Bildungsethik (E-Book). Thomas Detjen Philipp

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Название Bildungsethik (E-Book)
Автор произведения Thomas Detjen Philipp
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783035515695



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und fielen damit, dass auch die Ziele der vernünftigen Kritik unterlägen. Nida-Rümelin packt die Reformen an ihrem Vernunftbegriff. In der Tat setzt die ökonomische Interpretation aller Lebensbereiche die These Gary Beckers voraus, alles menschliche Verhalten könne «betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen maximieren».10

      Welche Bildung braucht die Wirtschaft? Diese Frage stellte 2016 eine Berner Tagung. Mit der Pointe, dass fünf hohe Kader der Wirtschaft darlegten, dass diese die stromlinienförmigen, angepassten Bologna-Absolventen gar nicht brauchen kann, da menschlich unreif und unerfahren in eigenständiger Verantwortung. Obwohl die Reformen im Namen der Wirtschaft durchgedrückt worden waren!11 Der Verfasser hat hier seine Kritik der Reformen auf Kant gestützt: Die Instrumentalisierung des Werdens junger Menschen für wirtschaftliche Zwecke verletze deren Würde. Der kategorische Imperativ erfordere zwingend, das selbstgesteuerte Werden des Ich ins Zentrum des Bildungswesens zu stellen.

      Gegenangriff. Als einziger Kritiker findet der Philosoph Konrad Paul Liessmann in den Medien breit Gehör. Er besteht auf philosophischer, nicht bloss ökonomischer Sprache. «Der Mensch begreift sich seit der Renaissance als Wesen, das sich selbst entwerfen kann. Da ist es interessant zu fragen, nach welchen Kriterien wir uns entwerfen. Was sind die Ziele unserer Bildung?» Der Mensch sehe sich nicht mehr als unfertiges Wesen, «das sich entfalten, entwickeln und seine Talente pflegen soll, sondern als defizitär, auf allen Ebenen verbesserungsbedürftig». Nun werde optimiert, mit dem Ziel eines perfekten, transhumanen Wesens, «das reibungslos funktioniert und dem alles Menschliche fremd geworden ist. Doping in seinen Varianten zeigt, wie weit wir es bringen können.» Doch indem «ich das Beste anstrebe, habe ich mir eine Garantie für Frustration gegeben. Das Beste gibt’s nicht. Ich werde immer das Gefühl haben, zu scheitern. Ich habe einen Fehler gemacht, bin nicht der beste Vater. In der tollen Privatschule, für die ich viel zahle, passieren Dinge, nach denen mein Kind weinend nach Hause kommt. Gleichzeitig fordern wir die inklusive Gesellschaft, die alles, was anders und nicht optimal ist, freudig integrieren soll. Ich kann nicht sagen, nur das Beste zählt, und gleichzeitig fordern, dass jeder sein Herz ganz weit öffne für alle, die den optimierten Konzepten nicht entsprechen. Der Widerspruch muss in permanenten Selbstbetrug treiben.»12

      Die heutige Bildungspolitik sei Ideologie ohne Inhalt. «Das Bekenntnis zur Reform ist die Ideologie unserer Tage. (Es) ersetzt alle Programme, Ideen und die Moral. Tugendhaft ist, wer Reformbereitschaft signalisiert, einem Laster verfallen, wer Reformen verweigert. Nachweisen zu müssen, ob und wenn ja wie reformiert werden soll, wäre wahrlich zu viel verlangt. Eine Reform ist stets dringend geboten, weil Reformen stets dringend geboten sind.» Liessmann trifft die Flucht nach vorn genau. Doch bleibt unklar, was sie motiviert. Ohne Inhalt findet das Ich nicht die Orientierung im Unübersichtlichen, die Ideologien attraktiv macht.

      Bildung als formale Kompetenz zu fassen, an beliebigen Inhalten zu erwerben, verleugne die Neugier. «Kinder und Jugendliche werden um die Faszination gebracht, die von einem Thema, einem Namen, einer Frage ausgehen kann.» Bildung gründe im Verstehen der überlieferten Wahrheit; sie sei ein «zweckfreies, zusammenhängendes, an den grossen Kulturen ausgerichtetes Wissen, das befähigt, einen Charakter zu bilden» und «Freiheit gegenüber den Diktaturen des Zeitgeistes gewährt». Ja: ohne Vokabeln, Grammatik, Wissen keine Sprachfähigkeit. Aber die Zuspitzung überzieht. Man lernt Mathematik oder Latein auch, um klar denken zu lernen. Wissen und Fähigkeit (Kompetenz) wachsen miteinander. Auch Liessmann muss schliesslich «Techniken und Fähigkeiten» fordern.13

      Bildung sei der «Versuch, Menschen zum Menschsein zu begaben»; ihre Ziele seien «Eingliederung in eine vorgegebene Welt» und «Formung der mündigen Person». Sprachlich, also auch gedanklich, ist der Mensch hier nur Objekt; die Eigendynamik des sich bildenden Ich verschwindet. – Der Vielzahl der Sichtweisen, den Anstrengungen des Dialogs steht Liessmann unversöhnt gegenüber. «Wer Teamfähigkeit, Flexibilität und Kommunikationsbereitschaft als Bildungsziele verkündet, weiss schon, wovon er spricht: von der Suspendierung jener Individualität, die einmal Adressat und Akteur von Bildung» war: Teamfähigkeit, mit Nietzsche, als Verlust an Selbstsein. Polemik gegen die Achtundsechziger zeigt den Wunsch, die Autorität des Lehrers zu restaurieren. Eine Vision für das pluralistische 21. Jahrhundert ist das nicht. Kein Wunder, dass resignierte Töne fallen. Dabei wäre alles ganz einfach lautet der Refrain eines Buchs: ein Irrealis. Die fremden Regeln haben gesiegt. «Viel wäre gewonnen, wenn man sich mit Schiller hin und wieder daran erinnerte, was Freiheit und Wissenschaft einmal miteinander zu tun gehabt hatten.»14

