Bildungsethik (E-Book). Thomas Detjen Philipp

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Название Bildungsethik (E-Book)
Автор произведения Thomas Detjen Philipp
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783035515695



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dem Aspekt der Nützlichkeit bewährt sich die Reduktion des werdenden Ich auf Ziffern. Die Outputsteuerung und der von ihr bewirkte massive Vertrauensschaden sind durch nichts zu rechtfertigen. Ob Münchs «Kritische Theorie mit den Mitteln empirisch-analytischer Soziologie»44 die Bildungspolitik aufweckt?

      Eigenstand wächst an Auseinandersetzung. Dass Schüler denken lernen, ist für Jürgen Kaube, Herausgeber der FAZ, Sinn der Schule: einen Schritt zurücktreten, nicht mitmachen, Selbständigkeit. Denken setze «Umstände, auf die man sich verlassen kann», voraus: Wissen über die Welt. Angeeignetes, nicht ergoogeltes! Probleme lösen könne, wer viele ähnliche gesehen, also Sinn für wesentliche Faktoren und Irrwege habe. Denken verdanke sich «der Überwindung von Schwierigkeiten oder wenigstens den Kräften, die sich beim Versuch entwickeln, Schwierigkeiten zu überwinden». Es mache Bürger «wach, wahrnehmungsfähig, kenntnisreich».45

      Zum Teil bedeute Denken Elementares zu beherrschen: Lesen, Schreiben, Mathematik und Sprachen forderten Arbeit, Ausdauer und Übung. Zum Teil – Naturwissenschaft, Religion, Geschichte – bedeute es, «bei den Sachen (zu) verweilen, damit sie etwas sagen». Der Lehrer solle «Schwierigkeiten interessant machen», wozu er in der Themenwahl frei sein müsse. Seine Autorität, zentraler Faktor des Lernens, beruhe darauf, den Sinn des Lernens zu verkörpern.46

      Lernen setze klare Fragen voraus; dann sei es «kognitiv ergiebige Freude und ein Feld voller Entdeckungen». Widersprüchliche Ziele (gleiche Chancen für alle, zugleich jedem einzelnen gerecht werden); Ökonomisierung und Digitalisierung; reformpädagogisches Denken nur vom Schüler, nicht auch von Fragen und vom Lehrer her; nivellierender Zentralismus; überfüllte Lehrpläne und Gleichgültigkeit gegenüber Autorität beschädigten das Lernen. Als wäre Multitasking das Lernziel, unterbrächen ständig fremde, offenbar wichtigere Ansprüche das Denken! So wirke die Schule nur «als Vorstufe zum Eigentlichen». Ähnlich verdecke in der Hochschulpolitik die Exzellenzinitiative widersprüchliche Ziele durch «Tabellenbewusstsein», blindes Vertrauen in Ziffern und Pläne. Alles zugleich wolle sie verwirklichen: «Schulen für die Hälfte eines Jahrgangs und Exzellenz, Massenaufstieg und Leistungsorientierung, Berufsbildung und Wissenschaft»: eine «Lebenslüge».47

      Die Schule könne weder die bessere Gesellschaft noch die «Abschaffung der Unterschicht» leisten. Sinn habe die Schule nur eigenständig, als Gegenüber, nicht als Mittel der Gesellschaft. Schüler seien vor der Gegenwart zu schützen, weil sie es als Neue, Unwissende noch nicht mit ihr aufnehmen könnten. Humanistisch, mit Hegel und Arendt: Leichter als lebensweltliche ermöglichten fremde Themen unbefangene Auseinandersetzung. Mehr als Weltbezug wecke der Eindruck, eine Aufgabe sei lösbar, die Neugier. Mehr als von Ressourcen wie Geld, Zeit und Kraft, sogar als vom Unterricht hänge Lernen von der Einstellung zur Schule ab, von Kommunikationsstil und Risikowahrnehmung, bei Schülern und Eltern. Nötig sei also Erziehung von Menschen, nicht Durchschnitten; Dezentralisierung; Lehrerbildung für Personen, nicht nur Funktionen.48

      Auch wo Kaube empirische Bildungsforschung, PISA und die «Verlogenheit der Kompetenz-Orientierung» verurteilt, setzt er aufs sachliche Argument. Doch «die Bildungspolitik lernt nicht, sie gibt sich nicht einmal Mühe, aus lokalen und regionalen Erfolgen wie Misserfolgen zu lernen» Aber – warum? Auf Krautz’ und Münchs These, statt Argumenten steuerten Ziffern, Lobbying und Propaganda von OECD & Co die Bildungspolitik, geht Kaube nicht ein. Ist «Verlogenheit» ein kognitives Problem, ein Irrtum, was Schule sei und könne – oder eine normative Haltung, Verengung der Sprache aufs Zählbare, so dass Sinnargumente nicht mehr gelten?49

