Der afrikanische Janus. Duri Rungger

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Название Der afrikanische Janus
Автор произведения Duri Rungger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783858301901



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Sprung in die Wohnung noch knapp vor der honigsüssen, geschwätzigen Nachbarin vom oberen Stock retten, die ihm sonst brühwarm die Untaten der andern Hausbewohner aufgetischt hätte. Erschöpft lehnte er sich mit dem Rücken an die Wohnungstüre und beschloss, heute auf den üblichen Abendspaziergang zu verzichten.

      «Hei Jack, sieht man dich endlich auch wieder einmal?» Peter Weber hatte seinen Freund sofort erkannt, als er aus der Dreikönigstrasse in die Beethovenstrasse einbog. Mit seinem hellem Kamelhaar-Jackett und einem lose um den Hals geschwungenem, beigen Schal mit unregelmässig angeordneten orangen Tupfern stach der grossgewachsene, sportliche Mann aus der dunkel gekleideten Prozession der Tonhalle-Besucher heraus. Mit federnden Schritten schlängelte er sich zwischen den Autos durch, die auf der Suche nach einem Parkplatz die Strasse verstopften.

      Der Ausruf hatte die andern Gäste der Onyx-Bar, die dichtgedrängt unter dem Vordach des Hyatt Hotels an den Apéro-Tischchen standen und am obligaten Cüpli nippten, auf den Neuankömmling aufmerksam gemacht. Jack war oft hier anzutreffen, und viele der Stammgäste schätzten seine unterhaltsame Art und lächelten ihm zu. Bei andern, die wohl Opfer seiner spitzen Zunge geworden waren, wirkte das Lächeln gezwungen.

      Jack klopfte seinem Freund auf die Schulter: «Schön dich zu sehen, Peter! Ich war lange weg. Paris, London, New York … ich kann dir beim besten Willen nicht alle Städte aufzählen, in denen ich übernachtet habe – und keine Zeit zum Flanieren hatte.»

      «Tagsüber vielleicht, aber ich nehme an, das Nachtleben hast du nicht verpasst.»

      «Das kommt ganz darauf an, was man unter Nachtleben versteht. Jede Galerie, die etwas auf sich hält, organisiert an den Vorabenden der grossen Auktionen eine Vernissage mit Champagner und kleinen Häppchen. Jeder, der gesehen werden will, geht hin. It’s a must! Und so habe ich eben meine Abende damit verbracht, mit diesen ach so wichtigen Leuten zu diskutieren.»

      Jack bat mit einer Handbewegung um Geduld und hielt die vorbeieilende Serviererin am Ärmel zurück. «Das Übliche, bitte, Irina.» Er war gespannt, ob die aparte Russin mit den grossen Ohrringen und dem verführerischen Lächeln sich nach seiner langen Abwesenheit noch erinnern konnte, welches Getränk er bevorzugte. Kennen sollte sie ihn noch, immerhin hatten sie einmal zusammen geschlafen.

      «Taliskerrrr sec, ohne Eis.» Zumindest ihr gastronomisches Gedächtnis war fabelhaft – und sie rollte das R noch schöner als die Schotten.

      Jack nickte anerkennend. Dann wandte er sich wieder Peter zu. «Nach diesen Anlässen bleibt weder genügend Zeit noch Kraft für eine Verlängerung!»

      «Wenn du meinst, ich glaube dir das …» Peter wechselte das Thema. «Schade, dass du so lange weg warst. Du hättest sicher auch gegen diese katastrophale, als Umweltschutz getarnte fremdenfeindliche Einwanderungs-Initiative gestimmt.»

      «Moment, welche Initiative?» Jack zog verunsichert an seiner Zigarette. Er interessierte sich wenig für Politik und beteiligte sich nur selten an Abstimmungen. Dann ging ihm ein Licht auf. «Natürlich, die mit den Apfelbäumchen! Wahrscheinlich haben die meisten Leute vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr gesehen. Das Traurige daran ist, dass man heute mit Hasspropaganda eine Mehrheit für oder eher gegen alles mobilisieren kann. Ich bin bloss erstaunt, dass Leute, die sonst prinzipiell gegen alles sind, imstande waren, Ja zu stimmen.»

      «Ich mache mir Sorgen. Fast die ganze Produktion meines kleinen Betriebs ist für den Export bestimmt.»

      «Ich hoffe das Beste für dich! Den Hetzpredigern würde ich allerdings von Herzen gönnen, wenn sie auch etwas von dem Schlamassel abbekämen, das sie angerichtet haben … aber ich bin noch gar nicht dazu gekommen, meinen Whisky zu trinken!» Jack hob sein Glas und stiess mit Peter an.

      Wie üblich hatte er ungeniert und laut geredet. Sein Churer Dialekt schien nicht allen zu gefallen. Jedenfalls schossen ihm zwei ältere Herren vom Nebentisch giftige Blicke zu und hätten sich wohl ins Gespräch gemischt, wenn Jack nicht sein Glas erhoben und ihnen lächelnd zugeprostet hätte: «Auf Ihre Exportgeschäfte!»

