Sibylle oder Die Zugfahrt. Gerhard Gaedke

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Название Sibylle oder Die Zugfahrt
Автор произведения Gerhard Gaedke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701180547



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Im größeren Paket fand ich einen schicken Norwegerpullover vor, einen ähnlichen hatte ich als Student in Heidelberg getragen, dann noch ein kleines Modell eines VW-Käfers aus den 80er-Jahren und ein antiquarisches Buch von Hemingway, Der alte Mann und das Meer. Kurz kam Ärger auf. Der alte Mann … Dann schlug ich die erste Seite auf. Weihnachten 1985. Deine Ilse.

       Ilse! Dass es mir nicht früher eingefallen war! Damals trug ich einen Norwegerpullover, ich glaube, sie hatte ihn mir auch damals geschenkt. Und der VW-Käfer war ein Fingerzeig auf das Auto, das ich damals besessen hatte.

       Wie hatte sie mich entdeckt? Ich las die Karte.

       Du warst ein wunderbarer Mann, in den ich mich Hals über Kopf verliebt hatte. Klug und auch romantisch. Mit dir hat es sich das erste Mal richtig angefühlt. Wir waren auf dem Uni-Ball, haben im Regen getanzt und am Ende saßen wir auf einer Parkbank und haben Wein getrunken. Und irgendwann haben wir uns geküsst. Dann waren wir ein Jahr lang ein Paar.

       Ob ich es aushalte, wenn du ein Jahr nach Berlin gehst, hast du mich gefragt. Ich habe bejaht.

       Dann aber kam Jörg. Er war reifer und älter als wir. Er kaufte mir Kleider mit tiefen Ausschnitten und Schuhe mit hohen Absätzen. Ich fand sie schick, auch wenn sie mir beim Gehen weh taten. Später erinnerte ich mich daran, als du mir ein rotes Kleid gekauft hattest, dass ich enttäuscht war, weil es so bieder ausgesehen hatte. Deine Reaktion? Ein rotes Kleid braucht keinen aufregenden Ausschnitt.

       Mir fiel alles wieder ein. Jörg, dieser Angeber, mit seiner Anwaltei in den Konkurs gerutscht. Auch an den Satz mit dem roten Kleid erinnerte ich mich.

       Du warst natürlich enttäuscht, bliebst in Berlin. Nicht einmal deine persönlichen Sachen wolltest du nachgeschickt bekommen. Briefe hast du nicht mehr beantwortet und ich habe dich aus den Augen verloren. Ich konnte dir dann auch nicht mehr schreiben, dass ich dich wollte. Es war leider schon zu spät. Dann kamen andere, für kürzere oder längere Zeit.

       Ich nickte stumm mit dem Kopf.

       Aber dann las ich durch Zufall den Artikel über den letzten Leuchtturmwärter. Ich habe dich nach all der Zeit gleich erkannt – und da war ja auch noch dein Name.

       P.S. Das Weihnachtsmenü habe ich in meiner Kochschule in Hamburg gekocht.

       PP.S. Darfst du Besucher empfangen?

       Ilse

      Ich dachte nach. Zwischen damals und heute lagen fast 30 Jahre. Ihren Verrat hatte ich lange nicht verkraftet. Und jetzt lockt sie mich aus meinem Wohlfühlleben. Ilse, störe meine Kreise nicht.

       Nein, Ilse darf.

       Ich schrieb am Weihnachtsabend einen langen Brief, unter Einfluss des französischen Rotweines, den sie mir mitgeschickt hatte. Eine Woche darauf kam ihre Antwort und ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, was in meinem Brief gestanden war. Also schrieb ich wieder, wie es mir ging, vom Sturm, dem aufgewühlten Meer und den Möwen. Ich vermied es, das Ende meines Robinsondaseins bekanntzugeben. Ich wollte trotz des Briefwechsels mein restliches Inselleben genießen.

      Dann vergingen wieder zwei Wochen, eben ein Briefverkehr wie zu Zeiten der Postkutsche, dachte ich. Und dann wieder zwei. Dann waren die letzten Tage da und Hektik stellte sich ein. Langsam musste ich mich auf das Landleben einstellen. Daher rasierte ich mich so gut es ging und bat Oskar beim nächsten Besuch, mir behelfsweise die Haare zu schneiden, er hatte einmal erwähnte, dass er eine Friseurlehre begonnen, dann aber abgebrochen hatte. Ich blickte in den matten Spiegel. Statt Defoes Robinson erblickte ich wieder mich.

       Ich nahm Abschied. Den Inselmöwen versprach ich, wiederzukommen.

       Die Mitarbeiter der Küstenbehörde hatten einen kleinen Empfang vorbereitet und auch die Presse dazu eingeladen. Ob ich ein Buch über meine Auszeit schreiben werde, wurde ich gefragt.

       Man habe mich auf eine Idee gebracht, antwortete ich. Dabei schien mir, als bewege sich der Boden unter meinen Füßen.

