Название | Johann Stoffel (1899-1970) |
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Автор произведения | Jürg Simonett |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039199723 |
«Der Angeklagte» geht insbesondere auf den Prozess von 1931 vor dem Bündner Kantonsgericht ein. Dieses Kapitel fasst die tatsächlichen oder auch nur behaupteten Delikte von Stoffel zusammen und erwähnt das Strafmass. «Der Schneidermeister» zeigt auf, wie aus einem Kleinkriminellen der Besitzer einer Uniformenfabrik wurde, und «Die Legende» schliesslich beschäftigt sich mit dem «Stoffelkult». Zeugnisse aus zweiter Hand und einige wenige literarische Bearbeitungen des Stoffs führen zur Frage nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Johann Stoffel und dem in diesem Kontext oft erwähnten Robin Hood.
Die Vita des Johann Stoffel
Johann Stoffel ist eine populäre Figur der 20er- und 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Nur sehr wenige heute lebende Personen haben ihn noch persönlich gekannt. Umso freier entwickeln sich Sagen und Legenden. Was jedoch belegt ist: Johanns Startchancen sind nicht gut. Er wird im Frühling 1899 in Vals als uneheliches Kind geboren. Er berichtet in seiner Autobiografie, dass die Dorfbewohner ihn als «Bastard» titulierten. Schon als kleines Kind wird er verdingt. Als seine Mutter heiratet, zieht der Neunjährige mit ihr nach Zürich. 1915 tritt sein Stiefvater eine Anstellung in Köln an. Johann arbeitet dort zeitweise unter gesundheitsschädigenden Umständen in einer der Munitionsfabriken, wo der Verdienst aber angesichts des Arbeitskräftemangels recht gut ist. Noch in Köln begeht der junge Mann jedoch die ersten zwei Diebstähle, beim zweiten wird er ertappt und muss eine siebenmonatige Haftstrasse absitzen.
1918 kehren Mutter und Sohn nach Zürich zurück. In der Schweiz stiehlt Johann Stoffel weiter und gerät während der folgenden zwei Jahrzehnte in einen unglücklichen Kreislauf – Zuchthaus, Arbeitshaus, Gefängnis und neuerliche Delinquenz wechseln sich ab. Seine Versuche, im normalen Arbeitsleben Fuss zu fassen, scheitern spätestens dann, wenn er seinen Namen nennt. Stoffel stiehlt vor allem in den Kantonen Graubünden, Zürich, St. Gallen und Glarus. Seine Vorgehensweise ist fast immer die gleiche: Zuerst rekognosziert er die Lage, wobei er nicht selten Gebäude wählt, in denen er früher gearbeitet hat und die er daher schon etwas kennt. Am einfachsten gestaltet sich dann der nächtliche Einstieg, wenn Fenster offen stehen oder nur angelehnt sind. Nicht selten kann er eine Leiter benutzen, die zufällig herumsteht. An Werkzeug verwendet er fast ausschliesslich Stechbeutel und Schraubenzieher, um etwa Schubladen oder Sekretäre aufzustemmen. Hört er Geräusche, bricht er das Unternehmen sofort ab. Seine Beute besteht meist aus Lebensmitteln, Kleidern, Bargeld, Schmuck, Velos und Briefmarken, also entweder aus Dingen, um seinen Hunger zu stillen, oder solchen, die sich leicht versilbern lassen.
Stoffel ist nicht nur ein gewandter Einbrecher, er bricht auch mehrere Male wieder aus, am spektakulärsten wohl aus der kantonalen Strafanstalt Sennhof in Chur. In zeitgenössischen Quellen wird er oft als wortgewandt und flink beschrieben, nur einen Meter und 57 Zentimeter klein, aber nicht ohne Wirkung auf junge Frauen. Ein Husarenstück leistet er sich im Juli 1929, als er in der gleichen Nacht in den «Sennhof» einbricht und mit gemachter Beute wieder ausbricht. Kein Wunder, dass die kantonalen Institutionen wenig Freude an diesem Kunden haben und sich gründlich gedemütigt fühlen. Sie stellen eigens zwei Landjäger (Polizisten) ab, um Stoffel zu verhaften. Im Herbst 1929 flieht dieser innerhalb eines Monats gleich zweimal aus dem «Sennhof». Das Justizdepartement und die Gefängnisverwaltung müssen sich von der Presse fragen lassen, wie so etwas möglich sei. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen: Stoffel wird Motiv der Churer Fasnachtsplakette von 1930.
