Giftmord. Kurt Badertscher

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Название Giftmord
Автор произведения Kurt Badertscher
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783039199365



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Recherchen stiess ich auf weitere Zeitungsberichte über den Prozess. Das «Wynentaler Blatt» und die «Lenzburger Zeitung» druckten je einen Zwischenbericht und einen umfassenderen Schlussbericht, der aber nicht so ausführlich ausfiel wie in den auflagenstärkeren Aargauer Zeitungen. Die ausgedehnte Zeitungslektüre verstärkte mein Interesse an dieser Geschichte. In mir wuchs die Überzeugung, dass in diesen Zeitungsberichten nicht die ganze, vielleicht sogar nicht einmal die tatsächliche Geschichte der Wahrsagerin wiedergegeben wurde.

      Meine erste Anfrage beim Staatsarchiv Aarau wurde abschlägig beantwortet. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, dass ausgerechnet von diesem Prozess keine Akten vorhanden sein sollten. Ich hakte nach und bekam nach einiger Zeit den Bescheid, dass die Akten gefunden worden seien. Alle Unterlagen sind in zwei grossen Schachteln im Staatsarchiv gelagert. Die Gerichtsverhandlungen waren mit viel Aufwand vorbereitet worden. Der Indizienprozess wurde vor dem Geschworenengericht geführt. Ein Geständnis der mutmasslichen Täterin fehlte. Nicht in den Archivschachteln zu finden sind das Plädoyer des Staatsanwalts Rauber und die Verteidigungsrede des Fürsprechs Meyer. Deren Ausführungen hatten gemäss den Zeitangaben im Gerichtsprotokoll mehr als vier Stunden gedauert. Vom Plädoyer und der Verteidigungsrede liegen nur die in den Gerichtsberichten der Zeitungen abgedruckten Zusammenfassungen vor. In den Gerichtsunterlagen enthalten sind hingegen die Aussagen der mehr als 70 Zeugen, welche vom Untersuchungsrichter vorgeladen und befragt worden waren. Ich arbeitete mich durch mehrere hundert Seiten Protokolle der Gerichtsverhandlung, Protokolle der Einvernahmen, Polizeiberichte, Gutachten und weitere Unterlagen, welche von der Untersuchungsbehörde zusammengetragen worden waren. Nach der Durchsicht der Zeitungen und Unterlagen im Staatsarchiv kannte ich von Verena Lehner nur die wenigen im Prozess erwähnten Stichworte über ihr Leben. Daraus ergab sich das schemenhafte Bild einer Mutter von 16 Kindern, welche fast Tag und Nacht gearbeitet hatte und in ihren täglichen Aktivitäten die unterschiedlichsten Rollen einnehmen musste: Mutter, Hausfrau und Bäuerin, später Wahrsagerin und sogar Hausbesitzerin. All dies war in den Unterlagen und Zeitungsberichten nur angedeutet. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr war ich entschlossen, Licht ins Dunkel der Lebensgeschichte der Verena Lehner zu bringen. Ich wollte versuchen, der in den Akten knapp beschriebenen Person die Konturen eines Menschen zu geben und ihr Wirken während mehr als 60 Jahren nachzuzeichnen. Deshalb schrieb ich einen ersten Text, eine mögliche kleine Episode aus dem Leben der Verena Lehner.

      Bei einem Lokaltermin im Ryntal schaute ich mich in dem Waldstück an der Suhrer Gemeindegrenze zu Gränichen um. Zwischen den Bäumen stehend, konnte ich mir den Standort des ehemaligen Gehöfts, das Ende der 1950er-Jahre abgebrochen worden war, nicht vorstellen. Später nahm ich mit Frau Lotte Kaufmann-Gehrig in La Chaux-de-Fonds, die auf jenem Bauernhof geboren und aufgewachsen war, Kontakt auf. Sie und ihre Familie waren die letzten Bewohner des «Wahrsagerhauses» im Ryntal, wie sie in ihrer Biografie schrieb. Mit ihr hatte ich einen zweiten Lokaltermin. Im Gespräch vermittelte sie mir ein aufschlussreiches Bild der Lebensumstände auf diesem längst verschwundenen Bauernhof aus der Zeit vor Mitte des letzten Jahrhunderts. Auch konnte sie mir während des Spazierganges den Standort der ehemaligen Gebäude zeigen. Heute ist das Ryntal ein unscheinbares Waldstück, mit einer bewegten Geschichte von Mord und Totschlag, von der die wenigsten Personen etwas ahnen, wenn sie dort vorbeikommen. 1931 war an diesem Ort bei einem Raubmord ein 78-jähriger Bauer umgebracht, seine 72-jährige Frau schwer verletzt worden.

      Ein zweiter Text aus dem Leben der Verena Lehner entstand. Währenddessen überlegte ich, wie die Geschichte dieser Frau, welche zwischen den Zeilen der Zeitungsberichte und Gerichtsakten sowie aus Gesprächen mit Zeitzeugen nach und nach Gestalt annahm, einem weiteren Personenkreis zugänglich gemacht werden könnte. Immerhin lockte der Prozess 1929 gegen 400 Zuschauer in den Gerichtssaal in Aarau, und es ist durchaus möglich, dass die Nachgeborenen ebenfalls am Schicksal der Wahrsagerin aus dem Ryntal interessiert sind.

