Gier auf der Waagschale. Dietmar Steinbrenner

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Название Gier auf der Waagschale
Автор произведения Dietmar Steinbrenner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701181599



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Materie durchblicken zu lassen. Dabei war er einfach stolz auf sein Fachwissen. Marianne verstand ihn. Seine erste Einschätzung war vollkommen falsch gewesen. Trotz ihrer neunzehn Jahre war Marianne äußerst gebildet und zudem auch interessiert an den feineren Dingen im Leben. Sie spielte nicht nur die Violine, sie sang auch in einem Chor und ging regelmäßig ins Theater. Das konnte auch mit ihrer Herkunft zu tun haben, immerhin war ihre Familie ehemaliger Hochadel. Aus ihren Erzählungen wusste er, dass ihre erweiterte Verwandtschaft ein kleines Chateau in Deutschland besaß. Es war, als wäre die perfekte Heiratskandidatin für Franz-Josef vom Himmel gefallen. Nach seinen Besuchen trafen sie sich öfters zum Kaffee und schon bald wurden sie vertrauter. Sie unterhielten sich über Kunst und Recht, wobei Marianne ihm einerseits aufmerksam zuhörte, andererseits auch selbst interessante Punkte hervorbrachte. Sie hatte makelloses Benehmen, mit dieser Frau zu einer Theatervorstellung zu gehen, war für ihn ein Genuss. Dass sie ihn einst bei einer Vorlesung genervt hatte, hatte Franz schon längst vergessen. Er hatte das Gefühl, dass sich zwischen ihnen eine Romanze anbahnte, und er konnte es kaum erwarten. Da er den anderen Frauen, die ihn wenigstens auf körperlicher Ebene interessiert hätten, entweder zu ältlich oder zu steif, zu wenig flott oder zu gespreizt war, hatte er bisher noch nicht einmal ein kleines Abenteuer für sich verbuchen können. Er war mittlerweile zwanzig Jahre alt und war nicht nur Jungfrau, er war mit einer Frau noch nie intim geworden. Im Spätsommer 1964 präsentierte sich ihm endlich eine Chance. Marianne lud ihn ein, während der Ferien für ein Wochenende mit ihm in ein Sommerhaus ihrer Familie in Salzburg zu fahren. Franz-Josef konnte sein Glück kaum fassen. Lediglich wie er den Kurzurlaub seiner Mutter erklären sollte, bereitete ihm zunächst Kopfzerbrechen. Seine Mutter hatte sich ihm gegenüber in den letzten Wochen ohnehin ungewöhnlich argwöhnisch verhalten. Er hatte das Gefühl, sie wusste von Marianne. Dabei hatte er ihr nie etwas erzählt. Das Thema Frauen war das einzige, das zwischen Franz-Josef und seiner Mutter immer tabu gewesen war, und daran hielt sie sich zum Glück. Nun musste er ihr aber irgendeine Geschichte auftischen, er konnte ja schlecht einfach verschwinden. Letztendlich nahm er die erstbeste Geschichte, die ihm einfiel.

      „Ein Seminar für Hochbegabte eures Jahrgangs?“

      Für einen kurzen Moment glaubte Franz-Josef, in den Augen seiner Mutter unverhohlene Skepsis zu erkennen. Kaum hatte er diesen Gedanken gefasst, war ihr Gesichtsausdruck schon wieder weicher geworden.

      Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und lächelte. „Gut. Ich bin stolz auf dich.“

      Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort:

      „Vergiss nicht, wo du herkommst. Vergiss nicht, wer du bist. Du bist Franz-Josef Freisinn von Wartenau.“

      Sie sah ihm eindringlich in die Augen. Er verstand damals nicht, warum Mama ihn gerade in diesem Moment so nachdrücklich an seine Herkunft erinnerte.

      Das gemeinsame Wochenende stand unter keinem besonders guten Stern. Auf der Zugfahrt mit der alten Westbahn hatten sich Franz-Josef und Marianne bester Aussicht erfreut, inklusive blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein. Sie hatten den Mittagszug genommen, damit Marianne noch Gelegenheit hatte, ihm die Salzburger Innenstadt am Nachmittag ein wenig zu zeigen. Nach der Ankunft hatten sie nur kurz das Gepäck im Haus ihrer Eltern am Stadtrand abgeliefert und waren dann sofort aufgebrochen. Nach einem langen Spaziergang und einer guten Mehlspeise auf der Terrasse des Café Tomaselli kehrten sie am Abend endlich zurück. Die Sommerbleibe von Mariannes Eltern war durchaus imposant. In dem zweistöckigen Haus gab es genug Betten für sechs Personen, im zweiten Stock blickte man von einem ausladenden Balkon auf die Salzach. Es gab keine anderen Häuser in unmittelbarer Nähe. Die Inneneinrichtung ließ darauf schließen, dass Mariannes Vater entweder leidenschaftlicher Jäger oder zumindest Jagdtrophäen gegenüber nicht abgeneigt war. Allerlei Tierschädel zierten die Wände, unterbrochen nur von wuchtig gerahmten Ölmalereien. All das interessierte Franz-Josef an diesem Abend aber nicht sonderlich. Er hörte Marianne nur mit einem Ohr zu, als sie ihm den Unterschied zwischen Gamskrucke und Hirschgeweih erklärte und ihm erzählte, welche Maler welches Bild zu verantworten hatten. Er konnte sich schon kaum mehr im Zaum halten, so wild machte ihn dieser kleine Engel. Er empfand ihre ausschweifenden Erklärungen als kokett, war er sich doch sicher, dass sie genauso wie er mit einem Auge schon Richtung Bett schielte. Doch Marianne hörte nicht auf, mit ihm über dies und das zu plaudern und Smalltalk zu führen. So richtig näher kam sie ihm den ganzen Abend lang nicht. Am Ende des Abends saßen sie gemeinsam auf dem Balkon und genossen einen Moment die Stille. Marianne seufzte.

