Chassidismus. Susanne Talabardon

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Название Chassidismus
Автор произведения Susanne Talabardon
Жанр Документальная литература
Серия Jüdische Studien
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846346761



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als Mitunterzeichner einer halachischen Anfrage an Me’ir von Konstantinów fungierte, und – mehr noch – der Umstand, dass er im Antwortschreiben des Rabbiners als Kopf einer Gruppe kabbalistischer Asketen geehrt wird (vgl. Rapoport, Majim Chajim, Joré De’a 27, S. 50–52). Vor oder während jener Jahre muss er zudem in Kontakt mit Gerschon von Kutów gekommen sein, den er in seinen Briefen als Schwager tituliert. Die Schivché ha-Besch“t stilisieren die Begegnung des Gerschon mit dem Mann seiner Schwester als ein zwischenmenschliches Desaster, in dem der |44|als ungelehrter Trottel verkannte Ba’al Schem Tov schließlich in die Einsamkeit verbannt wird, um Gerschons elitäre Familie nicht weiter zu desavouieren:

      Nach der Hochzeit aber wollte der Rav, unser Lehrer und Meister Gerschon, mit ihm [dem Besch“t] lernen: Vielleicht würde er doch einige Worte der Tora empfangen. Aber er [der Besch“t] verbarg die Sache, als ob er nicht in der Lage sei, irgendetwas zu empfangen. Da sagte der Rav zu seiner Schwester: Siehe, tatsächlich ist mir dein Mann eine große Schande. Wenn du dich von ihm scheiden lassen willst, dann gut. Wenn nicht, will ich dir ein Pferd kaufen und du reist mit ihm fort, um irgendwo in der Fremde zu siedeln. Denn ich kann die Schande deinetwegen nicht ertragen. Sie aber stimmte dieser Sache zu, und sie gingen, wohin sie gingen und er setzte ihr einen Ort fest, dort zu siedeln, und er ging, um in der Einsamkeit zu sein zwischen hohen Bergen, die man ‚Gebirg‘ nennt. Dies aber war ihre Lebensgrundlage, dass sie zwei oder drei Mal in der Woche auf dem Pferd zu ihm kam mit einem Gespann, dann grub er Lehm und sie brachte den in die Stadt und davon hatte sie eine Lebensgrundlage. Der Besch“t aber fastete stets das große Unterbrechungsfasten [Wochenfasten]. Wenn er aber essen wollte, dann grub er ein Loch in die Erde und gab dort Mehl und Wasser hinein und es wurde in der Sonne gebacken. Dies war sein ganzes Essen nach seinem Fasten und alle Tage verbrachte er in Einsamkeit [התבודדות/Hitbodedut]. (Grözinger, Geschichten I, S. 22)

      Was die Verbergung der spirituellen Fähigkeiten hinter der Fassade eines Ignoramus betrifft, so kann man ihr mit ebenso begründetem Misstrauen begegnen wie dem kompletten Rückzug in die gebirgige Einsamkeit. Passt doch die dramatische Offenbarung wunderbarer Fähigkeiten eines verkannten Genies zu gut in vorfindliche legendarische Schemata. Gleiches gilt für das zeitweise Einsiedlerleben (Hitbodedut) zum Zwecke der Vorbereitung auf eine öffentliche Wirksamkeit, das nach dem Vorbild Lurias modelliert zu sein scheint. Andererseits schreibt die Erzählung dem Ba’al Schem Tov asketisch-mystische Verhaltensweisen zu, die für Mitglieder kabbalistischer Zirkel jener Zeit durchaus typisch waren.

      Kabbalistenzirkel von KutówGut belegt ist allerdings die Existenz von elitären Gelehrtenkreisen in Brody, Kutów und schließlich auch in Międzyboż. Zum Zirkel von Kutów, zu dem sich Gerschon und wohl auch der Ba’al Schem Tov hielten, gruppierten sich Kabbalisten, die später als Gefährten des Besch“t galten, wie Menachem Mendel von Bar oder Nachman von Kosów (vgl. Weiß, Studies, S. 5). Der Brief des Israel ben Eli’eser an Mosche von Kutów, ebenfalls ein Mitglied jenes erlauchten Kreises, der sich eingehend mit der Heilkunde befasst, deutet auf dessen Doppelfunktion als Ba’al Schem und Mystiker. Bereits während seiner Ansiedlung in Tłuste war Israel ben Eli’eser demzufolge als theoretischer und praktischer Kabbalist tätig und anerkannt (Rosman, Founder, S. 116–117).

      |45|4.3. Der etablierte Mystiker: In Międzyboż

      Der Ba’al Schem in MiędzybożAls seine letzte und bedeutendste Wirkungsstätte fungierte indessen die podolische Stadt Międzyboż. Diese war im Jahr 1740, als der Besch“t sich dort niederließ, wieder zu einer der größten Städte der Region angewachsen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung war in jenen Jahren jüdisch, sodass Międzyboż auch eine der größten jüdischen Gemeinden im östlichen Teil der polnischen Adelsrepublik beherbergte. Der Gemeinderat (Kahal/קהל) war intakt und – wie auch andernorts üblich – oligarchisch von der relativ schmalen reichen jüdischen Oberschicht dominiert (vgl. Rosman, Founder, S. 69–82). Eben dieser Kahal entschloss sich im Jahre 1740, Israel ben Eli’eser als führenden Kabbalisten der Gemeinde zu beschäftigen: ein Amt, das der Ba’al Schem Tov bis zu seinem Tode 1760 innehatte.

