Название | Seelensplitter |
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Автор произведения | Mitra Devi |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783858825872 |
Sarah spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. «Mein Gott!», flüsterte sie.
3
«Dieser Kerl ist mehr als dreist», sagte Nora.
Es war halb neun Uhr morgens. Jan und sie brüteten über etlichen Fotos, die ausgebreitet auf dem Schreibtisch lagen. Auf den einen waren Laptops, Stereoanlagen und iPods zu sehen, offensichtlich von der teuren Sorte, auf den anderen Porträts von Männern und Frauen. Der Auftraggeber ihres aktuellen Falles hatte ihnen die Bilder zur Verfügung gestellt. Er war der Ladenbesitzer eines Shops für Unterhaltungselektronik, nannte sich Elektro-Luigi und verdächtigte einen seiner Angestellten, Geräte zu stehlen und zu verhökern. Die Überwachungskamera hatte bei jedem Diebstahl eine vermummte Gestalt mit Kapuze aufgezeichnet. Der Dieb schien genau zu wissen, dass er gefilmt wurde, und wandte den Blick keinen Millimeter Richtung Kamera. Ausserdem besass er einen Schlüssel zum Laden. Zwischen zwei und drei Uhr früh schlich er jeweils zu den Auslagen, packte Handys und Computer in eine mitgebrachte Tasche und flitzte unbehelligt davon.
«Dreist ist der Täter allerdings, doch es könnte auch eine Frau sein», meinte Jan. «Die Person ist eher schmächtig. »
Nora wiegte skeptisch den Kopf hin und her. «Wenn ich mir die Bewegungen ansehe, tippe ich dennoch auf einen Mann. »
Seit einigen Tagen versuchten sie, den Einbrecher dingfest zu machen, bis jetzt ohne Erfolg. Zweimal hatten sie eine ganze Nacht in Jans Auto verbracht und das Geschäft vom gegenüberliegenden Strassenrand aus observiert. Doch ausgerechnet dann war nichts passiert. Das hatte Nora auf den Gedanken gebracht, der Ladenbesitzer könnte die Diebstähle aus irgendeinem Grund inszeniert haben, vielleicht um einen Versicherungsbetrug zu begehen. Machte allerdings auch nicht viel Sinn, auf diesen Fall zwei Ermittler anzusetzen. Das Ganze war etwas verworren und äusserst unergiebig.
«Möchtest du einen Kaffee?», fragte Jan.
Sie nickte. Jan ging in die Küche. Während er mit der neuen Espressomaschine hantierte, liess Nora ihren Blick durch das Büro schweifen. Leicht chaotisch sah es aus, wie immer. Nebst all den Fotos von Elektro-Luigi war ihr Pult überhäuft mit diversen Papierstapeln, Heften und Notizen, überall lagen Stifte, Marker und Büroklammern. Neben dem Laptop stand ein Bild ihres Vaters, auf dem er mit verschränkten Armen stolz in die Kamera lächelte – ein junger Kriminalpolizist am Anfang seiner Karriere. Noch immer hoffte sie, dass Vaters Mörder einmal geschnappt würde und sie ihren Seelenfrieden fand. Es war nicht gut, jahrelang Rache- und Trauergefühle in sich zu tragen.
Das erinnerte sie daran, sich wieder einmal bei ihrer Mutter zu melden. Diese hatte nach dem Schock die Schweiz verlassen und wohnte nun allein in einem Häuschen in der Nähe von Montpellier. Sie lebte vom Erbe ihres ermordeten Mannes, das bestimmt bald zur Neige ging, und interessierte sich für nichts anderes als für ihre Aquarellmalerei. Dass sie eine Tochter hatte, schien sie vergessen zu haben. Jedesmal, wenn Nora sie anrief, was alle paar Wochen der Fall war, wirkte sie noch eine Spur zurückhaltender und fremder. Ihr Psychiater hatte es endogene Depression genannt, doch für Nora war ihre Mutter der lebende Beweis, dass unterdrückter Schmerz einen Menschen innerlich zerfrass. Mutter hatte keine Träne geweint, als Vater erschossen worden war, sie war versteinert. Nora hatte sich in Rachephantasien gestürzt und monatelang jede Nacht geträumt, wie sie den Mörder überführte. Welche Methoden sie dabei anwandte, hätte jeden Seelenklempner in Schrecken versetzt. Sie seufzte, dann riss sie sich aus den Erinnerungen und wandte sich wieder den ausgelegten Fotografien zu.
Von der Küche her hörte sie das Zischen der Kaffeemaschine und das Pfeifen des Teekochers.
