Название | Johann Stoffel (1899-1970) |
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Автор произведения | Jürg Simonett |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039199723 |
KÖLN
Johann Stoffel meldet sich am 19. Juli 1915 in Zürich ab. Zusammen mit seiner Mutter und dem Stiefvater zieht der Sechzehnjährige nach Köln, mit circa 600 000 Einwohnerinnen und Einwohnern eine richtige Grossstadt. Das Motiv für den Wegzug nach Köln ist offenkundig: Stiefvater Schärer tritt eine neue Stelle an, und zwar als Prokurist in einer Linoleumfabrik, den Rheinischen Linoleumwerken Bedburg. Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass ein Schweizer auf führender Position in einem nordrhein-westfälischen Betrieb tätig sein kann. Doch 1915 ist kein normales Jahr, es ist das zweite des Ersten Weltkriegs. Noch stottert die Kriegswirtschaft nicht im späteren, drastischen Ausmass, aber es fehlt immer mehr an qualifiziertem Personal und an Arbeitern, die fast überall in den Militärdienst eingezogen worden sind. Da greift man gerne auf neutrale Länder wie die Schweiz zurück, die dieses Problem weniger kennen. Der gleiche Mechanismus spielt übrigens auch zwischen dem neutralen Irland und England. Ebenso werden Frauen zunehmend für kriegswichtige Aufgaben verpflichtet.
Wie ergeht es Johann Stoffel in diesen turbulenten Zeiten? Er beginnt mehrere Lehren, bricht diese aber wieder ab. Monatelang liegt er im Krankenhaus, nimmt dann eine Stelle in einer Munitionsfabrik an, wo er ein halbes Jahr beschäftigt ist. In welcher Fabrik er arbeitet, ist nicht bekannt. Die Ärzte und Stoffels Mutter verbieten Johann schliesslich aus gesundheitlichen Gründen die weitere Arbeit in der Fabrik, auch wenn der Lohn doppelt so hoch ist wie bei seiner nächsten Stelle als «Kaffeehaus-Telephonist». In den gut drei Jahren, in denen Stoffel in Köln weilt, gelten zunehmend die strengen Vorgaben der Kriegswirtschaft. Der umfassende Rohstoffmangel tangiert die Konsumgüterindustrie genauso wie die militärische Produktion. Ab 1915 kommt es vor allem in den Grossstädten zu ersten Protesten, ein Jahr später zu ersten Streiks.
Stoffel ist wohl Zeuge dieser Auseinandersetzungen, er berichtet in seiner Autobiografie aber nichts davon. Als er am 9. November 1918 nach Zürich zurückkehrt, ist die deutsche Niederlage absehbar und die Revolution in vollem Gange. Bis zum schweizerischen Generalstreik dauert es noch drei Tage. Stoffel beschreibt seine Kölner Zeit folgendermassen:
Und wir gingen nach Köln a/ Rhein anfangs dem Krieg wo er eine Stelle als Prokurist in den Rheinisch-Linoleumfabriken Bedburg bekam. Nun wurde ich in die Lehre gegeben u. zwar als Mechaniker u. ich hatte auch Freude daran aber da ich sehr schwach war wurde ich krank u. nachdem ich Monatelang im Krankenhaus in Düren lag durfte ich ich wieder nach Hause inzwischen aber hatte mein Stiefvater seine Stellung gewechselt u. nach Köln selbst gezogen. Als ich nun wieder ganz hergestellt war musste ich nochmals in die Lehre u. zwar als Kellner man hatte aber vorher nicht bedacht das ich kaum in die Schule gegangen war u. somit sehr schlecht rechnen konnte aber wir merkten es bald den fast täglich hatte ich zuwenig Geld bei der Abrechnung u. nun musste ich auch hir wieder aus der Lehre u. mein Stiefvater beschuldigte mich das fehlende Geld für mich gebraucht zu haben u. sagte mir alle möglichen schlechten [?] es war nicht wahr ich hatte wirklich zuwenig u habe es nicht für mich gebraucht um keine bösen Worte u. Vorwürfe mehr zu bekommen nahm ich eine Stellung in einer Munitions-Fabrik an es ging nun ein halbes Jahr ganz gut u. ich gab all mein verdientes nach Hause. Sie können darüber meine Mutter fragen aber nach circa 7 Monaten wurde ich wieder krank u lag abermals 10 Wochen im Krankenhaus von dort entlassen untersagten mir die Ärzte die Arbeit in die Munitions-Fabrik wieder aufzunehmen auch meine Mutter wollte mich nicht mehr gehen lassen ich nahm dan auch eine