Johann Stoffel (1899-1970). Jürg Simonett

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Название Johann Stoffel (1899-1970)
Автор произведения Jürg Simonett
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783039199723



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      Vals, mit Blick aus Südwesten, im Jahr 1907, kurz bevor Johann Stoffel mit seiner Mutter nach Zürich zieht.

      Vals hat um 1900 bei der eidgenössischen Volkszählung 736 Einwohnerinnen und Einwohner, ganz ähnlich wie bei den Erhebungen in den Dezennien vor- und nachher. Vals und das Valsertal sind lange Zeit ganz besonders isoliert. Talauswärts liegt die unwegsame Schlucht Richtung Ilanz, in die andere Richtung führt der Weg über den 2502 Meter hohen Valserberg ins Rheinwald, zu den südlichen Pässen und den lombardischen Märkten, auf denen im Herbst das Vieh verkauft wird. Östlich ins Safiental und westlich ins Val Blenio führen nur steile Fusswege. Zu den geografischen Hindernissen kommen konfessionelle und sprachliche Barrieren. Eine wichtige Zäsur bildet der Bau der Fahrstrasse von Ilanz her in den Jahren 1878/79: Vals orientiert sich neu nach Norden. Eine der ganz wenigen Verdienstquellen neben der omnipräsenten Landwirtschaft bietet die Mineralquelle: 1893 öffnen Kurhaus und Badeanstalt. Noch um die Wende zum 20. Jahrhundert existieren eine saisonale Wanderung von Erntearbeitern ins Rheinwald sowie die «Schwabengängerei» vieler Kinder nach Süddeutschland. Vals leidet seit jeher stark unter Lawinen und Überschwemmungen.5

      In dieser kleinen und rauen Welt wächst Johann Stoffel auf. Er selbst beschreibt 1931 seine ersten Jugendjahre rückblickend so:

      Ich bin Vals geb. u. zwar ausserehelich u. war schon als Wikelkind der ganzen Gemeinde ein Dorn im Auge den wie ich später erfuhr war so etwas in der Gemeinde Vals noch nie vorgekomen ich blieb nun bei meinen Grosseltern da meine Mutter in Stellung ging ich wurde aber von meinen Grosseltern förmlich gehasst u. sobald es sich machen liess wurde ich verdingt was für ein Leben ein Verdingkind hat brauch ich Ihnen doch sicher nicht beschreiben u. ich hatte es noch schlimmer als ein Verdingkind im gewöhnlichen Sinne den man sah ihn mir einen Bastard u. sagte mir das auch unverhohlen ins Gesicht wen ich nur einmal ein kleinwenig es auch leben wollte wie andre Kinder dann konnte ich tagelang die Strimen auf meinem Leibe zählen u. ich lernte schon als Bube von 7 bis 8 Jahren hassen alles was mit mir in Berührung kam nie gar nie habe ich Liebe kenne gelernt. S. war ich nun bis zum 9ten Jahre verdingt inzwischen hatte meine Mutter geheiratet aber ohne vorher dem Manne mitzuteilen das sie ein Kind habe u. ich wurde auch von diesem sehr gehasst ehe er mich sah er kam dann mit Mutter um mich zu holen.6

      Tochter Gerdy bestätigt, dass Johann Stoffel in Vals verdingt worden ist; er hatte unter anderem die Glocken zu läuten und die Geissen des Dorfes zu hüten.7 Sein Schicksal ist kein Einzelschicksal. Der Begriff «Verdingkinder» bezeichnet Kinder, die ausserhalb ihrer Familie platziert werden und in der Regel eine Arbeitsleistung erbringen müssen, häufig in der Landwirtschaft. Grund für die Einweisung sind etwa Armut der Familie oder angebliche Immoralität der oft unehelichen Mütter. Auch Scheidung oder Tod der Eltern können zur Fremdplatzierung führen. Verdingkinder, billige Arbeitskräfte, kommen die einweisende Behörde oft günstiger zu stehen als die Unterbringung etwa in einem Heim. Die meist bäuerlichen Familien, die diese Kinder aufnehmen, erhalten von der Fürsorge ein willkommenes Nebeneinkommen.

      Den Verdingkindern geht es am neuen Ort unterschiedlich. Während die einen von ihren Pflegeeltern anständig behandelt werden, gehen andere einen Leidensweg mit krasser Vernachlässigung, Prügeln, sexuellem Missbrauch, Gewalt und emotionaler Grausamkeit. Eine regelmässige Kontrolle der Fürsorgestellen bleibt die Ausnahme. Eine andere Form der Verdingung bildet bis zum Ersten Weltkrieg die «Schwabengängerei» – etwa von Kindern aus den Dörfern des Bündner Oberlandes, die im Sommer nach Süddeutschland wandern und so dafür sorgen, dass zu Hause ein Esser weniger am Tisch sitzt. Nicht selten finden sie ihre neuen Dienstherren auf veritablen «Verdingmärkten». Nach Süden ziehen regelmässig die Spazzacamini, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in Norditalien als billige Kaminfeger arbeiten. Ihr Schicksal beschreibt Lisa Tetzner im Roman «Die schwarzen Brüder».