      Der Kabbalistenkreis um den Besch“tDer überregionalen Bedeutung von Międzyboż angemessen, versammelte Israel ben Eli’eser im Laufe der Zeit, neben den von der Gemeinde alimentierten Gelehrten, einige sehr renommierte Talmudisten und Kabbalisten um seine Person. Die Gruppe umfasste selbständige und vom Ba’al Schem unabhängige fertige Persönlichkeiten ebenso wie Männer, die man tatsächlich als Anhänger seiner Lehre klassifizieren würde (vgl. Jakob Josef von Połonne).

      Der Kreis der Kabbalisten um den Ba’al Schem Tov zählte etwa 15 bis 20 Personen. Zu denjenigen Mitgliedern, die eher als Kollegen oder Konkurrenten des Besch“t zu kategorisieren wären, gehörten Pinchas von Korzec (1726–1791) oder Nachman von Horodenka (starb ca. 1780).

      Exkurs: Konkurrierende kabbalistische Studienzirkel im Umfeld des Besch“t

      Pinchas von KorzecPinchas von Korzec, geboren in Szkłów, entstammte einer angesehenen Gelehrtendynastie. Er hatte demzufolge in weiten Teilen der jüdischen Tradition eine sorgfältige Ausbildung erfahren. Pinchas ließ sich im wolhynischen Korzec nieder, wo er einen Schülerkreis um sich sammelte, der sich dem Studium der rabbinischen und kabbalistischen Tradition und einer heiligen Lebensführung verschrieb. Es heißt, dass er durch seinen Vater, Abraham Abba Schapiro, auf den Ba’al Schem Tov aufmerksam wurde, der ihn von seiner extrem asketischen Lebensführung abbrachte (vgl. Etkes, Besht, S. 191). Angesichts der Tatsache, dass sich beide Männer nur etwa zwei bis drei Male begegneten, scheint es nicht angemessen, von einer Lehrer-Schüler-Beziehung zu sprechen. Die beiden waren eher Kollegen, die einige wesentliche Grundsätze kabbalistischer Lebensführung und Lehre teilten (Weiß, Studies, S. 8). Auch nach |46|dem Tode des Besch“t wirkte Pinchas weiter als charismatische Integrationsfigur eines kabbalistischen Zirkels. Bezeichnender Weise steht am Lebensende des Pinchas von Korzec dessen Entschluss, eine Pilgerfahrt nach Zefat zu unternehmen. Dies Projekt konnte er allerdings nicht mehr realisieren: Er starb kurz nach Antritt der Reise im wolhynischen Szepetówka.

      Nachman von KosóvNachman von Kosóv, wie der Ba’al Schem selbst ein Mitglied des Zirkels von Kutów, war anders als die meisten seiner Kollegen ein wohlhabender Mann, ein erfolgreicher Getreidehändler. Wie Pinchas von Korzec oder Jakob Josef von Połonne, kultivierte er eine strenge Askese nach lurianischem Vorbild. Neben seiner Tätigkeit als Geschäftsmann wirkte er als Wanderprediger (Maggid). Wie Pinchas, so soll auch Nachman einen eigenen kabbalistischen Zirkel um sich geschart haben. Dieser habe sich als Chavura Qadischa (חבורה קדישה; Heilige Genossenschaft) bezeichnet (Weiß, Circle, S. 27). Ihre Mitglieder galten einander als B’né Chavura Qadischa (בני חבורה קדישה; Söhne der Heiligen Genossenschaft) bzw. Ansché ha-Chavura (אנשי החבורה; Männer der Genossenschaft). Verschiedentlich ist von Spannungen die Rede, die es zwischen ihm und dem Besch“t gegeben haben soll. Die Schivché ha-Besch“t, die Nachman (wie anderen führenden Mitgliedern des kabbalistischen Zirkels von Kutów) einen eigenen kleinen Zyklus von Legenden widmen, heben sein außerordentlich machtvolles Gebet hervor (vgl. Grözinger, Geschichten I, S. 117–118).

      Abb. 3: Das Entstehungsgebiet des Chassidismus

      Der Besch“t als Begründer des Chassidismus?Der Ba’al Schem Tov wird also gerade nicht als unbestrittenes Haupt eines ungewöhnlichen Kreises von Kabbalisten greifbar. Er profilierte sich kaum als eine rebellische Lichtgestalt, sondern erwies sich eher als eine in das bestehende System gut integrierte Person. Um so dringlicher stellt sich die Frage, inwiefern man die Entstehung einer derart revolutionierenden Strömung, wie sie der osteuropäische Chassidismus gewesen ist, auf ihn zurückführen kann.

      Gewöhnlich wird in diesem Kontext auf die außerordentliche charismatische Ausstrahlung des Israel ben Eli’eser verwiesen, welche Menschen in ihren Bann schlug, die aus weit angeseheneren Familien stammten und zudem anerkannte Mitglieder der gelehrten Elite darstellten (Etkes, Besht, S. 78). Denkbar wäre auch, dass der Ba’al Schem Tov ungewöhnliche Fähigkeiten als Heiler und Exorzist an den Tag legte. Vereinzelt finden sich in der Tat – auch