      Ein Sachbuch, welches sich auf die von mir studierten Zeitungsberichte und Archivunterlagen des Prozesses abstützte, fand ich nicht passend. Mir schien diese Form unbefriedigend, denn die vorliegenden Unterlagen erwiesen sich als wenig umfassend und bescheiden vom Umfang her. Vor allem aber beleuchten sie eine Seite der Geschichte zu stark, die Geschichte einer verurteilten Giftmörderin. Zudem stellte sich mir die Frage, wie meine beiden Episoden aus dem Leben der Wahrsagerin in ein Sachbuch integriert werden könnten. Sollte ich einen zweiten Roman schreiben, in der Nachfolge von Rösy von Känel?

      Oder gab es noch eine dritte Möglichkeit? Vielleicht eine Mischform zwischen historischer Darstellung und fiktiver Erzählung? Als ich mich weiter in das Quellenmaterial der Lebensumstände jener Zeit sowie in die Literatur zu Hexerei, Wahrsagerei und Giftmorden vertiefte, kam ich zum Schluss, dass der dritte Weg ein passender war. Zwischendurch hatte ich eine dritte Episode aus dem Leben der Wahrsagerin geschrieben, basierend auf den Zeitungsberichten und Gerichtsprotokollen. Ich wollte den Versuch wagen, die Figur der Verena Lehner, aber auch die ihres Mannes, ihrer Kinder und ihrer Situation im täglichen Existenzkampf auszuloten. Auch ging es mir darum, die Zeitumstände sichtbar zu machen und die Lebensund Denkweise der Betroffenen aufzuzeigen. Bei der Figur der Verena Lehner war für mich eine Frage von besonderer Bedeutung: Was war ihre Motivation, ihr Antrieb? Geldgier oder Existenzangst? Zugleich interessierten mich auch die Umstände, welche zum Giftmord geführt haben. Ist es denkbar, dass nach den vielen Jahren neue Erkenntnisse gefunden werden können? War tatsächlich Verena Lehner die Täterin, obwohl sie in ihrem Schlusswort nach der Urteilsverkündung des Geschworenengerichts nochmals beteuert hatte, dass sie unschuldig sei?

      Das Buch, das entstanden ist, beinhaltet von mir ausgedachte Geschichten und dazwischen Zeugnisse aus Archiven und Bibliotheken. Geschichte und Geschichten. Dieser dritte Weg ist eine Mischung aus Fakten und Fiktion. Zeitungsberichte, Prozessunterlagen und weitere Quellen wechseln sich ab mit einer fiktionalen Erzählung über eine Familie, vor allem aber eine Frau, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren eigenen Weg einschlug – mit dem oder ohne das Wissen, was schiefgehen konnte, unbeugsam, mit eisernem Willen, denn sie wollte nicht verlieren. Die Geschichte einer Frau, welche als Giftmörderin von Suhr jahrelang im Zuchthaus in Lenzburg eingesessen hatte. Die Geschichte der Wahrsagerin, wie sie sich zugetragen haben könnte.

      PROZESS:

      ERSTER TAG

      AARGAUER TAGBLATT:

      DER SUHRER

      GIFTMORDPROZESS VOR

      SCHWURGERICHT

      NR. 230

      MITTWOCH, 2. OKTOBER

      1929

      Still, adrett wie immer, ein architektonischer Ausdruck der Korrektheit selber, steht das Aarauer Rathaus am Ende der Rathausgasse. Im trüben Schein des Herbstmorgens ist seine Physiognomie vielleicht um ein kleines weniger freundlich als in den langen Tagen herrlichen Nachsommers. Oder sind es die Flügelschatten der Erinnyen, die auf dem Hause liegen? Viel Volk aus allen Ständen strömt hinein. Zahlreicher als sonst zirkulieren Grünröcke treppauf und treppab. Oben im dritten Stockwerk ist der Korridor von einem Teil der 60 Zeugen angefüllt, auf deren Aussagen die sühneheischenden Erinnyen über dem Hause lauschen. Im Saal drin herrscht fühlbare Spannung. Zur Linken auf der Tribüne, dicht vor den drei Fenstern sitzt am schwarzen Tisch der Gerichtshof mit dem Schreiber. Linker Hand zur Seite konzentriert sich in der Gestalt des Staatsanwaltes die furchtbare Anklage. Den Rücken dem Licht des Tages zugewandt, vor sich die Akten, die auf zweifachen Giftmord lauten, sitzt im tiefsten Schwarz der Ankläger. Auf der rechten Seite der Tribüne, ebenfalls in feierlichem Schwarz, folgt mit gespannter Aufmerksamkeit sein Gegenspieler, der junge Verteidiger den Verhandlungen. Ist er besser im Licht platziert, ist’s das grosse, weisse Pochettchen im schwarzen Rock, das Bild ist um eine kleine Nuance weniger schwer, weniger düster, ein ganz klein wenig aufgehellt. Vor der Tribüne der Richter zur Linken reihen sich die Geschworenen und ihnen gegenüber sitzt in der ersten Bank der rechten Saalhälfte die Angeklagte, die ihren Wahrspruch angerufen hat: eine kleine rundliche Frau im weissen Haar, hoch in den Sechzigern, bewacht von einem Soldaten der Kantonspolizei. Das schwarze Schaltuch hat sie sich um die Schultern gezogen; ruhig liegen ihre Hände im Schoss und halten eine kleine schwarze Ledertasche. Ihr Gesicht ist eingefallen, gelb, beinahe wie das Holz der Gerichtsschranken. Die offenbaren Spuren der langen