Название | Der afrikanische Janus |
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Автор произведения | Duri Rungger |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858301901 |
Jetzt hatte er sein sich selbst auferlegtes Sozialtraining bald hinter sich. Morgen würde er die korrigierten Arbeiten verteilen, eine korrekte Übersetzung besprechen und sich verabschieden. Dann konnte er endlich wieder in Ruhe seiner Arbeit über afrikanische Kunst nachgehen. Dank seines ererbten Vermögens hatte er eine bedeutende Sammlung afrikanischer Werke anlegen können und seine geräumige Wohnung in ein wahres Museum verwandelt. Dabei hatte er keinen Aufwand gescheut. Er hatte die alte Wohnung von Grund auf renovieren, hell streichen und die Böden mit grauem Eichenparkett auslegen lassen. Die leichten, diskreten Möbel aus Stahl und hellem Leder liessen die ausgestellten Kunstwerke zur Geltung kommen. Die wertvollen Statuen standen auf eigens für sie hergestellten Glassockeln oder in Vitrinen und die Masken hingen thematisch geordnet an den Wänden. Die von einem professionellen Ausstellungsmacher installierte Beleuchtung rückte die Skulpturen ins beste Licht. Ein grosses farbiges Bild von Augusto Giacometti mit seinen frechen Farbtupfern bildete einen herrlichen Kontrast zu den nüchternen, meist dunkeln afrikanischen Figuren.
Er war stolz auf seine Sammlung und deren Präsentation. Trotzdem lud er nur selten jemanden ein, sie zu besichtigen. Höchstens einige auserlesene Kuratoren und Kulturhistoriker, seriöse Kunstkenner und bedeutende Sammler, denen er als Experte beratend zur Seite stand, bekamen diese Gelegenheit. Als Kunstliebhaber und vor allem auch als Wissenschaftler störte er sich am Umstand, dass damit seine auserlesenen und ethnographisch wichtigen Stücke der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren. Um sein schlechtes Gewissen zu besänftigen, stellte er seine Objekte bereitwillig für Ausstellungen zur Verfügung unter der Bedingung, dass ihre Herkunft nur mit seinen Initialen, HK, bezeichnet wurde. Zudem dokumentierte er sorgfältig die rituelle Bedeutung, Herkunft und Geschichte jedes Kunstwerks und beschrieb sie in Fachzeitschriften mit künstlerisch hochstehenden Bildern, die er von einem bekannten Fotografen anfertigen liess. Daneben verfasste er ausgedehnte Studien zu ethnographischen und kunsthistorischen Themen. Auch seine Artikel signierte er bloss mit seinen Initialen. Dass dieser HK und seine Sammlung in Fachkreisen inzwischen höchst angesehen waren, erfüllte ihn mit Genugtuung. Trotzdem war ihm wichtig, dass ausser wenigen Eingeweihten niemand seinen vollen Namen, geschweige denn seine Adresse erfuhr.
Er selbst war eifriger Besucher von Ausstellungen. So hatte er kürzlich auch an der Einführung zur neuen Ausstellung «Afrikanische Meister» im Rietbergmuseum teilgenommen – und war dank einer unmöglichen Mütze und dunkler Brille glücklicherweise unerkannt geblieben. Während er die dort ausgestellten Werke bewunderte, war ihm die Idee gekommen, eine kritische Abhandlung über weniger meisterhafte Werke der Stammeskunst zu schreiben, vielleicht unter dem Titel «Clumsy Art».
Auch wenn dieser Arbeitstitel etwas provokativ klang, ging es ihm keineswegs darum, unbeholfene Darstellung anzuprangern oder einzelne Stücke abzuwerten, die ethnologisch durchaus von Bedeutung sein konnten. Ihn faszinierte vielmehr die Frage, woran es lag, dass manche, auch sorgfältig gefertigte Skulpturen nicht die geringste Ausstrahlung besassen, und andererseits auch grob ausgearbeitete Figuren stark und künstlerisch überzeugend wirkten. Diese Frage galt ja für alle Bereiche der Kunst, aber bei der Stammeskunst konnte dieser Aspekt offener behandelt werden. Kaum einer würde es wagen, gewisse Werke hochgehandelter Künstler als Bluff oder Pfusch zu bezeichnen – wenigstens nicht in einem gedruckten Artikel. Die afrikanischen Künstler hingegen waren, mit wenigen Ausnahmen, nicht namentlich bekannt, und so konnte es auch nicht zu einem Kult unantastbarer Halbgötter kommen. Man konnte sie auch nicht beleidigen – höchstens die Besitzer der Werke.
Die Sonne war hinter dem Schirm hervorgekommen und schien ihm ins Gesicht. Das weckte ihn aus seinen Überlegungen. Er rückte seinen Stuhl in den Schatten und machte sich daran, die letzte Examensarbeit zu lesen. Plötzlich lachte er laut auf. Eine derart hübsche Übersetzung hatte er noch nie gesehen! Der trinkfeste Studer hatte «ut Germanis metum iniceret» seinen Neigungen entsprechend statt mit «um den Germanen Angst einzujagen» mit «um den Germanen Bier einzuflössen» übersetzt. Wenn man berücksichtigte, dass für Studer Bier ein Göttergetränk war, so war das gar nicht so falsch.
