Giacometti hinkt. Isolde Schaad

Читать онлайн.
Название Giacometti hinkt
Автор произведения Isolde Schaad
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551812



Скачать книгу

denke, sagt sie entwaffnend, ein vorhandenes Kuckuckskind lässt sich wohl einfacher adoptieren als ein kommender Gottessohn.

      Der Mann gegenüber räuspert sich:

      Helen, von Adoption zu reden, ist viel zu früh.

      Das ist Uwe, der Alte. Der, der er eben ist.

      Ich weiss, lächelt sie über den Tisch. Schenk mir noch ein Glas von deinem Supergigaweissnichtwas Bordeaux ein.

      Göttlich, ich kann mich nur wiederholen.

      Sie kosten und schweigen. Bis Uwe sagt: Du, ich bin so froh, dass Syrien nun in die Nähe rückt, es liegt jetzt sagen wir mal in der Distanz von Schlieren oder Affoltern am Albis. Dann hält er ein, ist ja im Grunde ein zy­nischer Gedanke, gebe ich zu. Du wirst mir vergeben müssen.

      Die Nacht ist sternenklar, als sich die beiden Arm in Arm zum Fenster hinauslehnen. Eine frische Brise fächelt sie an. Von der nahen Turmuhr schlägt es Mitternacht. Als der Klang verhallt ist, schwirrt ein Zitronenfalter herein.

      Lass ihn, sagt sie zu Uwe, der findet seinen Weg. Wie der Junge. Und ich hoffe, wir finden ihn auch.

      Uwe murmelt – Wittgenstein wäre wieder fällig, aber den magst du ja nicht.

      Das hab ich nicht gesagt, ich meinte, ich … Uwe legt ihr zwei Finger auf den mit Lippenstift und einem Rest Dessert versalbten Mund. Dann sagt er trocken, es gibt da einiges nachzuholen, denke ich. Die Fortsetzung ist klassisch, geradezu klassisch. Mit viel Basic Instinct. Und noch mehr Zustrom aus einem verantwortungsvollen Muskel, der Herz genannt wird.

      Um sechs Uhr morgens zwitschern die Vögel wie verrückt. Sie wissen, was los ist. Helen erhebt sich schlaftrunken und steigt über den königlich schlummernden Uwe hinweg. Sie greift nach dem Seidenhemd, das auf dem Stuhl übernachtet hat, sie will nach dem Jungen sehen. Das Kel­lerfenster steht offen, und sie erschrickt. Aber die Tasche und der Krimskrams liegen noch da, die Schuhe stehen säuberlich gepaart vor der Holzbeige. Helen atmet auf. Sie muss an sich halten, um nicht in Jubel auszubrechen und dann in Gelächter, denn der Anblick der verhassten Schuhe ist die reine Lieblichkeit. Nun sind sie ein Pfand für ein grösseres Abenteuer geworden, das ihr bevorsteht. Und sie hofft, dass auch Uwe mit von der Partie sein wird, wenn es darum geht, ein stummes kluges fremdes Menschenkind kennenzulernen. Tagtäglich.

      War es tatsächlich so? Natürlich war es nicht so. Wishful thinking war’s, der Tag- und Nachttraum einer sozial Engagierten, die wider Willen bei den Grünen politisiert. Und dass sich der bestens dotierte Weinkeller eines gut situierten Paares in Bethlehems Stall verwandelt, ist des Guten zu viel. Das mit den Körpern und Seelen traf hingegen zu. Und es hatte nichts, aber auch gar nichts zu schaffen mit dem, was sich derzeit erotisch auf der Benutzeroberfläche des Digitalkosmos kräuselt. Selfies und Emojis und Blümchen und Herzchen und Softporno und Hardporno und beide mit einem Strauss Bildchen, die Minderjährige und Überfällige bloss mit der Netzhaut wahrnehmen können, falls sie darauf stossen. Dieses Paar findet sich rasch in der Tiefe darunter, dort wo sich die letzte archaische Kraft regt, die alles wegschwemmt, was sich an Ratgeberliteratur für sogenannten guten Sex so­wie an therapeutischem Beigemüse auf der Haut des mitmenschlichen Umgangs ansammelt.

      Doch es war der Zitronenfalter in lauer Nachtluft, den der durchgepeitschte Wissenschafter nicht ertrug. Weshalb das Vorspiel zur anstehenden Liebesnacht besonders rigoros ausfiel. Und weil das die Gefährtin kommen sah, nahm sie dem Gefährten den Wind aus den Segeln und holte zu einem Präventivschlag aus. Damit du dir nicht zu viel einbildest auf deine Verführerqualitäten, Sex ist nur das Mittel zum Zweck der Erkenntnis, wo du anfängst und ich aufhöre. Diesen heftigen Satz prustete sie ins La­vabo, mit einem Wattebausch voller Abschminke in der Hand, während ihr Uwe über den Rücken fuhr und sie, was sie mag, kräftig unter den Schulterblättern massierte.

