Название | Der afrikanische Janus |
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Автор произведения | Duri Rungger |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858301901 |
Gestern hatte er besonders schlagende Beispiele mit zwei Meisterwerken und entsprechenden, schwachen Gegenstücken gefunden, deren Abbildungen auf seinem Scanner kopiert und in seinem Computer gespeichert. Das Dossier wollte er sich jetzt nochmals genauer ansehen. Er holte seinen Laptop und öffnete das Dokument. Dann stockte sein Atem: Lobi4.docx, last modified March 3, 2014, 17:36 – heute war der zehnte! Seine Uhr und der Computer waren sich darin einig.
Keller stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub den Kopf in die Hände. Er versuchte, sich zu erinnern, wie er die verlorene Woche verbracht hatte – nichts! Es war, als ob er in ein schwarzes Loch starrte. Er konnte sich genau erinnern, wie er gestern – oder vor einer Woche – nach einem bescheidenen Imbiss überlegt hatte, ob er einen Abendspaziergang unternehmen sollte. Dann musste er eingeschlafen sein. Vielleicht war er im Halbschlaf ins Bett gekrochen und hatte sieben Tage durchgeschlafen. Das war zwar nicht wahrscheinlich, aber die einzige Erklärung, die ihm einfallen wollte.
Schon früher hatte er derartige Absenzen erlebt – oder vielmehr nicht erlebt. Meistens erstreckten sie sich bloss über einen oder zwei Abende. Nein, wenn er ehrlich war, fehlten manchmal auch ganze Tage. Irgendwie hatte er solche Episoden jeweils verdrängen können. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als es auch diesmal wieder zu versuchen.
Er fuhr auf. Beim Rasieren heute früh hatte er den Eindruck erhalten, sein Gesicht sei gebräunt. Er hatte angenommen, sein langes Verweilen auf der Terrasse habe seine Winterblässe vertrieben, obwohl er meistens unter dem Sonnenschirm gesessen war. Zudem hatte ihm der Elektriker versichert, die neue Beleuchtung im Badezimmer schmeichle dem Teint. Damit hatte er die Sache abgetan. Im Hinblick auf die entdeckte Zeitlücke wurde diese Erklärung weniger stichhaltig. Er versuchte sich vorzustellen, er sei in die Berge gefahren und habe vor einem Panorama weisser Bergketten auf einer Sonnenterrasse in einem bequemen Korbsessel ein Glas Weisswein getrunken. So sehr er sich auch Mühe gab, gelang es ihm nicht, sich davon zu überzeugen, dies wirklich erlebt zu haben. Keller rang nach Atem. Er musste aus seinen vier Wänden hinaus und sich irgendwie ablenken.
Mit eingezogenen Schultern hastete er über die Rathausbrücke in der Hoffnung, von keinem rotbehosten Kampfpiloten mit Schmerbauch belästigt zu werden. Nichts dergleichen geschah und er schlenderte etwas entspannter die Storchengasse hinauf und sah sich die Auslagen der Boutiquen an. Im Café Presse Club am Münsterhof waren alle Tische besetzt, und er ging weiter zum Hotel Metropol. Dort war das Bistro fast leer. So wagte er es einzutreten, wählte einen kleinen Tisch, machte es sich auf dem braunen Sofa bequem und hoffte, dass sich innerhalb der nächsten Stunde ein Kellner zu ihm verirren würde. Zu seinem Erstaunen wurde er sofort bedient.
Vorsichtig nippte er an seinem Riesling-Silvaner und versuchte vergeblich, seinen Schreck zu vergessen. Er nahm die NZZ vom Nebentisch und blätterte darin. Er las sonst ziemlich regelmässig die zahlreichen Zeitungen, die im «Presse Club» auflagen. So war ihm der Volksaufstand in der Ukraine nicht neu, doch während seiner «Abwesenheit» war einiges geschehen. Die pro-westlichen Aufständischen hatten sich durchgesetzt und forderten bereits das Verbot der russischen Sprache, was die Westmächte anscheinend nicht störte – wenn sie bloss ein weiteres Gebiet der ehemaligen Sowjetunion unter ihren Einfluss bringen konnten. Im Gegenzug benutzten die Russen dies als Ausrede, sich die Krim unter den Nagel zu reissen. Angewidert drehte er die Seite um. Das Geläster zweier Politiker über unverantwortliche Kolleginnen, die landesverräterisch gegen den Kauf des neuen Kampfjets Gripen auftraten, war auch nicht geeignet seine Stimmung aufzuhellen.
Entmutigt schmiss er das Blatt auf den Tisch, nippte an seinem Glas und dämmerte vor sich hin, bis eine ältere Dame und ihr bedeutend jüngerer Begleiter am Tisch gegenüber Platz nahmen. Er konnte nicht umhin, sie ein wenig zu beobachten. Das waren bestimmt Mutter und Sohn. Diese Annahme bestätigte sich, als der junge Mann die gebrechliche Dame mit Mami ansprach. Das hatte Seltenheitswert: Sohn führt seine Mutter in den Ausgang, ohne andauernd am Handy zu hängen. Er selbst hatte nicht die geringste Erinnerung an seine Kindheit. Seine Eltern hatte er nie gekannt. Er wusste bloss aus den Unterlagen zur Erbschaft, dass seine verwitwete Mutter ihm ein beträchtliches Vermögen hinterlassen hatte. Seine ganze Jugend war einem Filmriss zum Opfer gefallen. Was hiess da Riss? Die ganze Filmrolle war abhandengekommen.