      Die Institution der Verdingkinder wird teilweise schon im 19. Jahrhundert kritisiert, besteht aber bis weit ins 20. Jahrhundert, etwa für Hirtenbuben auf der Alp. Erst in der jüngsten Vergangenheit wird das Thema vermehrt aufgegriffen. Eine Ausstellung des Rätischen Museums Chur stellt 2010 folgende Fragen: «Was geht in einem Kind vor, das von seinen Eltern getrennt wird und in einem fremden Umfeld aufwächst? Wie bewältigt es das Fehlen seiner Bezugsperson, den Mangel an Geborgenheit, die Ausgrenzung? Wie wird ein Kind dadurch geprägt? Und wie geht es damit in seinem späteren Leben um?» Der Kanton Graubünden kennt eine besonders leidvolle Geschichte der Verdingung und anderer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Die Regierung entschuldigt sich 2017 offiziell bei deren Opfer. In Chur existiert seither ein «Ort der Erinnerung für die Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in Graubünden». Zu Zeiten Johann Stoffels besteht diesbezüglich jedoch bei Behörden und der Gesellschaft kaum ein Unrechtsbewusstsein.8

      ZÜRICH

      Natürlich ist Stoffels Autobiografie wie alle Texte dieses Genres mit Vorsicht zu geniessen. Sie tendieren nicht selten zur Schönfärberei und folgen meist einer bestimmten Absicht. Die Angaben, die Stoffel in seiner Autobiografie macht, sind oft nicht verifizierbar. Seine Bemerkung, er sei das erste uneheliche Kind in Vals gewesen, scheint ganz und gar unwahrscheinlich. Hilfreich zur Überprüfung der Aussagen sind einige Meldekarten der Einwohnerkontrolle im Stadtarchiv Zürich. Am 10. März 1914 meldet sich Stoffel zum ersten Mal in Zürich an, kommend von Vals. Gemäss seiner Autobiografie hält er sich aber seit spätestens 1911 in Zürich auf. Die Angaben stimmen zwar nicht präzise überein, scheinen aber möglich, wenn man Stoffel die ungefähr 17 Jahre zugutehält, die zwischen dem Erlebten und der Abfassung der Erinnerungen liegen.

      Und so kam ich nach Zürich resp. nach Uster wo ich nun ihn die Schule ging aber auch da war es nur kurze Zeit u. mein Stiefvater beging ein Unterschlagung im Betrage von 24000 Fr. u. liess meine Mutter u. mich ihm Elend sitzen mir standen nun Mittel u. Obdachlos da u. gingen nach Zürich wo meine Mutter eine Stellung annahm aber da mein Stiefvater ihr keine Treue hilt versagte Sie sich darin auch nichts nichts und da war ich nun wieder im Wege u. kam in Kost und Logis und zwar ganz in der Nähe es kommt nie ein Unglück allein meine Mutter bekam eine Augenentzündung u. ich allein als 12 jähriger Junge verdiente unsern Unterhalt und zwar indem ich mit Seifen u. Seifenpulver hausierte usw [?] ich habe es gerne getan für meine Mutter aber ich hatte nur erobert dass ich auch nach ihrer Besserung weiterhausieren musste bis man mich 3 bis 4 mal erwischte u. mich 1 ganzen Tag einsperrte u. meiner Mutter drohte das man mich Ihr wegnehme wenn ich noch einmal hausieren gehe. Das half. Und ich bekam eine Stelle als Ausläufer u. war nun von meiner Mutter fort den ich hatte in meiner Stellung Kost und Logis u. sah meine Mutter nur sehr wenig bis dan plötzlich mein Stiefvater wieder auftauchte er wurde auch vor Gericht gestellt aber weil solange Zeit darüber verflossen wurde er freigesprochen.9

      In der Stadt Zürich lebt Johann Stoffel in einem besonderen Quartier. Bis 1893 ist Aussersihl eine eigene Gemeinde, erst dann wird es als Kreise 4 und 5 der Stadt Zürich einverleibt. Damit wird bekräftigt, was schon lange Tatsache ist, nämlich die enge Verzahnung Aussersihls mit der Stadt. Kaum verschiedener könnten hingegen die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse sein: In der Altstadt, im Kreis 1, wohnen vor allem die besser stehenden Einheimischen, im Kreis 4, im Kreis «Cheib», die minder Privilegierten aller Art. Es sind dies vor allem zugezogene Arbeiter und Handwerker, besonders viele Italiener, die in der Baubranche beschäftigt sind. Nicht immer gestaltet sich das Zusammenleben reibungslos, so etwa bei den «Italiener-Krawallen» von 1896. Die Wohnverhältnisse sind im Allgemeinen äusserst bescheiden. Bei der Eingemeindung im Jahr 1893 hat Aussersihl mehr Einwohner als die damalige Stadt Zürich.

      Neben die wirtschaftliche Immigration tritt die politische, auch hier wieder vor allem aus Italien. Es entsteht in Aussersihl eine hochpolitische Gemengelage, mit einer starken linken Übermacht, die auch im täglichen Leben stets präsent ist, wie in den sogenannten Vorfeldorganisationen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, die «Naturfreunde» oder die «Arbeiter-Velofahrer» etwa. Wichtig ist auch die eigene Tageszeitung, das sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Volksrecht. Es bildet sich eine eigentliche Arbeiterkultur mit eigenen Organisationen parallel zu denjenigen des Bürgertums aus.