Bildungsethik (E-Book). Thomas Detjen Philipp

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Название Bildungsethik (E-Book)
Автор произведения Thomas Detjen Philipp
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783035515695



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1.6Das Ziel dieses Buches

      Nur wer mitschwimme, habe Einfluss auf den Strom. Kritik von aussen rufe nur Abkapselung und Ablehnung hervor. Immer wieder wird dem Verfasser dieses Argument entgegengehalten. Bologna sei gesetzt, er solle mithelfen, die Reform zu verbessern. Zu kämpferisch trete er auf, was Ablehnung provoziere.

      Wären alle Mitsprechenden nur auf messbaren Vorteil aus, auf Geld, Anerkennung, Posten, träfe das Argument zu. Wenn jeder den Ökonomismus verinnerlicht hätte, vor sich selbst zum homo oeconomicus geworden wäre. Wenn also gearbeitet würde, um zu konsumieren. Und konsumiert, um fit zu sein für die Arbeit. In ewigem Kreislauf, ins Unendliche wachsend, alles verschlingend, ein einziger Verdauungsprozess, in dem nichts Bestand hat, nichts Halt gäbe, das Zurschaustellen von Konsum den öffentlichen Raum ganz besetzte. Für wen nur der eigene Gewinn zählte, der wäre in der Tat im Boot und würde sich am Ende an alles anpassen.

      Doch das trifft nicht zu. Das Ich findet sich nur in Sinnerfahrungen. Sie sind an Wort und Widerwort, an echte Begegnung von Ich und Du gebunden. An dieser Gegebenheit, deren stets neues Aufbrechen sich nicht verhindern lässt, muss die funktionalistische Bildung scheitern, früher oder später. Besser bevor die Lemminge die Klippe erreichen.

      Die Beschränkung der Sprache aufs Wirtschaftliche ist unverantwortlich. Und stützten sie noch so viele Erfahrungen: Hätte sie recht, wäre die Menschlichkeit verloren, die in Blick, Wort und Widerwort liegt. Findet der Blick des anderen, in seiner Fremdheit, keinen Einlass, geht das Licht aus. Ohne Begegnung mit ihm bleibt die Vernunft hinter der Menschlichkeit zurück, an der sie sich zu messen hat. Die Gegenseitigkeit der Sprache gibt dem Ich ein Niveau vor, das es nicht unterschreiten soll: die faire Auseinandersetzung mit allen Geltungsansprüchen, die sich zu Wort melden. Auf dieser Herausforderung, um die ein jeder in seinem Inneren sehr wohl weiss, steht dies Buch. Es gibt das Recht und die Pflicht, über den sich bildenden Menschen zu streiten. Der Streit darf nur vom Menschen selbst, nicht vom Funktionieren der Systeme her entschieden werden. Die Verständigung über das gute Leben aller verlangt den Ernst des politischen Gesprächs, etwas ganz anderes als die Verteilungskämpfe, die heute die Öffentlichkeit überwuchern. Es beginnt erst, wenn Interessen zurücktreten und den Raum für Verständigung freigeben.

      Die Identifikation mit dem Funktionieren verbirgt, dass sie eine Entscheidung, kein Faktum darstellt. Kein Mensch hat das Recht, seine Haltung ans Funktionieren zu delegieren und Ethik durch Anpassung zu ersetzen. Besonders kein Deutscher. Wäre wahr, dass Kritik nur im Mitschwimmen sinnvoll und möglich ist, wären Stauffenberg und Goerdeler, Moltke, Bonhoeffer und Delp umsonst gestorben. Dass die Ideologie der umfassenden Anpassung ans System von einem Deutschen stammt, der im Dritten Reich herangewachsen ist, von Niklas Luhmann, ist mehr als irritierend.

      Wie also einer Strategie begegnen, die über den sich bildenden Menschen grundsätzlich kein Gespräch führen will? Das Beste draus machen? Im Kleinen Verbesserungen suchen, so gut es geht? Zwischen den Zeilen, in Lücken Hinweise auf eine menschliche Welt geben? Das haben viele versucht. Wirksamer Widerstand gegen die Knechtung des werdenden Menschen unters Funktionieren ist daraus nicht erwachsen.

      Nein. Das Funktionieren kann seiner selbst und seiner Grenzen nur am Blick des anderen innewerden. Erst wenn es ein Gegenüber findet, dessen Blick sich nicht kaufen, nicht zwingen, nicht wegdrängen lässt, hat es die Chance, menschlich zu werden, das Niveau zu erreichen, das ihm aufgegeben ist. Es gilt also, standhaft Argumente zu entwickeln aus der Eigenart und Geschichte des Phänomens Mensch. Und es gilt, Kommunikationsverhalten zu analysieren und zu kritisieren. Diese Zeit bedarf einer Debatte über das sich bildende Ich und den normativen Anspruch, der mit ihm gegeben ist. Und einer Ethik der Steuerung von Bildungssystemen, die sie konsequent auf den Dienst am werdenden Ich verpflichtet.

