Название | Das Geheimnis eines guten Lebens |
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Автор произведения | Carl Achleitner |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990014387 |
»Ganz sicher nicht!« wiederhole ich und sehe Ann-Birgit fest in die Augen. Die überhört gekonnt meinen Einwand und liest mir die Stellenanzeige einer gewissen Agentur Stockmeier vor: Ich betreue eine Gruppe von zehn Trauerrednern, die auf Honorarbasis für Bestattungsinstitute in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland Reden bei Begräbnissen halten und nun Verstärkung suchen. Unsere Rednerinnen und Redner sind traditionell bei Trauerfeiern tätig, wenn die Verstorbenen nicht konfessionell gebunden waren. Eine schöne und interessante Aufgabe, bietet sie doch die Möglichkeit, Menschenleben kennenzulernen, sie zu kommentieren und das lebendig zu erhalten, was an einem Dasein wertvoll war.
Gelangweilt täusche ich vor zuzuhören. Aber es bleibt bei meinem Nein.
Zwei Tage später, es ist ein Mittwochnachmittag, sitzen wir wieder am Esstisch beisammen und sichten die Stellenanzeigen, als mein Handy klingelt. Mein Neffe Florian aus Oberösterreich ruft an. Ich hebe ab, höre, was er zu sagen hat, lege auf und schaue in die Leere, die mich in diesem Moment innerlich erfüllt. Als Antwort auf Ann-Birgits fragenden Blick bringe ich nur einen kurzen Satz heraus: »Mein Vater ist tot.«
Es ist tatsächlich, wie manche es beschreiben: Wenn uns eine solche Nachricht ereilt, verschwinden Zeit und Raum für einen kurzen Moment. Mein Vater war im neunzigsten Lebensjahr. Seit Jahren habe ich mich immer wieder gefragt, wie es sein würde, wenn er einmal stirbt. Jetzt ist es passiert.
Ann-Birgit rückt ihren Sessel heran und nimmt mich in den Arm. Schweigend sitzen wir da.
Vor zwei Tagen noch habe ich mit ihm telefoniert. Er war alt, aber nicht krank. Sein Tod kommt plötzlich und überraschend. Er war als Trauergast am Begräbnis einer Jugendfreundin, hat sich beim Leichenschmaus am letzten Bissen verschluckt und ist in den Armen meiner Schwester erstickt.
Im Grunde war er ein sehr weicher Mensch. Was ich besonders an ihm geliebt habe und bis heute liebe, ist seine Großzügigkeit. Er hat mir, als ich schon erwachsen war, mehr als einmal in Notsituationen beigestanden, auch finanziell, obwohl er nicht vermögend war. Mit 19 habe ich einmal nachts heimlich sein Auto »ausgeborgt« und zu Schrott gefahren. Als er das auf dem Dach liegende Wrack gesehen hat, dem ich wie durch ein Wunder fast unverletzt entstiegen bin, hat er mich umarmt und Freudentränen geweint. Der materielle Schaden war ihm egal. Sein Credo war: Keine Bitte bleibt ohne Antwort, kein Spenden-Erlagschein landet im Papierkorb. Er hat viel für soziale Zwecke gespendet. Er hat aber auch ganz konkret in seinem Umfeld geholfen, wenn Menschen in Not waren. Eines Tages stand der Bauernhof eines Freundes in Brand. Ich sehe ihn heute noch, wie er unter Einsatz seiner Gesundheit versucht hat zu retten, was zu retten war. Zu Weihnachten hat er jedes Jahr einen besonderen Fall recherchiert, eine Familie, die einen Schicksalsschlag erleiden musste, und hat diskret und anonym Christkind gespielt. Ganze Kartons voller Lebensmittel und Kleidung hat er vor die Tür gestellt, geklingelt und ist davon. Als ich schon Schauspieler war, war ich selten bei ihm zu Besuch. Wenn er mich am Ende zum Zug nach Zürich oder München gebracht hat, hat er meistens aus Abschiedsschmerz geweint. Auch wenn er in seiner Welt geblieben ist und ich mir meine eigene gebaut habe, so haben wir uns im Erwachsenenalter doch gefunden und viele schöne, tiefgehende Gespräche miteinander geführt.
Trotzdem fühle ich angesichts solcher Erinnerungen nichts. Keine Trauer. Allenfalls einen kleinen Schock. In den Tagen bis zu seinem Begräbnis kommt alles wieder hoch, mit einer Wucht, die ich nicht aufhalten kann.
1968. Ich bin fünf Jahre alt und stehe im oberen Treppenhaus des elterlichen Gasthofes vor einem alten Bauernkasten. Es ist der Waffenschrank meines Vaters, unversperrt. Ich öffne die Kastentür und entdecke neben den Jagdgewehren unter allerlei Krimskrams einen alten Geigenkasten. Neugierig klappe ich ihn auf, nehme die Geige in die Hände, zupfe an den Saiten und entdecke weiter hinten im Schrank ein großes Jagdmesser. Es ist märchenhaft scharf. Dieser Bubentraum schreit nach etwas zum Schnitzen. Das nächstgelegene Holzteil ist die alte Geige. Also vollführe ich oberflächliche Schnitzarbeiten am Instrument, zerschneide auch die Rosshaare des Bogens, einfach, weil die Klinge so scharf ist, dass allein das Gewicht des Messers ohne den geringsten Druck das Rosshaar teilt. Was für eine Klinge! Da kommt mein Vater die Treppen herauf und ertappt mich in flagranti. Er sieht die zerstörte Geige, bekommt einen Tobsuchtsanfall, reißt mich hoch, zieht mir die Hose aus und drischt auf meinen nackten Kinderarsch ein. Es dauert ewig. Ich schreie. Ich flehe, er möge aufhören. Er drischt und drischt. Als er fertig ist, sagt er: »Wer seinen Sohn liebt, züchtigt ihn.« Es sei zu meinem Besten und tue ihm viel mehr weh als mir.