      An guten, sorgfältig entwickelten Argumenten fehlt es nicht; die Liste ist nicht vollständig. Doch alle greifen ins Leere. Keines erreichte eine politische Debatte über den sich bildenden Menschen und die Ziele des Bildungswesens. Nichts konnte Kultusminister, Erziehungsdirektoren, Universitätsrektoren oder gar die OECD zu einem öffentlichen Widerspruch bewegen, der eine Debatte eröffnet hätte. Die Exekutive antwortet nicht. Sie will nicht: strategisches Schweigen. Die Macht lässt die Kritik abprallen. Sie hat das Prinzip der beständigen Verantwortung gegenüber der Kritik aufgegeben, die seit der Aufklärung den Staatsbegriff bestimmte. Das effiziente Funktionieren tritt an die Stelle des Gesprächs über die Ziele von Bildung. Jene, die das Bildungswesen steuern, versuchen nicht mehr, die Gesellschaft durch einen Konsens über Ziele zusammenzuhalten. Regieren mit vollendeten Tatsachen: Lenzens Postdemokratie. Das Funktionieren hat obsiegt. «Taten, die nicht von Reden begleitet sind, werden unverständlich. Ihr Zweck ist, durch Unverständlichkeit zu schockieren, oder durch vollendete Tatsachen Verständigung zu sabotieren. Als solche sind sie verständlich, sie lehnen das Reden und Sprechen ab, und ihre Verständlichkeit ist der Ablehnung geschuldet; was wir verstehen, ist die zur Schau getragene Stummheit.»50

      Eine Ethik, die der Knechtung des sich bildenden Menschen durch wirtschaftliche und zentralistische Interessen reflektiert, gibt es kaum in Bruchstücken; eine Ethik der Steuerung von Bildungssystemen in einer zusammenwachsenden Welt noch gar nicht. Die Wissenschaften, die auf die Frage nach ihr stossen müssten, Pädagogik, Politologie, Philosophie, Psychologie und Theologie, vermeiden peinlich, das Bildungssystem und seine Steuerung mit ethischen Massstäben zu konfrontieren. Eine eingeschüchterte Wissenschaft wagt nicht, sich mit den neuen Machthabern anzulegen.

      Eine ausdrückliche Bildungsethik betreibt der Kreis um die Theologin Marianne Heimbach-Steins. Er will Bildung als Menschenrecht begründen und Kriterien zu seiner Umsetzung vorlegen. Im Mittelpunkt steht das Gleichheitsideal; es misst die Bildungschancen der Arbeitertochter an jenen des Anwaltssohns. Diese Sicht identifiziert sich mit dem Aussenblick auf das werdende Ich. Aus der Perspektive zentraler Planung: Demografie und Armut forderten eine Bildungspolitik, die das Humankapital ausschöpfe. Deutschland müsse die «immer weniger werdenden Kinder umso besser bilden und ausbilden, um das Land wettbewerbsfähig zu halten» und «künftige Generationen von mündigen, kritischen und selbstbewussten Bürgern gewährleisten».51 In dieser Reihenfolge. Der Widerspruch zwischen dem blossen gebildet Werden des Ich und seiner Mündigkeit bleibt unbemerkt. Eine Titelseite52 zeigt eine achtspurige Autobahn. Bild des werdenden Ich? Oder der Faszination zentraler Steuerung?

      Bildungssysteme sind normative Phänomene: Sie unterstellen das werdende Ich Zielen. Diese Norm des Gebildeten, ihr ureigenes Geschäft, reflektiert diese Ethik nicht. Sie bezieht den Menschenrechtsgedanken nur auf die Gleichheit der Chancen, nicht auch auf die lebendige Erfahrung des Ich, sich eigenständig zu bilden. Das Bekenntnis zu Entfaltung der Identität und Verantwortung als Bildungsziele53 genügt als Gegengewicht gegen den zentralistischen Mainstream nicht. Entwickelt Bildung für die Innenperspektive des werdenden Ich keine eigenständige Sprache, wirkt sie entfremdend. Hier liegt keine eigentliche Bildungsethik, sondern eine Gerechtigkeitsethik in Bildungsfragen vor. Die ihr Recht hat, aber etwas anderes ist.

      Indem sie nur von Rechten sozial Benachteiligter spricht, legitimiert Heimbach-Steins die zentrale Steuerung, die sie durchsetzt. Heimbach-Steins, zum Teil auch ihre Schüler, veröffentlichen bei Bertelsmann. Dem Konzern, einem Verbündeten der OECD, gefällt natürlich, das Wort «Bildungsethik» so zu besetzen, dass es sich nicht auf die Steuerung des Bildungssystems bezieht. Und die «Sozialethik der Bildung», welche «die strukturellen, politischen und institutionellen Rahmenbedingungen normativ zu beurteilen» habe, liefert. Der Bildungsbegriff von PISA sei nur «angeblich funktionell»; das Testen der Lesefähigkeit zeige, dass es nicht speziell um wirtschaftliche Interessen gehe. Eine kritische Reflexion der zeitgenössischen Bildungspolitik wird allenfalls von fern angedeutet,54 ohne sich mit ihren zerstörerischen Seiten anzulegen. PISA, wird wie ein Mantra wiederholt, habe «Bildung als Thema der Menschenrechte entdeckt». Bildungsgerechtigkeit sei die soziale Frage der Gegenwart; sie «stecke den sozialethischen Horizont ab».55 Zu einer politischen Ethik würde passen, darüber nachzudenken, wer sie warum unterstützt, und inwiefern sie den Mächtigen in die Hände spielt.