       Als ich zum Aufbruch mahnte, kam eine Frau auf mich zu. Unter ihrem Mantel trug sie ein rotes Kleid. Unverkennbar Ilse. Die gleiche Frisur, die gleichen flachen Schuhe, wie ich es immer geliebt hatte.

       Es gebe statt der Brötchen ein Rückkehrmenü.

       Was sie unter Rückkehrmenü verstehe, fragte ich.

       Statt einer Antwort küsste sie mich und zog mich zu ihrem Auto.

      Ich schlug das Büchlein zu und sah hinaus auf das vorbeifliegende Wolkenband. Meine Frau öffnete die Augen und lachte mich an.

      Gedanklich bei deiner Ilse?, fragte sie.

      Man erwarte Turbulenzen, man möge sich anschnallen, tönte es aus dem Cockpit.

      Leicht errötend blieb ich meiner Frau eine ehrliche Antwort schuldig.

      Charlotte

      Das Thema Charlottes Leben nach mir beschäftigte mich seit geraumer Zeit. Immer wieder kam ich darauf zurück.

      Begonnen hatte alles mit der Visite beim Augenarzt. Hartmut. Während er mir eine Flüssigkeit ins Auge tropfte, sie sei harmlos, richtete er mir Grüße an die charmante Gattin aus. Wie es ihr gehe, wollte er wissen. Fragt er sie bei ihrer Untersuchung, wie es mir gehe? Wie oft ist eine Routinekontrolle eigentlich zu empfehlen? In meinem Alter, so seine Meinung, einmal jährlich. Charlotte klagte regelmäßig darüber, dass sie eine Augenentzündung habe, ein Flimmern bemerke, ihre Tränendrüsen verstopft seien, sie eine neue Lesebrille benötige, ein dringender Termin beim Augenarzt zu vereinbaren sei. Und während er mir das zweite Auge eintropfte, kam mir der Gedanke, ohne Vorwarnung, sozusagen aus heiterem Himmel, dass dieser Hartmut nach meinem Ableben seine Blicke – Augenblicke! Ich lachte über das Wortspiel – auf sie richten würde. Ich habe Ihnen ja schon öfter in die Augen gesehen – ich kann die Sätze dieser Hyäne förmlich von seinen Lippen ablesen. Selber Jahrgang wie ich, aber bereits zweimal geschieden, hatte er mir bei einem meiner Besuche erzählt. Beide Male habe ihn das ein Vermögen gekostet, er habe vielleicht den falschen Anwalt zur Seite gehabt.

      Vertreten Sie auch Mandanten in Scheidungsangelegenheiten?, diese Frage stellte er mir, während er meinen Augenhintergrund begutachtete.

      Ich verneinte.

      Schade, sagte er, mit Ihren Augen, Ihren Sehnerven und der guten Durchblutung müssten Sie mehr sehen als Ihre Kollegen! Dabei lachte er.

      Nur die Anwesenheit seiner Assistentin hinderte mich daran, seine Wortspiele fortzusetzen. War er denn blind bei der Wahl seiner Frauen?

      Ich bedankte mich für seine Expertise, versprach, die Grüße ausrichten zu wollen, und verabschiedete mich. Kurzerhand hatte ich beschlossen, zu Fuß den Heimweg anzutreten. Dabei ließ mich das Thema Charlottes Leben nach mir nicht los, sodass ich öfter, als ich es sonst tat, Pausen einlegte, mich auf Randsteine und Bänke setzte und grübelte. Mein Ableben, die Zeit nach meinem Ableben, tat sich vor meinem geistigen Auge auf. Die Deutschstunde in der ersten Klasse Gymnasium fiel mir dabei ein. Vorzukunft. Wenn ich gestorben sein werde. Also dann: das Begräbnis. Laut Regieanweisung: Sargträger, die trauernde Witwe, die Schwester, die mir immer fremd war, die Freunde, die einem toten Indianer nur Gutes nachsagen. Nach-sagen, wiederholte ich, während ich in eine Seitengasse einbog. Was würde man mir nach-sagen? Ich lauschte, aber der starke Wind irritierte mich und verblies so die Grabreden. Dafür aber sah ich die Hyänen. Dietmar, der pensionierte Richter und Bergsteiger, Höhlenforscher und Hobbyarchäologe, den seine Frau schon vor Jahren verlassen hatte. Naturbursch durch und durch, das reine Gegenteil von mir. Würde ich Charlotte dann noch fragen können, würde sie mir antworten, dass sie eben auch anderes kennenlernen wollte. Wer immer im Restaurant isst, hat auch Lust auf ein Picknick mit Speckbrot und Schnaps. Vielleicht auch mehr? Rasch im Gebüsch? Ausleben, austoben, auslieben? Charlotte! Zutrauen würde ich es ihr. Soll sie darben? Ich beschloss, die letzten Sätze meiner Gedanken zu löschen.

      Was war mit den anderen Männern? Olaf, der Apotheker, mit dem hatte sie etwas vor unserer Zeit. Der würde sich, trotz seiner Hüftoperation, jugendlich geben. Lust auf ein Tennismatch? Wenn nicht gleich, dann vielleicht später?