Sibylle oder Die Zugfahrt. Gerhard Gaedke

Читать онлайн.
Название Sibylle oder Die Zugfahrt
Автор произведения Gerhard Gaedke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701180547



Скачать книгу

bis Samstag, nur abends. Eine Küchengehilfin und Paola, eine hübsche Italienerin, als umsichtige Servierkraft. Eine Vitrine mit kalten Vorspeisen, eine kleine Tageskarte, italienische Weine, deutsches Bier, Brot vom örtlichen Bäcker.

      Es war dann an einem Samstagabend, die letzten Gäste waren gegangen. André saß diesmal auf der anderen Seite der Theke und bat Paola um ein Glas Bier.

      Zufrieden?, fragte sie André.

      Erschöpft, antwortete er ihr, aber er lachte dabei. Er müsse ihr aber gestehen, dass es ihm zunehmend schwerer falle, die täglichen Menüs zusammenzustellen. Ihm fehle die Kreativität der ersten Zeit. Es habe sich totgelaufen.

      Paola warf ein, dass er monatelang keinen Urlaub genommen habe. Sie dachte dabei auch an sich, auch sie war ausgelaugt, die Beziehung mit ihrem George war vermutlich deswegen, auch deswegen, korrigierte sie sich, in Brüche gegangen. Insgeheim hoffte sie, dass sie André für ein paar Tage mitnehmen würde. Man kennt sich, vermeidet Anfangsfehler, die einer neuen Beziehung eigen sind, kein Probelaufen, man könnte gleich zur Sache kommen. Vielleicht würde daraus auch mehr.

      Vielleicht hast du recht, antwortete er. Aber der Umsatzverlust, jetzt kämen die umsatzstärksten Wochen, bis Weihnachten müsse er durchhalten. Und was die fehlende Kreativität betreffe, würde er auf seine Kochbücher zurückgreifen.

      Das sei nicht authentisch, warnte Paola, die Gäste würden das merken, ein- bis zweimal noch kommen und dann ausbleiben.

      Aber er sei ausgebrannt, leer.

      Drei, vier Tage London, Paris, Rom, Wien, vielleicht auch nur Triest oder Zürich mit dem Auto, mein Gott, jede Stadt biete doch genügend Spannung oder Entspannung und danach Inspiration.

      André versprach darüber nachzudenken.

      Paola ergriff seine Hand. Vielleicht fehlt dir auch nur eine große Portion Zuneigung?

      Vielleicht, antwortete André.

      Paola schenkte den Rest einer geöffneten Champagnerflasche in zwei Gläser. Morgen ist Sonntag, sagte sie, auch ihr fehle eine Portion Zuneigung.

      André sah sie an, atmete tief durch, trank das Glas mit einem Zug aus und fragte Paola aus einer augenblicklichen Laune he­raus, worauf sie dann noch warte, und löschte das Licht im Lokal. Plötzlich war seine Müdigkeit verflogen, er drehte sich mehrmals beschwingt auf dem Gehsteig vor Paola und fing zu singen an. Er dachte kurz daran, dass seine letzte Beziehung vor mehr als einem halben Jahr von dieser Silvia beendet worden war.

      Die Wohnung war klein, die Puppen auf der Vitrine fielen ihm auf. Paola, eben eine Frau, dachte er.

      Als André am Morgen erwachte, hörte er Paola schon in ihrer Küche arbeiten. Er schloss die Augen und schlief wieder ein. Erst als sie laut „Bon giorno“ rief, schlug er wieder die Augen auf. Frühstück bei Paola, rief sie ihm zu und lachte. Frühstück bei Paola, wiederholte er und erinnerte sich dabei, dass sie noch, bevor sie im Bett landeten, Urlaubspläne gewälzt hatten. Der Bäcker habe Sonntag geschlossen, entschuldigte sie sich, aber Knäckebrot mit selbstgemachter Marmelade müsse doch nach so einer schönen Nacht auch genügen. Der Kaffee tat André gut. Wir machen uns einen schönen Tag, sagte er zu Paola, aufräumen könne er das Lokal auch am Abend. Er würde sich nur gerne umziehen und schlug einen Ausflug zum nahen See vor. Man kann dort ein Boot mieten, ergänzte er.

      Paola strahlte und er versprach, sie um elf Uhr abzuholen.

      Auf der Straße zündete André sich eine Zigarette an und freute sich auf die kommenden Stunden. Ein wenig hatte er sich in den letzten zwölf Stunden in Paola verliebt. Wie Paola gemeint hatte, dass ihm Zuneigung gefehlt habe. Und die Puppen fielen ihm wieder ein.

      Aus dem Klein-LKW, der vor seinem Wohnhaus parkte, entluden vier kräftige Männer ein Klavier. Wer bekommt in unserem Haus ein Klavier? Ohne zu fragen, ging er an ihnen vorbei. Er duschte sich und zog sich passend für den geplanten Ausflug an. Im Stiegenhaus traf er wieder auf die Klavierträger. Gott sei Dank nur in den zweiten Stock, meinte einer der Männer, zur Japanerin.

