Название | Bildungsethik (E-Book) |
---|---|
Автор произведения | Thomas Detjen Philipp |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783035515695 |
Es gibt die Möglichkeit des Innehaltens. Der Selbstreflexion, des selbstkritischen Zurückkommens auf Ziele. Es gibt den Rückwärtsgang. Die Möglichkeit, die eigene Motivation besser zu verstehen, die keineswegs immer schon bekannt und verstanden ist. Dächte diese Gesellschaft ernstlich darüber nach, was sie tut, und warum sie es tut, könnte sie es nicht mehr tun. Dann könnte sie nicht mehr von Mensch und Selbstreflexion wegsehen und eine verantwortungslose Bildungspolitik betreiben. Freilich gibt es auch die Möglichkeit des besinnungslosen Weiter so! Die Reform ist gegeben, wir machen sie besser.1
Es ist nicht einmal schwer, zu zeigen, dass sich die Gesellschaft damit selbst schädigt, sogar ökonomisch.2 Aber eine Debatte über die Ziele der Bildungspolitik findet nicht statt. Gleichgültigkeit herrscht. Vor den Schweizer Nationalratswahlen 2015 rangierte Bildung an zwanzigster Stelle der politischen Prioritäten des Stimmvolkes. Alles Mögliche ist wichtiger. Mit menschenfreundlicher Bildung, scheint es, lässt sich kein Wahlkampf gewinnen.
Dies Buch nimmt Sie mit auf Entdeckungsreise in eine seltsam lichtlose Welt. Natürlich kann es keine Antwort geben, die für Sie, verehrte Leserin, gültig wäre. Es möchte Ihnen Fragen stellen; denen auch seine Antworten dienen: Warum sind die Verhältnisse, wie sie sind? Warum denken Sie in Bildungsfragen, wie Sie denken? Warum lassen Sie zu, dass die meisten Parteien so desinteressiert am Werden von Menschen sind? Warum wählen Sie sie? Welche Rolle spielen Sie als Lernende, Lehrende, Eltern, Verantwortliche in diesem Spiel? Welche möchten Sie spielen?
Gegen die Knechtung des sich bildenden Ich unter die effiziente Abrichtung zum Marktverhalten wehren sich zahlreiche, zum Teil namhafte Schriftsteller. Sie schlagen eine bemerkenswerte Vielfalt von Wegen ein. Alle gehen von einer Erfahrung von Verlust aus. Der Ton ist besorgt; sie verbindet der Wunsch, etwas Kostbares vor der Vernichtung zu schützen: ein konservatives Anliegen. Ein wirksames Gegengift aber weiss niemand. Wer sich der Unterwerfung des werdenden Menschen unter Zähl- und Messbarkeit entgegenstellt, spricht im Schatten. Nicht dass die Autoren ihr Scheitern reflektierten. Doch Ton und Haltung zeigen auch Verzweiflung und Resignation, Rückzug auf den blossen Essay ohne normativen Anspruch3, Beschwören der Vergangenheit oder wütende Gegenangriffe.
Beschwören einer idealisierten Vergangenheit. Der Latinist Jochen Fuhrmann besteht gegenüber den Reformen auf der Vergangenheit. Bildung sei Bewahrung einer idealen Kultur. Sie «wird repräsentiert durch die Gebildeten; die Kultur ist eine Abstraktion, eine nur in der Vorstellung vollziehbare Synthese. Zwischen Bildung und Kultur besteht dasselbe ambivalente Verhältnis wie zwischen den wahrnehmbaren Dingen und den Ideen Platons. Der um Bildung sich Bemühende befindet sich der Kultur gegenüber im Nachteil: Er hat, so sehr er sich anstrengt, stets nur unvollkommen Anteil. Andererseits spiegelt Bildung ein Stück Kultur und weist auf den Quellgrund, der sie ermöglicht.»4
Darum habe die europäische Universität nicht auf berufliche Qualifikation gezielt, sondern auf geistige Orientierung, um der Realität und ihren Forderungen gegenüberzutreten. Die Jugend habe «ihr Leben im Blick auf Ideale einrichten (sollen), die gegeben waren, die nicht der jeweiligen Wirklichkeit entstammten».5 Die Humanisten seien stolz darauf gewesen, nicht der Nützlichkeit zu dienen, sondern einer idealen Gegenwelt. Gegen das Leitbild des nützlichen Spezialisten hätten Goethe und Schiller das Wachsen der Persönlichkeit durch harmonische Entfaltung aller Kräfte gestellt.