      Gut zu hören aus dem Mund einer Komforthuma­nistin, gab Uwe schlagfertig zurück. So eine Bezeichnung kann eine Helen Grossniklaus hingegen nicht auf sich sitzenlassen. Warte, die Antwort kommt noch und nicht zu knapp, sagte sie erregt und wütend zugleich. Und das grosse Aber, das hier folgen möchte, muss passen.

      Die Antwort zeigte Wirkung. Wochen später finden wir Helen nicht im IKRK auf einer Mission in Syrien, sondern als Freiwillige in einem Durchgangsheim im Kreis 5. Neben ihrem Pensum am Gymi jobbt sie dort zwei Nachmittage in der Woche als Dolmetscherin und Coach für minderjährige westafrikanische Flüchtlinge. Der dunkle Götterliebling hat nämlich, seit er bei den Eritreerinnen wiederaufgetaucht ist, ein paar Wörter von sich gegeben. Faim, nuschelte er, dann sagte er: boire, vous-plait, und dann: il fait froid. Die Eritreerinnen freilich hegten keinerlei humani­täre Absichten, weshalb sie den Jungen in jenes Durchgangsheim einlieferten, obschon Helen ihn liebend gern zu sich genommen hätte. Das kommt nicht in Frage, sagte die grosse Eindrückliche, dieser Junge muss erst einmal unter die Leute, unter seinesgleichen, er muss erzogen werden. Dass jemand in der Nachbarschaft tu­schel­te, der Wunderknabe tauge nicht als Accessoire für ein Hip­s­terpaar, hat Helen mit wundem Herzen weggesteckt. Wie sie so vieles im neuen Job wegstecken muss. Aber das Weg­zu­steckende liegt hier näher bei der Condition hu­maine als das willfährig Falsche, die kalkulierte Heuchelei im Wan­delgang der Politik.

      Und die Schuhe? Sie sind, und das ist Helens winziger Triumph, nach den fruchtlosen Aktionen mit dem Jungen ins Durchgangsheim gegangen. Als Helen ihn nämlich dar­auf ansprach, äusserte er sogar einen ganzen französi­schen Satz. Er sagte: Les souliers, vous savez, c’est génial avec.

      Zwischenhalt:

      Der ökologische Fussabdruck

      Beni: Hört, hört, du fliegst also noch? Predigst uns zwar die 1000-­­ Watt-Gesellschaft, bist aber ein Umweltsünder der übelsten Sorte?

      Mike: Sachte, mein Freund. Ich hab zwar meine Prinzipien, doch ein Missionar war ich nie. Und wenn einer wie ich alle zwei Jahre mal den Flieger nimmt, brauchst du nicht gleich Schaum vor dem Mund zu kriegen.

      Beni: Klar, jeder hat da doch seine kleine Ausweichstelle, alle haben ihre Ausrede, und so ändert sich nichts. Weisst du, dass du beinahe ein Jahr lang täglich nach Paris pendeln kannst, um einen einzigen Langstreckenflug zu kompensieren?

      Mike: Was soll diese doofe Aufrechnung, ich will nun mal nicht nach Paris, ich will, ach was. Und ist dir eigentlich klar, dass es mit­t­lerweile ein Ammenmärchen ist, dass der Flieger der Luftverpester Nummer eins ist?

      Der andere schüttelt den Kopf: Es geht nicht um den Sprit, es geht um die Erhitzung der Atmosphäre, die der Flieger mit seinen Kondensstreifen anfacht, die sind das Problem.

      Der Freund gluckst: Dir kann man doch alles weismachen, du glaubst ja auch an den Weihnachtsmann, Beni. Weisst du was? Ich denke, WIR sind das Problem. Wir selber. Und das lösen wir nicht mit Google Wissen, oder hast du’s von Wikipedia?

      Beni: Du willst einfach nichts dazulernen, nicht wahr.

      Mike: Mach mal halblang, Beni. Wenn du’s genau wissen willst, ich hab mein Auto verschenkt. So eine Grosstat würde ich kaum von dir verlangen, aber ein wenig Eindruck schinden, mein Freund, das sollte sie schon.

      Beni: Mmmhhh.

      Mike: Bist doch kein Fundi, Beni, hey. Früher warst du doch ein Verfechter der Widersprüche. Dialektik, Mann, das ist nach wie vor angesagt.

      Beni: Das ist doch reiner Alt-Achtundsechziger-Kack, einer wie du sollte doch endlich erwachsen werden und den Tatsachen ins Auge blicken.

      Mike: Von wegen Tatsachen, mein Freund, die nächste, die mir einfällt, ist deine Zweitwohnung im Engadin. Das möchte ich einfach feststellen, ohne den Zeigefinger zu erheben.

      Der Freund sagt missmutig: Die war Karins Wunsch, nicht meiner. Ausserdem planen wir, sie abzustossen, weil wir zu selten dort sind. Du siehst, ein Ansatz zur Besserung, Mike. Ich weise ausserdem darauf hin, dass die Wohnung im Vextal liegt, wo ausschliesslich gewandert wird.

      Der andere, ärgerlich: Das Wandern ist des Müllers Lust. Klingt beschissen. Das Wandern ist die Alibiübung der Happy Few.

      Beni: Hörst du mir eigentlich zu?