Seine erste Erinnerung war, wie er in einer Vorlesung an der Universität sass, als ob der Storch ihn soeben dort abgesetzt hätte. Von da an hatte er eifrig studiert, sich kaum eine Abwechslung gegönnt und in Rekordzeit sein Doktorat in Kunstgeschichte gemacht. Um alte Inschriften lesen zu können, hatte er Latein als Nebenfach gewählt, was ihm jetzt erlaubte, gelegentlich an Mittelschulen zu unterrichten. Die Klassik hatte ihn jedoch wenig fasziniert. Sein Hauptinteresse galt von Anfang an der Stammeskunst, besonders der afrikanischen. Er verbrachte die ganze Freizeit in den Sammlungen des völkerkundlichen Museums der Uni, im Museum Rietberg, in Bibliotheken und besuchte Ausstellungen in der Schweiz und den umliegenden Ländern. Für diese Periode konnte er sich an alles lückenlos erinnern.
«Leider nicht alles …», knurrte er vor sich hin, «denk an die schwarzen Löcher.» Schon während der Studienzeit hatte er Momente von Abwesenheiten erlebt, die ein paar Stunden, manchmal auch Tage dauern konnten. Einmal hatte er eine Prüfung verpasst und nie herausgefunden weshalb. Es ging um eines seiner Lieblingsfächer, und er war gut vorbereitet. Der verständige Professor hatte ihm freundlicherweise einen andern Termin gegeben, und er hatte glänzend bestanden. Genau genommen fehlten ihm an den meisten Tagen ein paar Stunden, doch längere Lücken waren mit der Zeit selten geworden. Deshalb hatte er auf den jetzigen Aussetzer so panisch reagiert.
Er versuchte sich abzulenken. Auf einem Sofa schräg vis-à-vis sass eine prächtig aufgemachte Dame in modisch vielschichtiger Kleidung. Das mit glitzernden Fäden durchzogene Jäckchen passte zu ihrem silbergrauen, eng anliegenden Rock. Ihr platinblondes, gestrecktes Haar war in der Mitte gescheitelt. Sie konnte sehr wohl Besitzerin einer der teuren Boutiquen im Quartier sein, die sahen sich alle ähnlich. Ein kleiner Schosshund sass neben seiner Herrin, stützte seine Pfoten auf ihrem üppigen Busen ab und schnappte Häppchen eines Kuchens von ihren aufgespritzten Lippen. Es war zum … Austrinken und Gehen!
Kaum hatte er das Glas an die Lippen gesetzt, erstarrte er. Vorgestern hatte er die letzte Stunde seines Unterrichts ausgelassen! Er schnappte verzweifelt nach Luft und zog damit die Aufmerksamkeit seiner Nachbarin auf sich. Sie starrte ihn zuerst fragend an, doch dann schien sie ihn zu erkennen und winkte ihm freudig zu. Er stand hastig auf, bedeutete ihr mit einer beschwichtigenden Geste, dass er in Eile sei, und schickte sich an zu gehen.
Da hörte er neben sich eine Stimme: «Eliane? Ich habe dich zuerst gar nicht gekannt – es ist ja auch schon lange her …» Unter der Türe drehte er sich nochmals um und sah, wie ein Mann in seinem Alter sich an den Tisch der blonden Dame setzte. Keller war erleichtert. Ihre Aufmerksamkeit hatte nicht ihm gegolten.
Jack sass an einem der ovalen Tische mit marmoriertem Steinsockel in der Onyx-Bar, und stürzte ein Bitter Lemon hinunter. Die vergangene Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen, und zum Ausgleich hatte er am Nachmittag drei Stunden im Fitness-Club trainiert. Jetzt war er völlig geschafft. Als er das Glas vorsichtig auf der Glasplatte absetzte, bemerkte er die hinreissende Rothaarige, die schräg gegenüber an einem andern Tisch sass. Vor der schwarzen Wand im Hintergrund leuchtete ihr krauses Haar im Licht der Deckenspots wie ein roter Lampion – ein faszinierendes Bild! Jack beobachtete sie eingehend. Ende dreissig, feines Gesicht, elegante Kleidung und sicheres Auftreten, wahrscheinlich eine Geschäftsfrau, die im Hyatt übernachtete. Er hatte schon einige nette Abende mit einsamen Damen verbracht, die er hier aufgegabelt hatte, und diese gefiel ihm besonders. Nach der vergangenen Nacht brauchte er zwar dringend etwas Ruhe, aber in diesem Fall wollte er nicht klein beigeben. Er versuchte, Blickkontakt mit der Schönen aufzunehmen, doch sie schaute teilnahmslos durch ihn hindurch und schenkte ihm keine Beachtung. Das würde er schon noch hinbekommen.
«Herr