Chassidismus. Susanne Talabardon

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Название Chassidismus
Автор произведения Susanne Talabardon
Жанр Документальная литература
Серия Jüdische Studien
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846346761



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|36|und die dämonischen Kräfte der Anderen Seite (סיטרא אחרא/Śitrá Achrá) von den Menschen fernzuhalten. Praktiken der Ba‘alé SchemNeben der Durchführung wirkungsvoller Exorzismen und dem Anfertigen von Amuletten gehörten (heilpraktische) Medikationen, wirkmächtige Gebete, Beschwörungen oder mantische Fähigkeiten wie Metoposkopie und Chiromantik zum Standardrepertoire dieser Experten. Sie wurden nicht nur bei physischen Problemen konsultiert, sondern wirkten, soweit es ihre oft ortsunabhängige Tätigkeit zuließ, auch als spirituelle Führungspersönlichkeiten.

      Etliche der Ba’alé Schem legten ihr Wissen auch schriftlich nieder, sodass vor allem im 18. Jahrhundert eine ganze Reihe äußerst einflussreicher Handbücher der Kabbala Ma’assit ihren Weg in die Druckerpressen fanden. Zu diesen Werken gehören beispielsweise der Śefer Amtachat Binjamin (ספר אמתחת בנימין, Wilhermsdorf 1716), der Śefer Tol’dot Adam (ספר תולדות אדם, Zolkiew 1720) des bekannten Ba’al Schem Jo’el Heilprin von Ostróg (starb 1713), und der Śefer Schem Tov qatan (ספר שם טוב קטן, Zolkiew 1781) des Benjamin Beinisch Ba’al Schem Tov ben Jehuda Leib ha-Kohen von Krotoszyn (ca. 1670 bis ca. 1725).

      3.4. Der Begründer des Chassidismus als Ba’al Schem

      Israel ben Eli’eser Ba’al Schem TovBei Israel ben Eli’eser, dem Ba’al Schem Tov (um 1700 bis 1760), der von der chassidischen Historiographie als Begründer der Strömung betrachtet wird, finden sich beide Phänomene in einer Person zusammen. Wie bereits die Bezeichnung Ba’al Schem Tov erkennen lässt, wirkte Israel ben Eli’eser erfolgreich als ein ‚praktischer Kabbalist‘. Dies belegen Steuerlisten aus den Archiven der polnischen Adelsfamilie Czartoryski, auf deren Grund und Boden Israel ben Eli’eser lebte. Gleiches gilt für die Tatsache, dass der Ba’al Schem Tov sogar eigens Schreiber zur Anfertigung seiner Amulette beschäftigte. Außerdem diente er in reiferem Alter (ca. 1740–1760) als Gemeindekabbalist von Międzyboż, weshalb er im Haus der jüdischen Gemeinschaft miet- und steuerfrei leben durfte. Ein solcher Gemeindekabbalist war beauftragt, durch das Studium mystischer Schriften und entsprechende Gebete himmlische Kräfte auf die fragliche Gemeinde herab zu lenken. Dem Ba’al Schem Tov traute man offensichtlich nicht nur zu, Amulette für unfruchtbare Frauen auszufertigen, sondern auch kabbalistische Studien- und Gebetszirkel effektiv anzuleiten.

      Eine der Legenden über Israel ben Eli’eser, enthalten in den Schivché ha-Besch“t (שבחי הבעש״ט, hebräische Version, Kopust 1815), der quasi kanonischen Sammlung von Erzählungen über ihn |37|und seinen Kreis, beschreibt die frühe Phase seines Wirkens in den geradezu klassischen Farben eines Asketische Praxis chassidischer Meisterasketischen Kabbalisten ‚alter Schule‘:

      Und es geschah danach, dass der Rav, unser Lehrer und Meister Gerschon, eine Dorfpacht für ihn [den Ba’al Schem Tov] mietete, damit er sich dort ernähren könne. Dort erwarb er etliches an Vollkommenheit. Er baute sich nämlich dort ein Einsiedlerhaus im Wald. Dort aber betete und lernte er alle Tage und einen Großteil der Nächte, die ganze Woche über. Nur von Schabbat zu Schabbat kam er zu seinem Haus und dort hatte er auch weiße Schabbatkleider, ebenso ein Waschhaus und ein Tauchbad. Seine Frau aber befasste sich mit der Ernährung und der Ewige sandte Segen und Erfolg auf ihrer Hände Werk. Sie empfingen Gäste, die sie in großer Ehrerbietung speisten und tränkten. Wenn aber ein solcher Gast kam, dann schickte sie nach ihm; er aber kam und bediente sie. Niemand aber wusste etwas von ihm. (Grözinger, Geschichten I, S. 26)

      Ein ähnliches gilt jedoch auch für chassidische Meister späterer Generationen, wie beispielsweise dem quasi-Schöpfer des polnisch-galizianischen Chassidismus, Elimelech Weissblum von Leżajsk (1717–1786/87), von dem die Legende zu berichten weiß:

