Das Geheimnis eines guten Lebens. Carl Achleitner

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Название Das Geheimnis eines guten Lebens
Автор произведения Carl Achleitner
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783990014387



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ich könnte dieser Aufgabe nicht gewachsen sein. Das ist vollkommen anders als die Schauspielerei. Kein vorgegebener Text, an den ich mich halten kann. Stattdessen muss ich eigene Worte finden. Hier geht es um das echte Leben. Hier gibt es keine Möglichkeit, die Szene nochmal zu drehen oder es bei der Aufführung am nächsten Tag besser zu machen. Hier gibt es nur eine Chance. Eine einzige.

      Nach drei Wochen ist es dann soweit. Ich bekomme eine knappe E-Mail von Frau Stockmeier: Einteilung: Dienstag, 17.02.2012, 11 Uhr, Inzersdorf, Hilde Kuzmich, geb. 03.07.1935.

      Kein Vorkontakt, das kommt immer wieder mal vor, ist aber für mein erstes Begräbnis besonders nervenaufreibend. Keine Ahnung, was mich am nächsten Tag erwartet.

      Ich lege mir ein dramaturgisches Konzept zurecht, drei Seiten lang, mit jeder Menge Zitaten und Sprüchen gespickt, das mir Halt und Sicherheit geben soll. Zum Vorgespräch kommen der Witwer und die drei Kinder der Verstorbenen.

      »Eigentlich wollten wir das selber machen, mit der Rede, aber dann haben wir gemerkt: Das schaffen wir nicht. Also holen wir uns lieber einen Profi«, beginnt der älteste Sohn.

      Wenn ihr wüsstet, denke ich.

      Alle reden auf mich ein, ich versuche alles aufzuschreiben und habe bald weitere drei Seiten voll mit Notizen. Die Zeit verfliegt im Nu, keine Zeit mehr für eine letzte Zigarette, der Arrangeur holt mich, es geht los. Meine Feuertaufe. Ich gehe langsam nach vorne, verneige mich vor dem Sarg, drehe mich um und stehe vor vierzig Leuten, die mich erwartungsvoll ansehen. Die Pause vor dem ersten Wort ist bis heute ein sehr spannender Moment. Diese Frage »Was wird der jetzt wohl sagen?« liegt immer unausgesprochen in der Luft. »Was werde ich jetzt wohl sagen?«, geht es auch mir durch den Kopf, als plötzlich ein Windstoß mein Manuskript vom Rednerpult fegt. Die Blätter fliegen durch die Luft, ich versuche hektisch, sie wieder einzusammeln, einige Trauergäste wollen helfen, aber umsonst. Der Wind weht alle sechs Seiten bei der offenen Tür hinaus. Dort bildet sich ein Mini-Tornado. Ein Tornado? In Inzersdorf? Im Februar? Verfluchter Klimawandel! Mein Manuskript entschwindet in die Lüfte wie Luftballons an einem Kindergeburtstag. Ich kann die einzelnen Seiten kaum noch sehen. Panik erfasst mich. Ich werde meine erste Rede ohne Unterlagen halten müssen und versuche krampfhaft, mich zumindest an den Namen der Verstorbenen zu erinnern. Hilde K., irgendwas mit K. Hilde Küssmich? Hilde Kotznicht? Nein … Hilde Kuzmich, ja, jetzt fällt mir alles wieder ein. Mit einem Mal verspüre ich einen starken Harndrang. Ich versuche ihn zurückzuhalten. Vergeblich. Ich muss dringend auf die Toilette, bitte die Trauergäste um Verständnis und laufe aus der Aufbahrungshalle ins Priesterkammerl. Dort gibt es nur ein Waschbecken, egal, ich muss so dringend, will gerade, da kommt der Herr Pfarrer herein – und ich wache schweißgebadet auf. Es ist 3.45 Uhr, mitten in der Nacht. Ich liege in meinem Bett, neben mir die leise schnarchende Ann-Birgit, auf meinem Nachtkästchen das fein säuberlich geordnete Manuskript. Gottseidank nur ein Albtraum. Ich gehe pinkeln und mache bis zum Morgen kein Auge mehr zu.

      Vollkommen übermüdet und mit einem flauen Gefühl im Magen komme ich zu meinem ersten Termin. Die Angehörigen sind sympathisch. Es ist sofort ein Draht da. Das nimmt mir ein wenig die Angst. Die Verstorbene war eine sehr geliebte Ehefrau und Mutter. Die Tränen während des Vorgesprächs berühren mich, die Tränen während der Rede noch mehr. Was genau ich gesagt habe, weiß ich nicht mehr. Aber ich werde nie den Moment vergessen, als es vorbei war. Der Witwer, seine Kinder und auch andere Trauergäste kommen auf mich zu und bedanken sich; mit einer Herzlichkeit und ja, einer Freude in ihren Augen und in ihren Worten, die ich niemals erwartet hätte. Das ist ein richtiger Aha-Moment. So viel bekommst du zurück, wenn du es gut machst. Heute weiß ich: Wenn es gelingt, die Trauernden zu berühren und sie gut durch die Verabschiedung zu begleiten, dann ist das zwar deutlich schlechter bezahlt als jeder Drehtag, aber viel wertvoller.