Befriedigt lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und blinzelte in die Frühlingssonne. Studers geniale Fehlübersetzung hatte ihn aufgeheitert, und er verspürte ausnahmsweise Lust spazieren zu gehen. Sonst ging er tagsüber nur aus dem Hause, wenn er eine wichtige Besorgung zu erledigen hatte. Er brach sofort auf, bevor er auf seinen Entschluss zurückkommen konnte. Vor dem Haus blieb er an der Ufermauer der Limmat stehen und warf den Lachmöwen Brotstückchen zu. Die Köpfe der Männchen waren schon schwarz gefärbt – der Frühling war da.
Nachdem er die letzten Krümel verfüttert hatte, ging er flussaufwärts. Er wollte dem See entlang bis zum Zürihorn spazieren. Schon auf der Rathausbrücke bereute er seine Waghalsigkeit. Die Sonne hatte anscheinend alle Mütter Zürichs ins Freie gelockt, die nicht zur Arbeit mussten, und das waren erstaunlich viele. Die zahlreichen Steinbänke auf der Rathausbrücke waren dicht besetzt mit schwatzenden Frauen, die Unmengen an Nahrung und riesige Flaschen mit Süssgetränken mitgeschleppt hatten – was es für eine Expedition mit dem Nachwuchs eben so braucht. Einige Mütter schaukelten ihren Kinderwagen derart heftig, dass HK befürchtete, die armen Babys könnten einen Hirnschaden davontragen. Die grösseren Kinder tollten auf der verkehrsfreien Brücke herum. Keller war erstaunt, wie viele Kinder es in Zürich gab und – entgegen anderslautender Zeitungsberichte – offensichtlich nicht allesamt mit Ritalin ruhiggestellt wurden. Das übermütige Geschrei der Rangen störte ihn nicht. Er liebte Kinder und bedauerte, keine zu kennen. Was ihn beängstigte, war das Gedränge um ihn herum. Er hatte schon immer Mühe, sich in grössere Ansammlungen von Leuten zu mischen, und der Anblick der Kolosse, die in enge Trikots gestopft ihre Speckbäuche und andere Wülste zur Schau stellten, war ihm zuwider. Er musste sich zwingen nicht umzukehren. Mit zusammengekniffenen Augen überquerte er die Brücke, doch plötzlich stockte sein Schritt. Aus der Marktgasse kam ein dicklicher Mann mit flatternder, grauer Halsschlinge gerannt und winkte ihm zu. Er trug eine tomatenrote Manchesterhose und eine Fliegerjacke aus einem Armee-Outlet, die seinen Schmerbauch unbarmherzig zur Geltung brachte. Keller tat, als ob er ihn nicht bemerkt hätte, drehte sich um und wollte sich aus dem Staub machen, doch es war zu spät. Der Kerl setzte ihm nach, holte ihn rasch ein und klopfte ihm begeistert auf die Schulter. «Hoi, Jack! Ich habe gehört, dass du in Zürich wohnst, dich aber über alle die Jahre nie angetroffen. Was treibst du immer?»
«Darf ich fragen, mit wem ich es zu tun habe, ich kenne Sie leider nicht.»
«Stell dich nicht so an! Ich bin Claudio, dein Klassenkollege von Chur.»
«Tut mir leid, ich heisse Hans und bin meines Wissens nie in Chur zur Schule gegangen. Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.» Trotz dieser korrekten Antwort war Keller nahe daran, die Fassung zu verlieren. Sein Gegenüber entsprach seinem Feindbild Nummer Eins: dicklich und klobig, aufgedunsenes Gesicht, Knollennase, wulstige Lippen und eine polternde Art zu sprechen! Jedes Mal, wenn er diesem Typus von Mensch begegnete, empfand er eine unerklärliche Abneigung. Es gab noch einen zweiten Menschenschlag, den er nicht ertragen konnte: kleingewachsen, knochig, scharfe Gesichtszüge, griesgrämige Miene und schneidende Stimme. Er hatte keine Ahnung, woher diese Aversionen stammten, denn er hatte noch nie bewusst schlechte Erfahrungen mit solchen Leuten gemacht. Trotzdem musste er sich zurückhalten, um den lästigen Kerl nicht von sich zu stossen.
Dieser starrte ihn immer noch erstaunt an, fühlte aber, dass er besser nicht weiter insistierte. «Tut mir leid. Es ist immerhin eine Ewigkeit her, seit ich Jack das letzte Mal gesehen habe, und als Churer würde er kaum einen so ausgeprägten Zürcher Dialekt sprechen wie Sie. Ich muss mich getäuscht haben. Aber die Ähnlichkeit …»
Keller