1931 muss er vor dem Bündner Kantonsgericht erscheinen. Sein Sündenregister weist schon vor Prozessbeginn allein für Graubünden nicht weniger als dreizehn Vorstrafen, zwei Monate Korrektionsanstalt Realta und fünfzig Monate Gefängnis aus. Die Gerichtsverhandlung ist eine kleinstädtische Sensation mit grossem Publikumszulauf. Es rapportieren nicht nur die drei Churer Tageszeitungen, sondern auch manche Presseerzeugnisse aus der Deutschschweiz sowie aus dem rätoromanisch- und italienischsprachigen Graubünden. Fast alle schlagen einen belustigten und ironischen Tonfall an, wenn es darum geht, über die neuesten Streiche zu berichten. Getreulich wird etwa notiert, wie Stoffel die Polizei dauernd zum Narren hält, bei seinen Raubzügen nie Gewalt anwendet und bei Gelegenheit eine spöttische Nachricht im heimgesuchten Hotelzimmer hinterlässt. Stoffel wird zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt und noch am gleichen Tag wieder in die Strafanstalt Regensdorf überstellt, wo er bereits für seine Zürcher Straftaten einsitzt. Kurz vor dem Churer Prozess hat sich Stoffels Verteidiger in Regensdorf nach dem Verhalten seines Mandanten erkundigt. Die Auskunft war überaus günstig, besonders wurde erwähnt, dass Stoffel im Gefängnis eine Schneiderlehre begonnen hatte. Unklar ist, wann er nach seinen Strafen für Delikte in Zürich, Glarus und Graubünden entlassen wurde.
Das nächste bekannte Datum ist der Oktober 1937, als er im schaffhausischen Thayngen eine Ruth Stamm heiratet. Spätestens 1939 ist Johann Stoffel in Schaffhausen wohnhaft, 1947 zieht er ins benachbarte Herblingen. Er macht eine gutbürgerliche Karriere, zuerst mit einem Schneidergeschäft, dann mit seiner «Schaffhauser Uniformenfabrik». Er spezialisiert sich auf Uniformen aller Art, die er in seiner Liegenschaft in Herblingen produziert, in guten Zeiten mit bis zu 15 Angestellten. 1951 besteht er die Meisterprüfung im «Herrenschneiderhandwerk».
Den Kontakt zu Vals verliert Stoffel nie ganz: Während des Baus der Kraftwerke Zervreila in den 1950er-Jahren verkauft er ein- bis zweimal pro Jahr auf dem Valser Dorfplatz Arbeitskleidung und Textilien für den Hotelbedarf. 1956 beteiligt er sich grosszügig an der Neuuniformierung der Blasmusik. Ab 1968 führen Tochter und Schwiegersohn den Betrieb in Herblingen. Johann Stoffel stirbt am 7. April 1970 im Kantonsspital Schaffhausen.
Der Bastard
Bereits die ersten beiden Lebensjahrzehnte von Johann Stoffel verlaufen – wie der Vita zu entnehmen ist – recht turbulent und unstet. Im Geburtsort Vals wird er gemäss seiner Autobiografie oft geschlagen und auch sonst wie ein Verdingkind behandelt. Die Bezeichnung «Bastard» verdankt er seiner unehelichen Geburt. Im Alter von neun Jahren zieht er mit seiner Mutter, die unterdessen geheiratet hat, nach Zürich. Dort geht er eher sporadisch zur Schule und führt eine äusserst prekäre Existenz. Der Vater ist kaum präsent und bietet keine Unterstützung, die Mutter hangelt sich mühsam von einer kleinen Hilfsarbeit zur anderen. Stoffel berichtet, wie er unter anderem als Ausläufer arbeitet und als Zwölfjähriger mit Seifen und Seifenpulver hausiert.
Der Blick auf Stoffels Jugend, auf seine gesellschaftliche Randständigkeit ist wichtig, um seinen späteren Werdegang zu verstehen. Die zentrale Quelle für dieses Kapitel ist eine kurze Autobiografie, die Johann Stoffel 1931 vor dem grossen Prozess in Chur niederschreibt. Diese Schilderung muss also immer auch im Lichte ihrer juristischen Verwertbarkeit gelesen werden: Sie soll den Delinquenten Stoffel dem Gericht nahbarer machen.
VALS
Stoffels Mutter ist bei Johanns Geburt 23 Jahre alt. Sie ist die Tochter des Johann Stoffel, Taglöhner, und der Monika Schmid.3 Im Zivilstandsregister der Gemeinde Vals ist zu lesen: «10. März 1899, um ein Uhr dreissig Minuten nachmittags, lebend geboren zu Vals, Stoffel Johann, unehelicher Sohn der Katharina Stoffel von Vals, eingetragen auf Anzeige der Grossmutter Monika Stoffel.» Man muss annehmen, dass es Katharina als ledige Mutter im streng katholischen Vals nicht leicht gehabt hat. Die Berufsbezeichnung ihres Vaters, Taglöhner, deutet auf bescheidene wirtschaftliche Verhältnisse hin. Allerdings scheinen Katharina und Johann nicht zum jenischen Zweig der Stoffel zu gehören. Zwar werden Johann in den folgenden Jahren immer wieder typisch jenische Eigenschaften zugeschrieben: «mangelhafte Erziehung, schlechtes Beispiel im Elternhaus sowie eine gewisse erbliche Belastung zum Vagabundentum».4 Eine klare jenische Zugehörigkeit