      In den zwei Monaten meiner Probezeit halte ich rund vierzig Reden. Unter den Verstorbenen sind viele alte Menschen, deren Zeit gekommen war, aber auch einige zu jung Gegangene, Menschen in meinem Alter oder jünger. Auch ein Selbstmörder ist dabei, und ein Unfallopfer. Und jedes Mal Hinterbliebene, die mit dem, was geschehen ist, umgehen müssen, die mit dem Tod eines nahestehenden Menschen konfrontiert sind, die sich mir anvertrauen, die ich durch das Ritual des Abschieds zu begleiten habe. Es ist immer dasselbe – es ist jemand gestorben. Und doch ist es immer einzigartig, weil jeder Verstorbene einzigartig war, einzigartig für die Trauernden und damit auch für mich als Redner.

      So habe ich meine Berufung gefunden. Ganz egal, welche Trauersituation ich vorfinde, am Ende eines Lebensweges geht es immer um diese Fragen: War es ein gutes Leben, das da zu Ende ging? Was hat es zu einem guten Leben gemacht? Oder was hat gefehlt, wenn es kein so gutes Leben war? Das in Worte zu gießen, genau die Worte zu finden, die den Hinterbliebenen aus Trauer oder wegen anderer starker Emotionen im Hals steckenbleiben, das ist fortan meine Aufgabe. Das beobachten und daraus für mein eigenes Leben lernen zu dürfen, ist mein Privileg.

      Dieses Buch schreibe ich nach über 2.500 Trauerreden. Aus der verdichteten Auseinandersetzung mit so vielen Lebensgeschichten ergibt sich ein ganz eigenes Destillat an Lebensweisheit. Allerdings schreibe ich dieses Buch nicht nur, weil es mich drängt, Weisheiten weiterzugeben. Es drängt mich auch, die Tragik des menschlichen Daseins zu verringern. Der Tod nimmt uns die Zeit. Uns allen, den Verstorbenen und den Hinterbliebenen gleichermaßen. Und der Tod mahnt uns, die Zeit, die wir haben, bestmöglich zu nutzen. Es gibt Dinge, die können wir im Laufe der Zeit immer weniger aufholen, kaum noch wiedergutmachen. Es gibt Versäumnisse, die zu einem langen, manchmal sogar lebenslangen Hadern führen. Es gibt viele Dinge, die wir besser machen können. Und es gibt nahe am Ende die Klage: Warum hat mir das niemand gesagt, als noch Zeit dafür war?

      Ich wende mich mit diesem Buch an Menschen, die dem Friedhof hoffentlich noch fern sind. Ich möchte diejenigen, die mitten im Leben stehen, dazu anregen, sich von allen Ablenkungen frei zu machen und im Angesicht des Todes die wesentlichen Fragen des Lebens zu stellen. Ich lade Sie ein, in Gedanken mit mir auf den Friedhof zu gehen und am Ort der ewigen Ruhe ein wenig Ruhe zu finden, um über Ihr eigenes Leben nachzudenken. Was zählt wirklich in Ihrem Leben? Welche Stärken hat der gute Wolf in Ihnen und welche Teile von ihm brauchen noch Futter, um den bösen Wolf überwinden zu können? Es nutzt nichts, den bösen Wolf in uns zu verleugnen oder zu verdrängen. Am Ende wird er uns einholen, glauben Sie mir. Wir wissen nicht, wann unser Ende kommt. Daher geht es für uns täglich um die Frage: Was können wir jetzt tun, das nach unserem Tod noch der Rede wert sein wird? Jetzt, damit wir später nicht hadern, wenn wir keine Zeit mehr haben. Haben wir – wie Edi mit seiner Mitzi – das beste Leben, das wir uns nur wünschen können? Was fehlt uns, um das beste Leben zu verwirklichen?

      Unsere Vorstellungen darüber, was das beste Leben beinhalten sollte, sind bestimmt unterschiedlich. Wir sind alle einzigartig. Allerdings gibt es so etwas wie einen gemeinsamen Kern, weil wir alle Menschen sind. Diesen menschlichen Kern betreffend können wir alle am Beispiel von anderen lernen. Wir können Menschen wie Edi mit bloßer Bewunderung oder sogar insgeheim mit Neid betrachten. Wir können aber auch versuchen, uns von seiner Lebensgeschichte inspirieren zu lassen, um vielleicht selbst am Ende aus tiefster Seele sagen zu können: Ich habe das beste Leben gehabt, das ich mir vorstellen kann.

      Dieses Buch versteht sich als Anregung zu wesentlichen Themen, die alle Menschen beschäftigen, eben weil wir sterblich sind. Dazu habe ich Geschichten und hoffentlich auch echte Weisheiten gesammelt. Ihnen näherzubringen, welche bemerkenswerten Antworten andere Menschen auf die großen Fragen des Lebens gefunden haben, und damit DEM Geheimnis des guten Lebens auf die Spur zu kommen, ist der Sinn dieses Buches. Frei nach dem Motto von Carlos Castaneda:

      Der Tod ist der beste Ratgeber.

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