      „Ach, Franz, ich freu mich so, dass du mitgekommen bist. Es ist alleine tageweise auch schön hier, man kann sich von dem ganzen Trubel in der Großstadt erholen. Aber zu zweit ist es eben noch schöner“, sagt sie mit einem Lächeln.

      Sie saß so nah neben ihm, dass er ihr Parfum riechen konnte. Es roch süßlich und ein wenig fruchtig. Er wollte nach ihrer Hand greifen, aber da war sie schon aufgestanden.

      „Es ist spät, ich werde mich hinlegen. Wenn du noch wach bleiben möchtest, sieh bitte zu, dass alles verschlossen ist, ja?“

      Franz-Josef schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin auch müde. Ich komme mit.“

      Er folgte ihr bis zu ihrem Zimmer.

      „Gute Nacht, Franz“, sagte sie und wollte die Türe schließen.

      Doch Franz hatte seinen Arm im Weg. Jetzt musste er die Initiative ergreifen, Mut beweisen. Er legte seinen linken Arm auf ihre Hüfte, wollte sie sanft zu sich ziehen und erschrak.

      Sie bewegte sich nicht. „Franz, was machst du da?“

      Er zog stärker. „Das weißt du doch selbst. Ich mache das, worüber wir beide schon den ganzen Tag nachdenken.“

      Sie nahm seine Hand von ihrer Hüfte. Die Enttäuschung traf ihn wie der Rückstoß eines Artilleriegeschützes mitten in die Magengrube. Er musste einen dementsprechenden Gesichtsausdruck aufgesetzt haben, denn Marianne konnte sich ein kurzes Kichern nicht verkneifen.

      „Ach Franz, sei nicht albern. Du hast mich wohl missverstanden. Ich wollte dir keine Hoffnungen machen, das tut mir leid. Aber ich bin nicht an dir interessiert, nicht auf diese Weise. Du bist ein guter Freund, aber du und ich, das würde doch sowieso nie funktionieren.“

      Er hörte ihre Worte nur mehr gedämpft. In seinem Kopf hallte ihr Kichern nach und langsam wich die Enttäuschung einer unglaublichen Wut. Sie hatte ihn an der Nase herumgeführt. Dieses Flittchen, sie hatte ihn die ganze Zeit heiß gemacht und jetzt wollte sie sich davonstehlen, als wäre das alles nur ein Spiel gewesen. Hatte sie wirklich gedacht, einen Freisinn von Wartenau konnte man so behandeln? Er packte ihre Hüfte erneut, und diesmal drückte er fest zu. Franz-Josef mochte körperlich nicht gerade ein Vorzeige-Exemplar darstellen, aber mit einem niederträchtigen, neunzehnjährigen Mädchen konnte er es noch aufnehmen. Bevor sie protestieren konnte, presste er seine Lippen auf ihren Mund und begann sie unbeholfen zu küssen. Es gelang Marianne erst nach ein paar Sekunden, ihn von sich zu stemmen.

      Ihre Stimme war jetzt schrill und panisch. „Spinnst du? Hör sofort damit auf!“

      Er nahm sie grob bei den Armen und brachte sie unter großer Gegenwehr bis zum Bett, das in der Ecke des Zimmers stand. Dann warf er sie auf die Laken, wobei er sich in ihrer Bluse verhedderte, sie vollkommen aufriss.

      „Was bildest du dir ein? Was denkst du, wer du bist?“, schrie sie ihn aus voller Kehle an und richtete sich halb auf dem Bett auf.

      Dieses Weib wollte sich ihm verwehren, ihm!

      „Eingebildete Göre! Sei still!“, brüllte er und schlug ihr derart mit dem Handrücken ins Gesicht, dass sie zurückfiel. Dann war es totenstill. Marianne kauerte mit zerrissener Bluse im Eck des Bettes und hielt sich die Wange. In ihren Augen konnte Franz pure Verachtung sehen.

      Ihre Stimme war jetzt wieder ruhiger geworden. „Du gibst dich als edler Mann, in Wahrheit bist du nichts als ein großes Schwein.“

      Einige Atemzüge lang stand er schnaufend da, während seine Gedanken rasten. Dann stürmte er aus dem Zimmer, holte seinen Koffer und verließ das Haus.

      „Sehr fesch bist du“, flüsterte seine Mutter ihm zu, als sie im Herbst 1966