Ihr Detektivbüro war inzwischen zu einer zweiten Heimat für Jan und sie geworden. Meistens sorgte er für ihr beider leibliches Wohl. Er achtete darauf, dass der Kühlschrank immer voll und die Früchteschale mit Obst gefüllt war. Doch das würde sich vielleicht bald ändern, wenn Jan verheiratet wäre. Wollte er am Ende noch Kinder? Suchte er sich dann einen sichereren Job mit geregelten Arbeitszeiten?
«Jan, was ich dich fragen wollte –»
Er brachte ihr den Kaffee und stellte einen herb riechenden Tee vor sich, der den Duft eines Laubwaldes verströmte. Nora schaute ihn stirnrunzelnd an.
«Birkenblättertee», erklärte er, «gut für die Ausscheidung von Giftstoffen. » Er nahm einen Schluck. «Was wolltest du wissen?»
«Nach deiner Hochzeit – wird sich da beruflich etwas für dich ändern?»
«Nie im Leben», sagte er ernst. «Monika hat eine gute Stelle, ich muss nur für mich selber aufkommen. Und du bezahlst mich doch grosszügig. »
«Ja, aber Abendschichten, Nachteinsätze, Wochenenddienst, du weisst schon. Das ist dem Eheleben nicht so bekömmlich. »
«Im Gegenteil. » Er blies auf sein heisses Gebräu, nippte daran und zuckte zusammen, als er sich die Zunge verbrannte. «Unregelmässige Arbeitszeiten verhindern, dass das Zusammensein selbstverständlich wird. Wir geniessen die wenigen gemeinsamen Stunden umso mehr. Monika ist als Pflegefachfrau in der gleichen Situation wie ich. Sie arbeitet oft nachts. Du wirst mich nicht los, bis ich alt und schwabbelig bin. »
Sie winkte ab. «Dagegen tun wir was!»
«Erbarmen, Chef. Ich habe immer noch Muskelkater. »
Sie grinste.
Da klingelte es. Die Tür wurde geöffnet, leise Schritte ertönten.
«Hast du Elektro-Luigi auf heute bestellt?», fragte Jan.
Nora schüttelte den Kopf. «Wir sollten ihm erst Ende Woche einen neuen Zwischenbericht abliefern. » Sie stand auf und trat in den Empfangsraum mit den roten Sesseln. Eine Frau, zwei, drei Jahre jünger als sie, vielleicht Anfang dreissig, stand unschlüssig herum. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt, trug Jeans und unter ihrer dünnen Jacke eine helle Bluse.
«Sind Sie die Detektivin?», fragte sie.
«Nora Tabani. Und das ist mein Partner Jan Berger. » Nora zeigte auf Jan, der dabei war, die herumliegenden Fotos zusammenzuräumen. «Was können wir für Sie tun?»
Die Frau schien aufgewühlt, unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, als hätte sie in den letzten Tagen nicht viel geschlafen. «Es geht um einen Todesfall vor vier Tagen. Mein Vorgesetzter ist … ich kann es fast nicht glauben, es kommt mir alles so irreal vor. »
Nora nahm ihr die Jacke ab und hängte sie an einen Bügel. «Treten Sie doch bitte ein, und erzählen Sie von Anfang an. »
Die Frau lächelte entschuldigend. «Tut mir leid, ich bin ziemlich durcheinander. » Sie folgte Nora ins Büro, setzte sich an die andere Seite des Schreibtischs und begann: «Mein Name ist Sarah Dobler. Ich bin … ich war die Chefsekretärin von Maximilian Kowalski, dem Geschäftsführer von ‹Store & Go›, einer Lagerhausfirma in Zürich-Altstetten. » Sie machte eine Pause, um sich zu sammeln. «Ich glaube, ich brauche Ihre Dienste. »
Nora nickte ihr aufmunternd zu. «Sie erwähnten etwas von vor vier Tagen. »
«Ja. Am letzten Donnerstag feierten wir das 20-Jahr-Jubiläum auf unserer Dachterrasse. »
«Wir?»
«Alle zweiunddreissig Mitarbeiter. Ich habe das Fest organisiert, eine Bowle gemacht und Wein aufgetischt. » Sie machte eine Pause, dann sagte sie mehr zu sich selbst: «Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen. Aber so ein wichtiger Anlass ohne Alkohol – das geht schlecht. »
«Die Leute haben zu viel getrunken?», vermutete Nora.
«Viel zu viel. Vor allem Herr Kowalski hat ein Glas ums andere in sich hineingeschüttet. Er trinkt oft und ist sich das gewöhnt… » Sie merkte nicht, dass sie in die Gegenwartsform gerutscht war. «… Auch bei anderen Gelegenheiten verhält er sich hemmungslos oder wird ausfällig. Er ist ruppig, hat aber einen