      Tatsächlich war vor einigen Tagen eine neue Mieterin eingezogen. Yukiko hatte er auf dem Briefkastenschild im Hausflur gelesen, den Nachnamen vergessen. Er nahm sich vor, in den nächsten Tagen bei ihr anzuläuten und sich vorzustellen, Neugier schwang dabei mit.

      Obwohl es ein herrlicher Oktobertag war und sie nur wenigen Booten auf dem See begegneten, war André einerseits mit seinen Gedanken beim Menüplan für die kommenden Abende, andererseits ging ihm die neue, ihm unbekannte Mieterin nicht aus dem Sinn, er wiederholte still ihren Namen, Yukiko.

      Du bist abwesend, sagte Paola.

      Er entschuldigte sich. In den See springen und einfach untergehen, dachte er, dann ergriff er die beiden Ruder und trieb das Boot so kräftig an, dass sie fast kenterten.

      Komm, lass mich, bat Paola und sie tauschten die Plätze, tranken dann noch einen Kaffee bei der Bootsanlegestelle und fuhren anschließend nach Hause. Die Arbeit rufe, damit verabschiedete er sich von Paola. Ja, er rufe sie morgen an. Ciao, rief sie ihm nach. Ciao, wiederholte er.

      Statt ins Restaurant fuhr er nach Hause, Sonntagnachmittag könnte er sicher einen Besuch bei seiner neuen Nachbarin machen, dachte er und läutete an ihrer Wohnungstür. Eine hübsche, schwarzhaarige, mittelgroße junge Frau, er schätzte sie auf Anfang ٣٠, öffnete.

      Bitte?, fragte sie mit einem ihn fast belustigenden Akzent.

      André stellte sich als Mitbewohner des Hauses vor. Unter ihnen, sagte er und deutete dabei mit der Hand auf den Fußboden, First Floor, ergänzte er in der Annahme, sie würde englische Konversation bevorzugen.

      Sie lächelte und bat ihn herein. Ob er Tee möge, fragte sie.

      André bejahte.

      Sind sie Musikerin?, fragte er, während sie ihm Tee in seine Tasse goss.

      Ja, sie unterrichte an der örtlichen Musikschule, sie habe in Salzburg studiert. Sie liebe Mozart, ergänzte sie, wie alle Japaner.

      Dann schwieg sie, sodass André die Initiative ergriff und das Gespräch fortsetzte. Er sei Koch, habe sein eigenes Restaurant, „Genussbar“, er nannte ihr die Adresse und die Öffnungszeiten, was er kurz darauf bedauerte, es musste für seine Gesprächspartnerin wie eine Einladung zu Besuch und Konsumation aussehen.

      Sie komme aus Seto, das liege in der Nähe der Stadt Toyota, Vater und Bruder seien Keramiker, sie dagegen habe die Liebe zur Musik schon früh entdeckt.

      Lieben Sie klassische Musik?, fragte sie André.

      Er habe sich, gestand er ihr, damit nicht näher beschäftigt, aber Mozart kenne er natürlich. Dann dachte er nach und Ravel fiel ihm ein, und Gershwin, natürlich Beethoven und Tschaikowski. Und Salieri, den Gegenspieler von Mozart, erwähnte er und die Préludes von Debussy.

      Seine Gesprächspartnerin applaudierte, setzte sich ans Klavier und spielte eine ihm bekannte Melodie. Ravel, sagte sie und blickte sich zu ihm um, ihre zarten Finger glitten über die Tasten.

      André war von dieser ersten Begegnung stark beeindruckt, war es das Fremdländische? Wer hatte in der Stadt schon Kontakt mit einer Japanerin? Jetzt er, dachte er und sah es als Glücksfall. Noch nie hatte er auch nur wenige Worte mit einer Asiatin gewechselt. In Paris gesehen, neben einer Nationalchinesin im Flugzeug gesessen. Ja, natürlich in einem japanischen Restaurant gegessen, aber das kann man nicht mit dem, was er meinte, vergleichen. Spontan sprach er eine Einladung aus und schlug vor, am nächsten Tag, das Restaurant hatte ja Montag geschlossen, für sie zu Hause zu kochen. Da haben Sie es nicht weit nach Hause, sagte er.

      Sie dachte kurz nach. Vormittag unterrichte sie, Nachmittag müsse sie sich auf ein Konzert vorbereiten, aber abends habe sie frei. 20 Uhr?

      Er nickte. Kaum war er in seine Wohnung zurückgekehrt, nahm er Papier und Bleistift zur Hand und überlegte, was er kochen werde. Es fiel ihm nichts Passendes ein, was seinen Gast begeistern könnte. Dann hörte er plötzlich Klaviermusik. Seine japanische Nachbarin spielte die Préludes von Debussy, vielleicht für ihn?, fragte er sich. Und augenblicklich