      Unser Meister Elimelech, sein Andenken sei zum Segen, pflegte zwischen den Bäumen zu sitzen, wo es Ameisen gab. Die bissen ihn, bis sein Körper abgemagert war von den Kasteiungen. Und die Ameisen hatten an ihm nichts mehr zu beißen. Hat er sich angeschrien: Melech, Melech, du bist es nicht einmal wert, dass dich die Ameisen essen, so sündig bist du! (Nifla’ot Elimelekh, S. 3)

      Zwischen der kabbalistisch geprägten Frömmigkeit alter Prägung, den Chassidim ‚alten Stils‘, und dem osteuropäischen Chassidismus zeigt sich eine dialektische Beziehung. Erstere waren aufgrund ihrer restriktiven asketischen Lebensart nicht imstande, nennenswerten Einfluss auf eine breitere Anhängerschar auszuüben – und sie strebten wohl auch nicht danach. Die Zaddikim neuer chassidischer Färbung radikalisierten diese Anforderungen noch und vergrößerten somit den Abstand zu den einfachen Menschen – gleichzeitig entwickelten sie jedoch den exemplarischen Frommen zu einer Mittlerfigur weiter, wodurch es ihnen gelang, die jüdische Normalbevölkerung mit den extremen Idealen der popularisierten Kabbala zu verbinden (vgl. Katz, Tradition, S. 236–239).

       [Zum Inhalt]

      |39|4. Die Erste Generation: Der Ba’al Schem Tov und sein Kabbalistenzirkel (bis 1760)

      Elior, Rachel, The Mystical Origins of Hasidism, Oxford, Portland 2008.

      Etkes, Immanuel, The Besht: Magician, Mystic, and Leader, Hanover, London 2005.

      Grözinger, Karl Erich (Hg.), Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Besch“t, 2 Bde., Wiesbaden 1997.

      Ders., Jüdisches Denken: Theologie, Philosophie, Mystik, Bd. 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus, Frankfurt/M., New York 2005, S. 709–807.

      Rosman, Moshe, Founder of Hasidism: A Quest for the Historical Ba’al Shem Tov, Berkeley 1996.

      Weiss, Joseph, Some Notes on the Social Background of Early Hasidism, in: ders., Studies in East European Jewish Mysticism and Hasidism, hg. von David Goldstein, London, Portland 1997, S. 3–26.

      Die chassidische Strömung selbst war es, die in Israel ben Eli’eser Ba’al Schem Tov (Akronym Besch“t) ihren Begründer sah. Die moderne Forschung ist ihr, wenn auch nicht ohne Bedenken und einiges Zögern (vgl. Rapoport-Albert, Hagiography with Footnotes), darin gefolgt. Die Schwierigkeiten, die sich aus dieser Zuschreibung ergeben, gründen zum einen darin, dass zum Zeitpunkt des Todes von Israel ben Eli’eser außer einem Zirkel um ihn versammelter Gelehrter nichts von einer Reformbewegung sichtbar war. Zum anderen mangelt es beträchtlich an belastbaren Informationen über das Leben und Werk des Ba’al Schem Tov.

      4.1. Hagiographie mit Fußnoten

      Hagiographie und BiographieIsrael ben Eli’eser hat, von wenigen Briefen abgesehen, keine schriftlichen Äußerungen hinterlassen. Der Großteil dessen, was über seinen Werdegang und sein Leben in Erfahrung zu bringen ist, entstammt hagiographischen Legenden und muss deshalb methodisch sorgfältig auf etwaige historische Kerne hin überprüft werden. Da der Ba’al Schem Tov seine Lehre nicht systematisch niedergelegt hat, steht die Forschung bei der Darstellung seines Denkens ebenfalls vor Problemen: In diesem Fall ist man an verstreute Nachrichten gewiesen, die seine Schüler und Anhänger in ihre eigenen Werke inkorporierten.

      |40|Exkurs: Biographische Rekonstruktionen aus hagiographischen Legenden

      Es ist in der Forschung höchst umstritten, ob aus (hagiographischen) Erzählungen halbwegs verlässliche biographische Angaben herausgefiltert werden können. Die Spannbreite an diesbezüglichen Meinungen reicht von großer Naivität bis hin zu völliger Skepsis (vgl. Rosman, Founder). Allerdings verfügen selbst diejenigen Autoren, die sich der Hagiographie gegenüber aufgeschlossen zeigen, über kein hinreichendes methodisches Instrumentarium. Manche (Assaf, Regal Way, S. 4) verweisen auf einen „historischen Kern“, den sie irgendwie extrahieren wollen; andere (Dynner, Men of Silk, S. 20–21) suchen nach Aussagen, die für den betroffenen Zaddik wenig schmeichelhaft und daher kaum erbaulich zu nennen sind.

      Hagiographische Texte – insbesondere, wenn sie neu entstehenden religiösen Strömungen entstammen – haben eine paradoxe Aufgabe: Einerseits muss es ihnen darum gehen, die ethischen oder religiösen Neuansätze ihrer Trägergruppe zu verdeutlichen.