Gier auf der Waagschale. Dietmar Steinbrenner

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Название Gier auf der Waagschale
Автор произведения Dietmar Steinbrenner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701181599



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war Herbst 1962, als der achtzehn Jahre alte Franz-Josef Freisinn-Wartenau in Wien am Ring aus einer Straßenbahn ausstieg und vor der Hauptuniversität stand. Er wirkte fast ein bisschen verloren, schmächtig und klein vor den großen, geschwungenen Treppen des Haupteingangs. Er war nervös. Was, wenn seine Mutter sich doch geirrt hatte? Wenn das Studium der Rechtswissenschaften doch nicht seine Bestimmung war und er vielmehr zum Tischler geeignet war? Vielleicht hätte er doch den Grundwehrdienst ableisten sollen. Seine Klassenkameraden hatten gemeint, das bilde den Charakter. Er zupfte an der Krempe seines schwarzen Hutes, den ihm seine Mutter zur Matura geschenkt hatte. Unsinn. Mama wusste, was am besten war. Sie hatte bis jetzt noch immer recht behalten. Er sollte dankbar sein, dass Mama ihn davor bewahrt hatte, beim Militär monatelang angebrüllt und gedemütigt zu werden. So etwas war unter seiner Würde. Dass ihm in dem Gefälligkeitsgutachten, das seine Mutter von einem befreundeten Arzt für ihn organisiert hatte, allergisches Asthma attestiert wurde, war ihm zwar unangenehm, aber am Ende hatte es funktioniert, und nur das zählte. Er umklammerte seine Aktentasche fest mit dem rechten Arm, nahm seinen Hut in die linke Hand und betrat die Universität. Zu seinem Wohlwollen fiel ihm sofort auf, dass seine künftigen Kommilitonen ordentlich gekleidet waren. Keiner der anderen jungen Herren war ohne Krawatte erschienen. Hier konnte er nicht falsch sein. Er ging zunächst auf der Suche nach der Fakultät für Rechtswissenschaften etwas unsicher durch die Gänge, fand aber bald einen Lageplan und gelangte kurz darauf zur zuständigen Stelle für Neueinschreibungen. Vor dem Zimmer konnte er hören, wie drinnen ein wahres Gewitter an Tastenanschlägen grollte. Er musste an die Geschichten seiner Mutter denken. Sie hatte ihm oft erzählt, wie viel sie in ihrer Abteilung bei Gericht immer zu tun gehabt hatte. Wie sie einen Raum voller Schreibkräfte bei Ordnung halten hatte müssen. Franz klopfte kurz, dann öffnete er die Tür und trat ein. An einem mit Schreibutensilien und Papier vollgeräumten Tisch gegenüber der Tür saß eine untersetzte Frau mit gekräuselten, aschblonden Haaren und einer dicken, runden Brille. Sie war die einzige in dem Zimmer. Ihre runden Gläser erinnerten ihn an Insektenaugen. Überhaupt glich die Dame einer Gottesanbeterin, die Ellbogen hatte sie nach oben gerichtet und bearbeitete so die Schreibmaschine. Nach ein paar Sekunden unangenehmer Stille sah sie von ihrem Dokument auf, ohne den Kopf zu bewegen. „Was denn jetzt? Brauchen Sie etwas?“

      Er räusperte sich verlegen.

      „Grüß Gott, ich bin hier, um mich einzuschreiben. Für Rechtswissenschaften“, verkündete er feierlich.

      Die Gottesanbeterin sah ihn ungläubig an. „Ja ist schon recht, aber da müssen Sie bitte draußen auf dem Gang hinter den anderen Platz nehmen. Sie werden dann aufgerufen.“

      Sie hob den rechten Zeigefinger, ohne die Hand von der Tastatur zu nehmen, und deutete auf den Gang hinaus.

      Franz senkte den Kopf und verließ das Sekretariat. Tatsächlich warteten fünf angehende Studenten auf ordentlich aufgereihten Stühlen vor dem Zimmer auf dem Gang. Er war so zielstrebig gewesen, er hatte sie gar nicht bemerkt.

      „Tür!“, zischte die Insektenfrau hinter ihm.

      Er schloss die Tür behutsam, ging schweigend an den anderen vorbei und setzte sich auf einen der hellbraunen, stoffbezogenen Sessel.

      „Ganz schön grantig, die Gute. Nicht wahr?“, raunte sein Sitznachbar.

      Franz sah verlegen zu ihm auf. Sein Nachbar hatte dunkelbraune, kinnlange Haare, die gar nicht zu seinem kantigen Gesicht passten.

      „Ja, sie scheint etwas ungehalten“, erwiderte er und lächelte gequält.

      „Naja, sie sitzt den ganzen Tag hier in dieser Kammer, da muss man ja schlechte Stimmung haben“, sinnierte der Bursche weiter.

      Nach einer kurzen Pause beugte er seinen Kopf näher zu Franz, woraufhin dieser etwas zurückwich.

      „Wahrscheinlich ist sie einfach unbefriedigt“, raunte er leise.

      Franz wusste nicht, was er darauf sagen sollte.

      „Du weißt schon“, der Bursche bewegte zwei Finger in der Luft, als würde er etwas reiben.