Am nächsten Tag im Kindergarten beim Umziehen zum Turnen in der Garderobe machen mich andere Kinder auf die Blutergüsse an Hintern und Rücken aufmerksam. Ich blicke hinter mich in den Spiegel und kann sie sehen.
Es sind meine ersten Prügel. Ich bin erst seit kurzem in der Obhut meines Vaters. Die ersten drei Jahre meines Lebens habe ich bei meinen Großeltern mütterlicherseits in Haag am Hausruck verbracht. Dort gab es so etwas nicht. Ab diesem Tag begleitet mich die Liebe meines Vaters in Form seiner Gewalttätigkeit durch meine Kindheit. Es ist nicht so, dass ihm ab und zu »die Hand auskommt« oder dass er mir die eine oder andere »gesunde Ohrfeige« verpasst. Keine Ohrfeige ist gesund! Nein, das ist ein ganz bewusst und gezielt eingesetztes »pädagogisches« Mittel. Es ist immer die bloße Hand auf den nackten Hintern, ab dem Kindergartenalter.
Das ist auch die Zeit, als ich mit dem Stottern beginne. Ich kann einfach keinen geraden Satz mehr aussprechen. Manchmal bringe ich nicht mal einzelne Wörter über die Lippen, ohne mich zu verhaspeln. Je mehr ich stottere, desto mehr schweige ich, was wiederum das Stottern verstärkt, sobald ich doch einmal etwas sagen muss. In der Schule bewahrt mich vor einem radikalen Außenseiterdasein wohl nur der Umstand, dass ich der Sohn eines im Ort sehr angesehenen Mannes bin. Mein Vater ist als guter Redner bekannt. Umso mehr werde ich belächelt. Ich möge mir an ihm ein Beispiel nehmen, bekomme ich bei mehreren Gelegenheiten zu hören.
Sechs Jahre lang dauert das, was ich wohl als schlimmste Zeit meines Lebens bezeichnen kann, obwohl es immer wieder auch sehr schöne Momente gibt. Ab und zu, wenn mein Vater nach Wels zum Einkaufen muss, nimmt er mich mit und wir gehen anschließend ins Café Urbann, wo ich mir eine Mehlspeise aussuchen darf, die ich genieße, während er verstohlen in der »Praline« blättert und die Oben-ohne-Fotos ansieht.
1974 geschieht es zum letzten Mal. Ich bin etwa elf Jahre alt. Den Anlass für die Bestrafung weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich nichtsahnend von der Schule nach Hause komme und irgendeine Missetat meinerseits aufgeflogen ist. »Geh rauf in den Wäscheraum, der Papa wartet schon auf dich«, heißt es. Im Wäscheraum ist in offenen Regalen die Weißwäsche des elterlichen Gasthofes gelagert: Tischtücher, Bettzeug für die Fremdenzimmer, Papas weiße Arbeitsmäntel. Beim Gang dorthin, die Treppe hinauf, uriniere ich vor Angst in die Hose. Mein Vater hält mir eine Predigt, wie immer garniert mit dem Bibel-Zitat »Wer seinen Sohn liebt, züchtigt ihn« und dem Vorwurf, es täte ihm viel mehr weh als mir, zieht meine nasse Hose hinunter und beginnt zu schlagen, als ich plötzlich nicht mehr an mich halten kann. Ein Zeichen von Todesangst. Flüssigbreiig kommt es aus meinem Körper, Kinderscheiße, in die der Vater wuchtig hineindrischt, dass es nur so spritzt. Er, ich, die weißen Wände und die weiße Wäsche im neonlichtweißen Raum sind über und über mit Kot besprenkelt und beschmutzt.
»Pfui Teufel, du Sau!«, klingt der Kommentar des Vaters heute noch in meinen Ohren.
Danach schlägt er mich nie wieder. Das Stottern bleibt mir allerdings noch viele Jahre. Mit der Zeit geht es in eine Sprechangst über. Besonders, wenn mir etwas wichtig ist, kann ich nicht sprechen. Am Vorabend meines Einstiegs in die Schauspielerei – ich bin damals Kellner in besagtem »Theater Restaurant Casino« in Linz – bitte ich meinen Chef um einen freien Abend für die Aufnahmeprüfung an der Schauspielabteilung des Bruckner-Konservatoriums. Dabei verhasple ich mich so sehr, dass er nur lacht, mich aber gehen lässt. Ich muss es einfach probieren. Aber ernsthaft daran glauben, dass ich diese Prüfung bestehe und aufgenommen werde, kann ich selbst nicht. Als es klappt, sind Freude und Überraschung riesig. Aber trotz der dann folgenden Schauspielausbildung, die ich 1989 in Zürich abschließe, habe ich noch viele Jahre mit der Angst vorm Sprechen zu kämpfen. Zuletzt äußert sich diese Angst darin, dass ich alles, was ich zu sagen habe, schnell loswerden muss. Unzählige Male kritisieren