ihr Ge­fährte ein friedlicher Mensch war.

      Uwe war guter Dinge, weil seinem Gesuch stattgegeben worden und die Beiträge für sein Forschungsprojekt an der ETH erhöht würden. Geht klar, hatte er ges­tern lakonisch gesagt, als sie sich danach erkundigte. Er pfiff einen Song aus den Anfängen ihrer Geschichte, nahm sie in die Arme und setzte zum Tanz an. So etwas war lange nicht mehr vorgefallen, schon gar nicht im dürren Alltag der ehemaligen Mietwohnung. Offenbar fühlte sich Uwe freier in Beton und Glas mit fashionabler Aussicht. Die fürstlich bemessene Terrasse hatten sie allerdings noch nicht eingeweiht.

      Später goss sie sich statt Kaffee ein Glas Orangensaft ein, Vitaminspender, um den Disput zu eröffnen, der eintreten würde, wenn sie losplatzte: Uwe, ich werde nach Syrien gehen. Aber dann schwieg sie doch: erst denken, dann sprechen. Vorher musste sie den Argumentationskatalog bereithalten, ihn repetieren. Sie wolle etwas mitbekommen, wissen, was hinter den Mauern der offiziellen Verlautbarung abgehe. Selber sehen, was an Assads un­glaublichem Zermürbungsterror dran sei, von dem man ausschliesslich Bilder des Grauens aufgetischt bekomme. Sie halte es für ihre Pflicht als Politikerin, die Orte des Schreckens zu besichtigen.

      Und dann würde sie im Rat ein Projekt zum Wiederaufbau von