Unter dem Einfluss von Georg Picht und Ralf Dahrendorf habe die Bildungspolitik die ideale Gegenwelt durch gesellschaftspolitische Ziele ersetzt. An die Stelle von «Person, Geist und Kultur traten in unverhüllter Einseitigkeit Gesellschaft, Einkommen und soziale Gerechtigkeit. Bildung wurde nicht mehr als geistiger Prozess verstanden, der das Individuum zu Selbständigkeit und Freiheit, zur Teilhabe am Kulturganzen befähigen sollte, sie figurierte nur noch als Produktions- und Sozialfaktor.» In ähnliche Richtung zielt der Germanist Jochen Hörisch: Der heisse Kern der Universität Humboldts sei nicht das Wissen, sondern die Liebe zu ihm. Die Universität sei als alma mater, als mütterlicher Ort, der die Neugier schützte und förderte, intensiv geliebt worden. Heute hingegen erscheine sie als kühle Verwaltungsmaschine.6
Studentischer Protest. Die Studentenunruhen, die 2009/10 in ganz Europa und darüber hinaus als Demonstration und Besetzungen aufbrachen, sind schon fast vergessen. Ihr Ziel, in humaner Gegenseitigkeit über den Sinn von Bildung und die Ziele der Bildungsinstitution ins Gespräch zu kommen, haben sie nicht erreicht. Das System sass sie aus und wartete, bei punktuellen Zugeständnissen, einfach ab, bis ihr Elan erlahmte. Immerhin schreiben die grossen deutschsprachigen Zeitungen seitdem eher gegen Bologna. Allerdings ohne das System zur Rechtfertigung, Ministerinnen oder Rektoren zum Widerspruch nötigen und damit die fällige demokratische Debatte in Gang bringen zu können.
Die Proteste haben die Abschaffung der deutschen Studiengebühren erreicht, was einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Denn dieser ‹Erfolg› interpretiert die Proteste als Verteilungskampf. Zweifelhafter Berechtigung: Solange Kitas und Kindergärten Gebühren verlangen, sieht es so aus, als hätten sich die künftigen Privilegierten durchgesetzt. Die Proteste scheinen sich nahtlos in die wirtschaftliche Sprache einzufügen. Das verkürzt deren Ziele grob und bringt sie auf den kleinstmöglichen Nenner. Die Proteste waren zu wenig organisiert, ihr Atem nicht lang genug, die Vereinnahmung zu verhindern.
Künstlerischer Ungehorsam. Der Zuger Künstler und Pädagogikstudent Severin Hofer hat seine Bachelorarbeit7 als soziales Kunstwerk gestaltet, an dem sich die Geister scheiden sollten. Durch kreative, gezielte Provokationen macht Hofer augenscheinlich, wie die lebendige Erfahrung, sich zu bilden, am Punktehandel erstickt. Er erzählt von Erfahrungen neugieriger, authentischer, engagierter Bildung – unter Missachtung der wissenschaftlichen Objektivität. Er riskierte und erhielt die Ablehnung der Arbeit, was in der Innerschweiz einige öffentliche Debatten entzündete.
Bologna und Bildung versöhnen. Für den Berliner, dann Hamburger Rektor Dieter Lenzen macht Bologna Selbstbildung unmöglich. Die Reform sei «auf Kollisionskurs mit dem Menschen». Sie wolle europaweite Einheitlichkeit. Aber «da Einheitlichkeit dem Grundgedanken allgemeiner Bildung zuwiderläuft– Herausbildung einer mit sich (und nicht mit allen anderen) identischen Persönlichkeit –, musste es zu einer Orientierung an Inhalten kommen, die vergleichbar und messbar sind». So habe employability Persönlichkeitsbildung, Ausbildung Bildung ersetzt. Die Jugend werde entmündigt, indem Ziele und Struktur des Studiums nicht einmal in Ansätzen mir ihr diskutiert würden. Massenhafte Prüfungen und zu hoher Druck machten ein Studium über das eigene Fach hinaus fast unmöglich.
Da sich Bologna nicht mehr rückgängig machen lasse, will Lenzen die Reform mit dem Humboldt’schen Bildungsideal verbinden zu «Bologna 2.0». Es gelte, «der Aufgabe allgemeiner Persönlichkeitsbildung und Menschenbildung durch Wissenschaft wieder einen gleichrangigen Stellenwert neben der Ausbildung für ein berufliches Leben einzuräumen». Zudem denkt er über eine College-Stufe nach amerikanischem Vorbild nach, um nach dem entwerteten Abitur anfangs des Studiums Raum für Persönlichkeits- und Allgemeinbildung zu schaffen.8
Kritik der nur instrumentellen Vernunft. Der Philosoph und ehemalige Minister Julian Nida-Rümelin kritisiert die Reformen als bloss instrumentelle Vernunft. Sie liessen keine Idee humaner Persönlichkeitsentwicklung erkennen und wollten von «Rationalität nur in Hinblick gegebener