       Vier Lücken im Nachdenken

      Verändern Bücher die Welt? Nein: Wie schnell setzen sie Staub an und werden vergessen! Und ja: Sie treffen einen Nerv, manchmal doch, treffen auf eine Zeit, die sich danach sehnt, sich aufzurichten. Und in ihnen Halt findet, Hoffnung zu schöpfen. Sodass, was kalt erstarrt daliegt, wieder durchblutet wird und ins Fliessen kommt. Das Wort kann auf Bewegung nur hoffen; die Bewegung aber findet ohne das Wort nicht zur Wirksamkeit. Was aber ist noch nicht gesagt? Was ist neu? Was kann dieses Buch beitragen? Fehlt es dem Widerstand gegen die Reformen an Nachdenken? Zeigt er theoretische Defizite, für deren Überwindung ein Buch das Mittel der Wahl wäre? Unter vier Aspekten ist das der Fall.

      Ursprung und Eigenart der neuen Regeln. Schlagende Argumente gegen die Reformen liegen vor – und prallen ab. Die Macht reagiert nicht. Fast über Nacht haben sich neue Regeln der politischen Kommunikation durchgesetzt. Für Demokraten sind sie inakzeptabel; für sie kann nur das Argument, nur das kritische und verständigungsorientierte Gespräch politische Ziele begründen. Menschlichkeit und Demokratie verlangen, über diese schockierenden Regeln zu sprechen, sie klar zu fassen, zu kritisieren und ethisch zu bewerten.

      Doch genügt das noch nicht. Diese Regeln kann nur überwinden, wer Einsicht in ihre Wirksamkeit gewinnt. Woher kommt die Macht, mit der sie sich durchsetzen? Wohl beruht die Macht des bildungsindustriellen Komplexes darauf, dass er das Gespräch über die Ziele des Bildungswesens erstickt hat. Das aber gelingt nur, weil er einen schweigenden, aber wirksamen Komplizen in allen Menschen von heute hat. Die Konfliktlinie verläuft nicht zwischen dem einzelnen und dem bildungsindustriellen Komplex. Sie verläuft mitten durch jedes Ich. Als Mensch von heute ist er immer schon identifiziert mit Markt und Staat, die ihm mit nie gekannter Wirksamkeit Wohlstand und Sicherheit sichern. Das Übergewicht der Bedürfnisse nach Kontrolle und Wohlstand gegenüber den gewachsenen Vorstellungen vom guten Leben ereignet sich zuerst innen. Es ist eine Frage der Haltung. Der Botschaft von Reichtum und Kontrolle sind schliesslich viele zuzustimmen bereit, auf Kosten der breiten, humanen Bildung des Ich. Hierzu trägt eine weltanschauliche Verunsicherung massgeblich bei: die Schwierigkeit, dem Funktionieren glaubwürdige Alternativen gegenüberzustellen. Nur in dieser Atmosphäre greift das strategische Auftreten des bildungsindustriellen Komplexes und seine Botschaft der Alternativlosigkeit.

      Auch wenn’s im Genuss einer Überdosis anders schmeckt: Die Wirtschaftsförmigkeit und die – sie oft ausgleichende – zentrale Steuerung, die sich im Westen seit 250 Jahren durchgesetzt und nun die ganze Welt ergriffen haben, sind nicht nur schlecht. Die Hoffnungskräfte, die sie tragen, und das kreative Potential, das sie freisetzen, sollen in einen zeitgemässen Bildungsbegriff und in die Bildungspolitik eingehen. Dem Übergriff von Wirtschaftsförmigkeit und Zentralismus ist Einhalt zu gebieten, der Sinnlosigkeit zu widersprechen – und zugleich ist eine Vision zu entwickeln, welche das effiziente Funktionieren in Teilbereichen zulässt, die gegensätzlichen Ziele in eine durchdachte Synthese versöhnt.

      Zusammenschauender Begriff des sich bildenden Menschen. Ansetzend beim Ursprung des deutschen Wortes bilden in der selbstachtsamen Spiritualität Eckharts, möchte dieser Versuch den Menschen als ganzen zu Gesicht bekommen, statt ihn in Aspekte auseinanderfallen zu lassen. Solange sie nicht in einer Synthese Versöhnung finden, die jedem seinen Platz gibt und zugleich seinen Anspruch begrenzt, können auch die Kräfte, die dem lebendigen Werden des Ich dienen wollen, politisch nicht zusammenwirken. Dann bleibt es bei Zerrissenheit.

      Ethik. Dieses Werk setzt nicht erkenntnistheoretisch an, nicht als Besinnung auf eine humanistische Tradition oder als pädagogisches Fachbuch. Auch nicht als Streitschrift, die für politische Ziele wirbt. Es spricht wohl auf all diesen Ebenen. Aber als Ganzes wählt es die Form einer Ethik. Es möchte nicht bei der Kritik stehen bleiben. Ware Bildung, Bildung statt Bologna, Theorie der Unbildung: Solche Titel liegen vor. Dieses Buch möchte den Boden für eine Verständigung bereiten. Auf das Ziel des guten Lebens aller müssten alle Akteure sich verständigen können, so sie nicht von vornherein nur Gruppeninteressen oder Rechthaben verteidigen, also die Hoffnung auf Verständigung aufgegeben haben. Von diesem Ziel her lassen sich alle anderen Ziele kritisieren, relativieren und ordnen. Umgekehrt ist die Weigerung, über das gute Leben zu sprechen, genau der Punkt, an dem Wirtschaftsförmigkeit und Zentralismus ins Menschenfeindliche kippen.

      Die Form einer Ethik kann zudem die normative Eigendynamik