Название | Gier auf der Waagschale |
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Автор произведения | Dietmar Steinbrenner |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783701181599 |
„Franz-Josef, was machst du denn?“
Er überlegte. „Ich gehe in ein Konzert, Mama.“
Kurze Stille.
„Welches Konzert? Ohne mich? Wir wollten doch erst nächste Woche ins Akademietheater gehen“, sagte seine Mutter etwas leiser und mit hörbarer Enttäuschung in der Stimme.
Jetzt wurde er ungeduldig.
„Ja, du hast recht, aber heute gehe ich mit Kollegen von der Universität.“
Wieder war es einige Sekunden still.
„Ist das ein guter Umgang für dich?“
Für einen Moment nahm er die Hand von der Türklinke und schloss die Augen. Sofort füllte sich sein Kopf mit dem Spalt in der weißen Bluse. Diesmal wusste sie nicht, was am besten für ihn war.
„Mama, ich komme noch zu spät. Ich erzähle dir nachher alles.“
Er öffnete die Tür und ging.
Obwohl es ein angenehmer, lauwarmer Abend war und eine leichte Brise wehte, war Franz-Josef heiß. Sein Kopf war hochrot, das konnte er spüren. Es fühlte sich an, als würde Heizwasser durch seine Adern gepumpt. Er war sich gar nicht sicher, was er eigentlich tat. Das heißt, tief in sich wusste er ganz genau, was er tat und wohin er gerade ging. Nur den Gedanken hatte er noch nicht ausformuliert, wollte er nicht ausformulieren. Wie ferngesteuert marschierte er durch die Straßen Wiens, von seinem Heimatbezirk Landstraße aus bis in die Innenstadt. Er nahm die Welt um sich kaum wahr, rang immer noch mit sich selbst und wollte sich nicht eingestehen, was ihn überkommen hatte. Eine halbe Stunde später stand Franz-Josef vor einem unscheinbaren Gebäude in der schmalen Sonnenfelsgasse. Um diese Uhrzeit war die Gasse menschenleer. Die Gegend kannte er von kleinen Botendiensten zu einer Anwaltskanzlei eine Straße weiter, die er für einen seiner Professoren übernommen hatte. Dabei war er mehrmals tagsüber durch diese Gasse gegangen und hatte es gesehen, das kleine Schild über der dezent verzierten Tür. Josefine stand da in geschwungenen Lettern auf einem weißen Schild, darunter war ein rotes Herz. Von einem seiner Nachhilfeschüler, der ihn wohl mit frivolen Geschichten ärgern wollte, hatte er erfahren, dass das Josefine ein kleines, intimes Puff war.
„Ich sag dir, da wird höchster Wert auf Professionalität, Hygiene und so weiter gelegt, also wirklich eine feine Sache“, hatte sein Kollege noch kichernd hervorgebracht, bevor Franz-Josef ihn zurechtgewiesen hatte.
Die Tür hatte keine Klinke, nur ein Schloss war außen angebracht. Ansonsten erregte sie kein Aufsehen, auf den ersten Blick würde wohl kaum jemand ein Lusthaus dahinter vermuten. Keine Neonfarben, keine Verzierungen aus Falschgold. Franz-Josef sah sich um und lauschte, ob er etwas von drinnen hören konnte. Stille. Er rieb sich seine inzwischen schwitzig gewordenen Hände und starrte auf die kleine Glocke neben dem Eingang. Dann hörte er etwas. Gelächter hinter der Straßenecke zu seiner Rechten, zwei Frauenstimmen, die sich unterhielten. Blitzschnell drehte er sich nach links und ging beinahe im Laufschritt die Straße entlang. Was hatte ihn nur getrieben? Wie konnte er sich von so einem Flittchen nur zu so etwas hinreißen lassen? Er war doch ein kultivierter Mensch! Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Fast war er schon an der Straßenecke abgebogen, da rief ihm eine Frau hinterher:
„Entschuldigung, Moment!“
Er blieb wie ertappt stehen und drehte sich langsam um. Vom anderen Ende der Straße her kamen zwei junge Damen auf ihn zu, eine von ihnen winkte energisch. Als sie bei ihm angelangt waren, erkannte er sie.
„Hab ich’s mir doch gedacht, der Franzpepi!“
Es war die Freundin, mit der das Mädchen mit der weißen Bluse während der Vorlesung geplaudert hatte. Ihre Begleitung kannte er nicht.
„Ah, grüß Gott die Damen! Ist ja interessant, wo man sich so begegnet.“
Er konnte fühlen, wie sein Herz in die Hose sank. Was wenn diese Tratschtante eins und eins zusammenzählen konnte, sie würde bestimmt bei nächster Gelegenheit dem gesamten Jahrgang davon erzählen, dass „Franzpepi“ ein Puffgeher war. Da war er sich sicher.
„Ich hab dich gleich erkannt“, sagte sie und deutete auf seinen Hut.
Er griff sich an die Hutkrempe. „Hm, ja. Ich glaube, wir haben uns im Grunde noch gar nicht vorgestellt“, stammelte er.
Sie schlug sich auf die Stirn. „Entschuldige bitte, du hast natürlich recht. Darf ich vorstellen, das ist meine gute Freundin Eva, sie ist aus Hannover zu Besuch“, sie deutete auf ihre Freundin, woraufhin Franz-Josef seine Hand starr von sich streckte.
„Und ich heiße Marianne.“
Erst jetzt, als er Marianne die Hand schüttelte, fiel sie ihm so richtig auf. Sie war auf den ersten Blick keine klassische Schönheit, aber die Sommersprossen auf ihren hellen Wangen, die ihre blauen Augen untermalten und von rötlich blondem Haar umschmiegt wurden, gefielen ihm.
„Franz-Josef. Für meine Freunde Franz, keine anderen Spitznamen.“
Sie lächelte. „Verstehe. Franz, ich möchte ja wirklich nicht unhöflich sein, aber Eva und ich werden zuhause erwartet, wir müssen weiter.“
Er nickte. „Selbstverständlich, wir sehen uns dann im Hörsaal.“
Sie schüttelte den Kopf und lachte. „Ach nein, ich studiere ja gar nicht Rechtswissenschaften. Ich habe nur eine Freundin in der Vorlesung besucht, eigentlich studiere ich Musik. Du und dein Hut sind mir aber im Hörsaal gleich aufgefallen, da habe ich nach dir gefragt. Bei einer Vorlesung sehen wir uns also nicht. Aber ich habe einen Vorschlag, wie wäre es, wenn du zu einer meiner Proben kommst?“
Franz-Josef stand da, wie versteinert. „Ja, warum denn nicht? Wenn ich die Zeit finde, gerne.“
Sie nickte, holte einen Notizblock aus ihrer Handtasche, schrieb Datum und Uhrzeit ihrer nächsten drei Proben auf einen Zettel und drückte ihn Franz-Josef in die Hand.
„Sehr fein. Bis dann, Franz!“
Die folgenden Wochen verbrachte er wie im Delirium. Noch nie hatte er etwas oder jemanden so begehrt, wie er Marianne von Hegelsmark begehrte. Nachdem er sie zum ersten Mal bei ihrer Violinprobe besucht hatte, war er gleich zu den beiden anderen Terminen auch erschienen. Sie verstanden sich, was für ihn an ein Wunder grenzte. Jegliche Interaktion mit gleichaltrigen Frauen war in seinem jungen Leben bis jetzt im besten Fall nervtötend gewesen, im schlimmsten Fall katastrophal. Andere Studentinnen