Sibylle oder Die Zugfahrt. Gerhard Gaedke

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Название Sibylle oder Die Zugfahrt
Автор произведения Gerhard Gaedke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701180547



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Mit einem etwas größeren Koffer und einer Flasche Flensburger Rum stand ich pünktlich an der Mole und wartete auf das Postschiff, um mich bei ruhiger See zur Leuchtturminsel fahren zu lassen.

       Der Kapitän des Postschiffes war wenig gesprächig. Er rate mir, bei Sturm niemals den Leuchtturm zu verlassen, Essen und Getränke könne man vorbestellen, sonst würde die Zentrale Standardware, wie er sich ausdrückte, liefern. Das meiste sei in Dosen, auch das Bier. Und dass ich den Müll ordentlich sammeln und verpacken solle, schließlich sei das Boot ein Postschiff und kein Müllcontainer.

       Nach einem Schluck aus der Rumflasche verflog das Mürrische in seinem Gesichtsausdruck.

       Damit war ich allein auf dem Eiland. Noch bevor ich meine Habseligkeiten auspackte, erkundete ich einen Teil meines Refugiums, meines Zufluchtsortes, dabei dachte ich an Robinson Crusoe. Ob ich auch auf einen Freitag treffe?, fragte ich mich gut gelaunt. Und ich stellte mir weiters die Frage, ob man die Insel nicht kaufen oder zumindest pachten könnte, so beeindruckend präsentierte sie sich.

       Danach nahm ich meinen Arbeitsplatz in Augenschein. An der Wand hing eine Tafel mit Hinweisen. Dass man nur mit der Zentrale telefonisch verbunden sei, was mich freute, da ich damit vor unerwünschten Anrufen geschützt war. Kein bettelnder Chefredakteur, keine Milla, auch nicht mein Bruder, der mich monatlich einmal um Geld anpumpte. Zumindest war ich ein gutes halbes Jahr von der Landkarte, ich wiederholte das Wort Landkarte und lachte dabei, verschwunden. Ich nahm mir vor, egal was kommen sollte, jeden Augenblick zu genießen, bewusster zu leben, als ich es bisher getan hatte. Und wenn man mir meine Insel nicht verkaufte oder verpachtete, dann würde ich eben ein Haus auf Rügen, Föhr oder Sylt mieten, ein reetgedecktes Haus jedenfalls müsste es sein. Vielleicht gab es aber auch irgendwo einen stillgelegten Leuchtturm zu erwerben.

       Ich inspizierte die Vorräte. Einige Dosen Bier, eine halbe Flasche von diesem Bommerlunder, Butter, Honig, Knäckebrot, Fisch- und Fleischdosen, Reis, Öl, ein Haltbarkuchen. In einem Weidenkorb Äpfel und Zitronen. Genug zum Leben, dachte ich in diesem Augenblick. Wer benötigt mehr?

       Die erste abendliche Wettermeldung funktionierte problemlos, die Frage des Mitarbeiters der Zentrale, ob ich es schon bereue, löste in mir einen kaum verhüllten Ärger aus. Lediglich ein nächtliches, wiederholtes metallisches Klopfen machte mich besorgt. Nur keine Panne, bat ich, schlief aber dennoch bis zum Morgengrauen. Möwen empfingen mich beim Spaziergang, ich vermutete, dass einige von ihnen hier gebrütet und mich als Eindringling wahrgenommen hatten.

       Die Tage vergingen gemächlich, auf die Uhr blickte ich nur morgens und abends, um die Wetter- und Windmeldungen nicht zu versäumen. Donnerstags urgierte die Zentrale meine Bestellung für die kommende Woche.

       Ich sei wunschlos. Doch, einen Laib Brot und Milch.

       Dann dachte ich darüber nach, dass man mit so wenig leben kann. Mir fiel ein, dass ich noch kein einziges Mal fischen war. Ich saß an der Anlegestelle auf einem Stück Holz und warf immer wieder die Angelhaken aus, so wie es mir der alte Leuchtturmwärter empfohlen hatte. Nach einigen Stunden hatten sich dann endlich einige Sprotten erbarmt. Ich nahm mir aber vor, den Postschiffkapitän um fachmännischen Rat zu fragen.

       Der war dann erstaunt, als er mir nur eine Obstkiste mit Brot und Milch sowie einigen Zeitungen übergab. Ich lud ihn auf eine Tasse Kaffee ein und er gab mir tatsächlich wertvolle Tipps. Ich möge die Reuse auslegen, das habe mein Vorgänger erfolgreich gemacht. Was infolge auch erfreulicherweise klappte.

       Wie ich schon bei meiner Einstellung kundgetan hatte, nahm ich keine Auszeit, keinen Landgang, sondern tat weiterhin meinen Dienst. Ich stellte dabei für mich fest, dass ich noch nie in meinem Leben zufriedener gewesen war.

       Eines Tages kam außerhalb der Routinefahrt das Postschiff. Ich nahm mein Fernglas und stellte fest, dass Personen an Bord waren. Besucher hatte ich ausdrücklich für unerwünscht erklärt. Vielleicht eine außerordentliche Inspektion der Behörde? Die aber wäre angekündigt worden. Einer der Passagiere fotografierte, der andere winkte mir zu.