Stelle als Kaffeehaustelephonist an u. zwar im Café Rheinhardt aber der Verdienst war kaum die Hälfte von dem in der Munitions-Fabrik u. mein Stiefvater war wütend u. brach bei jeder Gelegenheit einen Streit vom Zaun u. und bei einem solchen Streite wars als ich ihm sagte er sei ein Tyrann. da griff er zu Hundpeitsche jawoll u. schlug mich bis ich zusammenbrach und drei Tage später ging ich Nachts heimlich von [?] fort da ich nun Angst hatte das man mich suchen würde ging ich zu einem früheren Collegen mit dem ich gearbeitet habe im Caffee Bauer wo ich als Kellner in der Lehre stand der hauste zusammen mit seinen beiden Schwestern in Köln-Deutz u. nun kommt das was mich auf meine jetzige Laufbahn gebrach hatt ich lernte das eine dieser Mädchen lieben das man mich nur ausnützte habe ich nicht gemerkt was ich an Geld besass gab ich hin u. als ich keins mehr hatte wurde ich vom schon erwähnten Bruder belehrt wie wir zu Geld kommen könnten das erste mal ging es gut aber das zweitemal wurden wir erwischt u. ich bekam 3 [?] Monate Gefängnis in welchem sich meine Mutter meiner Annahm.11
ZURÜCK NACH ZÜRICH
Nach Verbüssung von Johanns Strafe reisen Sohn und Mutter wieder in die Schweiz zurück. Die Meldekarten der Einwohnerkontrolle im Zürcher Stadtarchiv geben das genaue Datum an: 9. November 1918.
Da ich hier nicht gleich eine Stellung fand wurde ich von Mutter auch sehr schlecht behandelt u nur um von zu Hause fortzukommen nahm ich die Stelle eines Freiwilligen Grippekrankenpflegers an wo ich wenigsten Kost u Logis hatte u. habe ein Hilfslatzerett Tonhalle u. im Hirschengraben-Schulhaus u. zuletzt im «Riedtli»-Schulhaus unter Dr. Major Suter gepflegt aber auch dieses nahm ein Ende u. ich durfte nicht nach Haus warum werden Sie fragen lassen Sie das Ihnen mündlich mitteilen. Eine Stellung fand ich nicht u. liess mich überreden am Streick mit den Jungburschen teilzunehmen u. ich wurde dan bei dem Putsch am Bezirksgebeude in Zürich arretiert u. nach Chur geliefert.12
Das Jahr 1918 ist für die Schweiz ein Schicksalsjahr. Einerseits steuert die soziale und politische Unrast auf einen nie gekannten Höhepunkt zu. Andererseits bricht spätestens Mitte Jahr die sogenannte Spanische Grippe aus, eine hochansteckende Krankheit, die durch Tröpfchen übertragen wird. Es handelt sich um eine besonders gefährliche Grippe, bei der Lungenentzündung und Blutzersetzung im Extremfall innerhalb von 24 Stunden zum Tod führen. Nicht selten bluten die Angesteckten plötzlich aus Nase und Mund. Die Toten müssen so schnell wie möglich begraben werden. Aus Furcht vor einer Infizierung kommt das gesellschaftliche Leben fast vollständig zum Erliegen. Fast alle öffentlichen Veranstaltungen fallen aus, Schulhäuser und Militärbaracken werden zu Notfallspitälern. Behörden und Ärzte stehen der Katastrophe beinahe hilflos gegenüber, abgesehen von den Schutzimpfungen mit ihrer Präventionswirkung. Harsche Kritik muss insbesondere die Armeesanität über sich ergehen lassen, die auf die Epidemie völlig ungenügend vorbereitet gewesen sein soll.
In der Schweiz leiden circa zwei Millionen Menschen mehr oder weniger stark an der Krankheit. Zwischen Juli 1918 und Juni 1919 sterben 24 449 Menschen infolge der Grippe. Die geschätzten zwanzig bis fünfzig Millionen Grippeopfer weltweit übersteigen die Zahl der Todesopfer des gesamten Ersten Weltkriegs. Während der ersten Grippewelle vom Juli 1918 sterben täglich bis zu 35 Armeeangehörige, was angesichts der engen Unterkünfte und Bunker nicht verwunderlich ist. Im Oktober und November beginnt eine zweite Welle, die durch die weiterhin stattfindenden Streiks einerseits und Truppenaufgebote andererseits noch verstärkt wird und zu gegenseitigen Schuldzuweisungen führt. Eine dritte, weniger starke Welle wird im Januar 1919 registriert. Die Bevölkerung wird aufgefordert, Matratzen und Bettdecken zu spenden, ihre Autos zur Verfügung zu stellen und überhaupt Freiwilligendienste zu leisten. Wie in allen