      Franz sah auf den Boden. „Nein, ich weiß nicht.“

      Ihm war nicht klar, wovon sein Sitznachbar sprach, aber er hatte keine Lust mehr, weiter mit ihm zu reden.

      „Ungeöltes Getriebe quietscht eben.“

      Der kantige Mann lachte leise und klopfte Franz auf die Schulter, der reflexartig zusammenzuckte und den Fremden zornig ansah.

      „Das ist wohl wirklich nicht passend. Und lustig ist es auch nicht. Lassen Sie mich in Frieden.“

      Die Situation war ihm peinlich, er kannte diesen Mann doch gar nicht. Was, wenn den unverschämten Herren am Ende noch jemand hörte? Der Sitznachbar setzte mit einem Grinsen im Gesicht zur nächsten Bemerkung an, da unterbrach ihn Franz scharf. „Jetzt ist es wirklich genug.“

      Der Fremde sah ihn kurz stutzig an, dann schüttelte er den Kopf und wandte sich ab. Das hatte sich Franz anders vorgestellt. Zuerst beflegelt und dann noch vulgär angeredet, und das in der Ausbildungsstätte für die Richter und Anwälte des Landes. Als er später nach Hause kam und seine Mutter am Fauteuil sitzend und lesend im Wohnzimmer antraf, erzählte er ihr nichts von diesen Enttäuschungen. Er erzählte ihr, er sei mit offenen Armen empfangen worden und hätte gleich Freunde gemacht.

      Im Laufe des Studiums wurde es für Franz-Josef nicht leichter, was seine Mitmenschen anging. Er fand keinen richtigen Zugang zu seinen Kommilitonen. Die meisten empfand er als frech, vorlaut und grob. Die Fakultät für Rechtswissenschaften hätte man damals nicht gerade einen Hafen für revolutionäres Gedankengut genannt. In diesem Umfeld stellten junge Männer die Welt ihrer Väter kaum in Frage, eher versuchten sie den Familienoberhäuptern nachzueifern. Frauen waren in der Minderheit. Die wenigen Studentinnen, die durch die Gänge der Universität spazierten, trugen Rock und Bluse und wurden den ganzen Tag lang von ihren männlichen Kollegen angeflirtet. Von Studentenprotesten war nichts zu spüren, eher wollten die angehenden Anwälte möglichst schnell zu einem Abschluss kommen, um ihre eigene Karriere starten zu können. Und doch, selbst in dieser konservativen Umgebung stach Franz-Josef hervor. Er gab sich immer etwas zu korrekt, was seine Altersgenossen unter Spaß verstanden, waren für ihn ungehobelte Frechheiten und billiger Gossenhumor. Wenig überraschend kam sein geziertes Gehabe bei anderen jungen Studenten nicht sonderlich gut an. Dazu kam, dass er aussah, als wäre er direkt vom Hof des letzten Kaisers angereist. Hut, Schal, Mantel und Aktentasche hatte er immer bei sich. Sein blasses, rundliches Gesicht wirkte durch seine dicke Hornbrille noch runder. Obwohl er keine Freunde hatte, war er doch schnell jedem seiner Studienkollegen ein Begriff. Sie vermuteten in ihm einen eitlen, besserwisserischen Snob, der sich zu gut für ihresgleichen war. In seinen Augen strahlte er Unnahbarkeit und Überlegenheit aus, weswegen es ihm auch kaum etwas ausmachte, dass ihn Gleichaltrige mieden.

      Das erste Jahr ging vorbei, und Franz-Josef hatte sich an der Universität gut eingelebt. Mit seinen Abgaben war er stets pünktlich, bei Vorlesungen war er strebsam und wach. Klubs oder studentischen Vereinigungen blieb er bewusst fern, bei abendlichen Trinkgelagen traf man ihn nie an. Hochmütig blieb er der stolze Außenseiter, schloss keine Freundschaften und litt heimlich unter dem Spitznamen, den man ihm bald verpasste: Franzpepi, die jungfräuliche Greisin. Er tröstete sich damit, dass diese gemeine Verballhornung nur die Erfindung neidischer Proleten sein konnte, denen sein schöner Adelsname ein Dorn im Auge war. Seine Apanage besserte er durch Nachhilfe für Studienversager auf, von denen es genügend gab. Auch die besten seiner Kollegen waren im Vergleich zu ihm höchstens mittelmäßig, und so gab es für ihn immer jemanden zu unterrichten. Mit dem verdienten Geld legte sich Franz-Josef eine Pfeife zu, weil er fand, dass sein rundes Kinn dadurch markanter wirkte. Aber bald verleideten ihm der Tabaksaft im Mund und an den Fingern sowie das ständige Putzen der Pfeife diesen Genuss. Er fand Ersatz im Rauchen von Zigarren, die er sich meist am Abend genehmigte. An Wochentagen rauchte er die preiswerte, heimische Marke Großglockner, und zu besonderen Anlässen wie etwa dem Namenstag seiner Mutter gönnte er sich kubanische Romeo y Julieta. Dazu trank er anfangs, wenn er zuhause in seinem Fauteuil saß, Cognac oder Whisky, hatte aber anschließend immer schreckliches Kopfweh und beließ es schließlich bei einem