       Es waren zwei ehemalige Kollegen vom Tagblatt.

       Wir machen eine Story über dich als Aussteiger, erklärten sie. Mit ausdrücklicher Genehmigung des Chefs. Der kurzzeitige Ärger wich, da ich mich über den Besuch der beiden letztlich doch freute. Von der mitgebrachten Dosenbierpalette blieb an diesem Nachmittag nichts mehr übrig, der Kapitän, das wusste ich, war trinkfest.

       Ob sie mir den Artikel vorweg schicken müssten?, fragten sie vor der Abfahrt.

       Ich verneinte.

       Dann kam der November und die ersten schweren Stürme trieben mich ins Haus. Endlich kam ich dazu, mir die vorhandenen Bücher anzusehen: Härtlings Schubert, Bölls Mann mit den Messern, von Thomas Mann Der Erwählte, eines meiner Lieblingsbücher, eine Autobiografie von Emil Nolde, Biografien von Kokoschka und Anais Nin. Als Erstes nahm ich mir aber den Gedichtband von Joachim Fernau zur Hand. Mir schien, glücklicher könne man nicht sein.

       Am nächsten Morgen beschloss ich, mir den Drei-Tage-Bart nicht mehr zu rasieren, ich hatte das Bild von Robinson vor meinem geistigen Auge und fand, dass dadurch mein Aussteiger-Dasein erst richtig Gestalt annahm.

       Den Brief der Hausverwaltung, dass ein Mieter größere Probleme mache und man eine Entscheidung erbitte, beantwortete ich nicht. Für Problemlösungen wählt man doch einen Verwalter. Dann kam ein Paket von Milla mit Briefen und Mahnungen. Und einer Karte. Sie vermisse mich.

       Ich schrieb ihr zurück und bat sie, einzelne Zahlungen für mich vorzunehmen, und unterschrieb mit Robinson, Leuchtturmwärter.

       Da die Stürme immer heftiger wurden, hatte ich mit dem Fischfang keinen Erfolg mehr. An einem Freitag blieb dann das Postschiff aus. Auch der Schiffsverkehr, an den ich mich gewöhnt hatte, wurde schwächer. Störend empfand ich, dass das Tageslicht merklich kürzer wurde. An manchen Tagen benötigte ich dann schon am frühen Nachmittag ein Glas Flensburger Rums.

       Da ich mich auf die kalte Jahreszeit und die starken Windböen nicht eingestellt hatte, bat ich die Zentrale, mir auf meine Kosten einen regen- und winddichten Mantel sowie eine Wollmütze zu schicken. Und zwei Flaschen Bommerlunder, ich war auf den Geschmack gekommen.

       Tatsächlich kam das Postschiff am Freitag pünktlich. Statt der üblichen Versorgungskiste lud Oskar, Oskar Hansen, wir hatten uns bald angefreundet, zwei Pakete aus. Die beiden Bommerlunderflaschen überreichte er mir gesondert und lachte dabei. Natürlich musste ich gleich zwei Gläser mit ihm trinken.

       Zwei Pakete. Ich war neugierig. Auch wenn ich mich an das Robinsonleben gewöhnt hatte, so war doch der Zivilisationssee noch nicht ausgetrocknet und übermäßige Freude kam beim Auspacken auf. Ein gefütterter Regenmantel, Haube, Schal, Handschuhe, passende warme Stiefel. Im zweiten Paket dann Schokolade, Rotwein, Käse, Baguettes und ein Brief. Vermutlich von Milla.

       Weit gefehlt. Unterschrift Ilse. Wer zum Teufel ist Ilse?, fragte ich mich. Eine sich erbarmende Frau in der Zentrale? Und ich wiederholte immer und immer den Namen Ilse in der Hoffnung, es würde sich doch ein Gedankenblitz einstellen.

       Nach einiger Zeit gab ich auf, öffnete die Rotweinflasche, deckte mir, was selten vorkam, ordentlich den Tisch, zündete eine Kerze an und genoss den Abend als Fastrückkehrer in die Zivilisation. Und ich dachte erstmals seit Langem an meine Freunde zu Hause. An die Redaktion, an Milla, an Weihnachten im Turm. Da kam etwas Wehmut auf. Sicher würde man mir rechtzeitig einen Weihnachtsbraten herüberschicken und vielleicht käme auch wieder ein Paket dieser Ilse. Wie aber sollte ich mich für das Paket von ihr bedanken? Brief an Ilse, Adresse unbekannt? Ich beschloss, einfach abzuwarten.

       Zwei Tage vor Weihnachten kam dann das Postschiff mit Oskar. Er lächelte. Wieder zwei Pakete von deiner unbekannten Verehrerin, rief er mir schon beim Anlegen zu. Ich hatte ihm von einer mir unbekannten Ilse erzählt. Natürlich tranken wir wieder Bommerlunder, diesmal drei, wegen Weihnachten, meinte Oskar. Dann umarmte er mich und fuhr los.

       Das kleinere Paket kam von Milla. Briefe, Weihnachtskarten, ein Album mit Bildern von der Redaktionsweihnachts­feier, eine kleine Marzipantorte und ein Brief von Milla. Sie würde mich so vermissen. Ob ich sie denn auch vermisse.