      «Hast du gestern die Diskussion am Fernsehen über die möglichen Auswirkungen dieser Abstimmung mitgehört …», versuchte Peter das Thema wieder aufzunehmen.

      «Fernsehen? Hör mir bitte mit dieser Volksverdummungsanstalt auf.» Jack machte eine wegwerfende Handbewegung. «Die Unterhaltungssendungen mit ihren exaltierten Selbstdarstellern kannst du sowieso vergessen. Die haben offensichtlich den Regisseur einer Schmierenkomödie dritter Klasse engagiert!» Das Thema erregte Jack und er fuhr hitzig fort: «Anscheinend ist jetzt auch noch ein besonders intelligenter Sprachlehrer für die Moderatoren am Werk. Immer mehr von ihnen imitieren ihre blöden deutschen Kollegen und sagen jetzt ‘Diskusion’ und ‘Branje’, nur ‘Schiasso’ haben sie noch nicht gewagt.»

      Weiter kam der Spötter nicht. Ein riesiger Kerl hatte ihn am Kragen gepackt. «Hab ich was von blöden Deutschen gehört?»

      Jack hing in seinem Jackett und berührte den Boden nur noch mit den Zehenspitzen. Er versuchte ruhig zu bleiben: «Richtig, aber Sie haben nicht alles mitbekommen. Ich habe ‘blöde deutsche Kollegen’ gesagt, und meinte erst noch die vom Fernsehen.»

      «Na, da sind wir uns ja einig. Nichts für ungut. Trinken wir ein Bier zusammen?» Trotz des Friedensangebots liess er seinen Griff noch nicht los. Immerhin stellte er Jack wieder auf die Füsse.

      Dieser hatte keine Lust, sich mit dem Riesen zu schlagen, doch das schadenfrohe Lächeln einiger Anwesender konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Mit beiden Händen packte er das Handgelenk in seinem Nacken, duckte sich und drehte sich halb um die eigene Achse. Dann zog er den Arm des Gegners hinter dessen Rücken hoch, bis dieser vornübergebeugt vor ihm stand.

      Das Gerangel hatte einiges Aufsehen erregt, und Jack beeilte sich, es zu einem guten Ende zu bringen. «Ich trinke gerne ein Glas mit Ihnen, aber nur wenn ich bezahlen darf.»

      «Sie haben eine unwiderstehliche Art, Leute einzuladen.»

      Keller stand in seinem Wohnzimmer vor einer zierlichen Deble-Statue, einer stehenden, völlig in sich gekehrten, mädchenhaften Figur mit vorgeschobenen Lippen, welche mit weit geöffneten Augen ins Leere starrte. Für ihn war sie das perfekte Abbild einer jungen Frau, die Schweres erlebt hat. Der erhobene Kopf und die aufrechte Haltung deuteten jedoch an, dass sie sich nicht aufgegeben hatte. Bei den Senufo im Norden der Elfenbeinküste wird diese Statue bei Beerdigungen gebraucht, um die Erde fest zu stampfen, damit der Geist des Toten nicht zurückkehren kann und gezwungenermassen ins Totenreich wandert. Die schöne Tochter des Geheimbundes, wie die Figur auch genannt wurde, kümmerte sich zudem um die Burschen während der schweren Initiationszeit und tröstete sie.

      Er lächelte bei der Erinnerung an den Tag, an dem er die Statue von einer Auktion in Paris heimgebracht und seiner Putzfrau, Frau Petrovic, gezeigt hatte. Mit Entsetzen hatte sie die Figur als «nackte Madonna» bezeichnet und sich vor Schreck über ihre Ketzerei dreimal bekreuzigt. Seither war diese Statue für ihn seine «Mater dolorosa», bei der er in stummem Zwiegespräch Zuflucht und Trost suchte, wenn er sich einsam und verzweifelt fühlte.

      Heute brauchte er keinen Trost und riss sich rasch von ihrem Anblick los. Vor ein paar Tagen hatte er mit den Vorarbeiten für seine geplante Studie über die unterschiedliche Aussagekraft afrikanischer Skulpturen angefangen und brannte darauf, damit weiterzufahren. Er hatte bereits einige Skulpturen ein und desselben Stammes gefunden, die dieselbe rituelle Funktion hatten und dennoch eine sehr unterschiedliche künstlerische Qualität aufwiesen. Selbst in angesehenen Sammlungen und Museen fanden sich Skulpturen, die alt und ethnographisch wichtig und doch völlig ausdruckslos waren.

      Das war nicht weiter erstaunlich. Nicht jeder Bauer hatte die Mittel, einem bekannten Schnitzer viel Geld für ein Kunstwerk für den Hausaltar in seiner bescheidenen Hütte oder eine Maske fürs Erntedankfest zu bezahlen – und vielleicht gab sich der Künstler entsprechend weniger Mühe. Bei manchen Stämmen zwangen Geister gewöhnliche Dorfbewohner, eine Statue