      Not for profit: Why democracy needs humanties. Die Philosophin Martha Nussbaum zeigt, dass das Bildungssystem der USA und Indiens hinter den Erfordernissen der Demokratie immer weiter zurückbleibt. «Wie steht es um die Erziehung zur Demokratie? Sehr schlecht, befürchte ich.» Denn «überall haben die Erfordernisse des Weltmarkts dazu geführt, dass naturwissenschaftliche und technische Kenntnisse als Kernkompetenzen gelten, während Kunst und Geisteswissenschaften für nutzlosen Schnickschnack gehalten werden, auf den man verzichten kann, um sicherzustellen, dass das eigene Land wettbewerbsfähig bleibt. Sofern Kunst und Geisteswissenschaften im Fokus stehen, werden sie auf handwerkliche Fähigkeiten umdeklariert, die mit quantitativen Multiple-Choice-Prüfungen getestet werden können; dabei werden Fantasie und kritisches Denken, die ihren Kern ausmachen, links liegen gelassen.»15

      Gefährlich. Denn so «vernachlässigen Bildungssysteme die Fähigkeiten, die Demokratien lebendig halten. Wenn sich der Trend fortsetzt, werden die Nationen überall Generationen von nützlichen Maschinen produzieren statt allseits entwickelter Bürger, die selbständig denken, Kritik üben und den Stellenwert der Leiden und Leistungen anderer begreifen können. Die Demokratie steht weltweit auf der Kippe.» Faktenwissen bedürfe keiner geisteswissenschaftlichen Bildung. Verantwortungsbewusste Bürger brauchten «wesentlich mehr: die Fähigkeit, historische Fakten zu bewerten, kritisch über Wirtschaftsmodelle nachzudenken, Konzeptionen von sozialer Gerechtigkeit zu bewerten, eine Fremdsprache zu sprechen, die komplexen Inhalte der Weltreligionen zu verstehen. Aneinanderreihung von Fakten ohne zu bewerten oder zu begreifen, wie eine Darstellung aus Fakten konstruiert wird, ist fast so schlimm wie Unkenntnis, da der Schüler nicht in der Lage sein wird, Vorurteile von der Wahrheit oder aus der Luft gegriffene Behauptungen von begründeten zu unterscheiden.» «Wenn das Bildungsziel technisch qualifizierte, willige Arbeiter sind, die Pläne von Eliten umsetzen, denen es um Investitionen und technologische Entwicklung geht», müssten Selbständigkeit und Freiheit als Gefahr gelten. «Folglich wird eigenständiges Denken nicht gefördert.»16

      Mit Pestalozzi gibt es für Nussbaum ohne Einbezug der Gefühle keine Bildung. Verwandle sie nicht auch das Fühlen, sei die Demokratie zum Scheitern verurteilt, die «auf Respekt und Anteilnahme basiert und diese wiederum auf der Fähigkeit gründen, andere Menschen als menschliche Wesen und nicht nur als Objekte zu sehen». Nur verbunden mit bewusstem und selbstkritischem Fühlen, wie es musische Bildung vermittle, werde die aufklärerische Vernunft wirksam. «Pädagogen, die nur Wirtschaftswachstum im Sinn haben, ignorieren die Kunst nicht nur, sondern fürchten sie: denn entwickelte Empathie ist ein gefährlicher Feind der Stumpfheit, und moralische Stumpfheit ist notwendig, um ökonomische Entwicklung zu organisieren, die sich um Ungleichheiten nicht schert. Es ist leichter, Menschen als manipulierbare Objekte zu behandeln, wenn man nie gelernt hat, sie anders zu sehen.» Ohne Empathie seien die Menschen dem Pluralismus der Weltgesellschaft nicht gewachsen. Das Bildungssystem solle die Jugend befähigen, «sich als Mitglieder einer heterogeneren Nation (alle Nationen sind heterogen) und einer noch heterogenen Welt zu betrachten und etwas über Geschichte und Charakteristik der Gruppen zu wissen, die in ihr leben».17

      Die Ziele des Bildungswesens seien eine ethische Frage. «Bildung, die auf Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt ausgerichtet ist, produziert habgierige Beschränktheit und technisch gebildete Gefügigkeit. Das ist eine unmittelbare Bedrohung der Demokratie und wird verhindern, eine anständige Weltkultur zu entwickeln. Wenn der tatsächliche Kampf der Kulturen, wie ich glaube, ein Kampf in der menschlichen Seele ist, da Gier und Narzissmus im Widerstreit mit Respekt und Liebe liegen, verlieren alle modernen Gesellschaften diesen Kampf schnell, wenn sie die Kräfte nähren, die zu Gewalt und Entmenschlichung führen,