Ich zähle jetzt bis drei. Egon Christian Leitner

Читать онлайн.
Название Ich zähle jetzt bis drei
Автор произведения Egon Christian Leitner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990471173



Скачать книгу

Und Pierre Bourdieu, Pierre Bourdieu hat sich im Elend der Welt wesentlich auf Spinoza berufen. Einander sicherstellen, künftig nichts zu tun, was den anderen schädigen könnte.

       Tag, Monat, Jahr

      Ich steige in ein Taxi, kenne den Fahrer nicht, er sieht mich kurz an, sagt: Meine Schwester ist in Aleppo, seit vier Monaten, in einem Flüchtlingslager. Im nächsten Moment wird er angerufen. Es ist seine Schwester. Er hat auf den Anruf gewartet, redet beruhigend auf sie ein. Ich höre die Frau immer ruhiger werden beim Reden. Als sie sich verabschiedet haben, sagt er zu mir: Sie bekommt keine Papiere, weil sie kein Geld hat für die Bestechung. Weil sie nicht bezahlt, sagen die Beamten, sie ist keine Syrerin. Ich will ihr helfen, ich kann in Österreich für sie Zeuge sein. Ich weiß nicht, was ich tun soll, damit sie nach Österreich kommen kann. Ich brauche Politiker. Ich frage ihn, wie lange er schon hier ist. Seit 10 Jahren ist er hier. Ich frage ihn, ob er grüne Politiker kennt. Er lacht: Die Grünen sind schwach. Die Grünen können nicht viel. Ich gehe zu Strache. Der kann was. Du musst immer zum Chef gehen. Weil meine Schwester nicht lügt, wird die FPÖ uns helfen. Und dann will er von mir wissen, warum die Menschen so viel lügen. Er ist sehr aufgeregt und sehr ruhig zugleich. Zehn Minuten Fahrt waren das dann. Als ich dann wieder auf meinen Beinen stehe, zittern die und meine Hände auch.

       Tag, Monat, Jahr

      Descartes soll einmal eine Fliege an der weißen Wand beobachtet haben, wie sie sich bald schnell, bald langsam hin und her bewegt hat oder eben stillgestanden und verharrt ist. Und dabei soll ihm das Koordinatensystem eingefallen sein mitsamt Vektoren. Das cartesische Koordinatensystem. Er soll am liebsten das Bett gehütet haben. Damals auch. Ein Soldat eigentlich. Sein Ich denke, also bin ich wurde existenziell mit Gott und ideengeschichtlich mit Augustinus gerne in Zusammenhang gebracht. Es ist freilich viel älter. Ein Sklave, dessen Name Unversehrt bedeutet, wird in einer Doppelgängerkomödie des römischen Dichters Plautus aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert zum Gaudium des Publikums immer wieder geschlagen, bedroht, beschuldigt. Er wird eben andauernd verwechselt, daher für Dinge beschimpft und bestraft, die er gar nicht getan hat. Um der Misshandlung zu entgehen, denkt er über die verwirrenden Geschehnisse nach und vor allem über den Eigennamen Ich, mit dem jeder Mensch sich selber benennt. Und da spricht dieser angeblich minderwertige Dienstbote namens Unversehrt beinahe zwei Jahrtausende vor Descartes Descartes’ erstaunlichen Satz AUS.

      Graz Museum, Literaturstipendium Graz

      Wahl und Wien, Schock und Starre hin oder her, wie auch immer – er habe gerade weder Zeit noch Lust zu sterben, sagte Leopold Kohr, als es so weit war.

      Seinen Anarchismus definierte er wie folgt: Goethe hat gesagt, man muss als Mensch entweder Hammer oder Amboss sein. Aber es gibt Menschen, und das sind wir Anarchisten, die sind weder Hammer noch Amboss. Wir lassen uns nicht schlagen. Und wir schlagen nicht. Nicht Amboss und nicht Hammer sein, wir schlagen nicht und wir lassen uns nicht schlagen – dafür steht (so einfach ist das) Kohrs Klein ist schön-Anarchistentum. Dass man, wie man so sagt, das Rad der Zeit, die Uhr, nicht zurückdrehen könne und dass Kohrs Welt der Kleinstaaten in jeglicher Hinsicht ein gewaltiger Rückschritt wäre, ließ Kohr (geboren 1904, gestorben 1994) bekanntlich nicht gelten. Er nahm bei derartigen Diskussionen mitunter seine Armbanduhr ab und drehte als Gegenbeweis die Uhrzeiger zurück, stellte somit öffentlich die Zeit jeweils neu ein. Wenn man, sagte er, den Rand des Abgrunds erreicht hat, dann ist das einzige, was Sinn hat, zurückzugehen. Wenn man den Rand des Abgrunds erreicht hat, dann ist das einzige, was Sinn hat, zurückzugehen! Kohr hat sich, wie Sie, verehrte Damen und Herren, vermutlich weit besser als ich wissen, primär um rechtzeitige Prävention und Prophylaxe bemüht, damit man als Durchschnittsmensch und Normalsterblicher von Weltwirtschaft, Weltpolitik, Weltmilitärs und Welteliten erst gar nicht an den Rand des Abgrunds gedrängt werden kann. Die Kohr-Schumacher-Weltformel Immer schön langsam!, also sozusagen Nur kaan Stress! beziehungsweise Klein ist schön!, wollte ausdrücklich große Übel verkleinern und ausdrücklich erreichen, dass die größten und gefährlichsten politischen und ökonomischen Bösewichte der Welt, all die nun allgegenwärtigen Global Players, nur mehr, wie Kohr dazumal sagte, Kleingewichtler zu sein vermögen. Kleingewichtler statt Bösewichte. Das war der Sinn von Small is beautiful. Die Menschheits- und Weltprobleme können laut Kohr durch Größe nun einmal nicht gelöst werden, sondern es werden ganz im Gegenteil die ökonomischen, sozialen, ökologischen, militärischen und politischen Probleme durch Vergrößerung garantiert unlösbar. Kohr hat in diesem Zusammenhang der lawinenartigen Problemvermehrung infolge von Einverleibung der Kleinen durch die Großen auch von inzestuösem Verhalten gesprochen. Und statt als inzestuös hat Kohr besagten Mechanismus des Weiteren auch als Identifikation mit dem Aggressor beschrieben: Die tyrannisierte, abhängig und mutlos gemachte Seele verehre notgedrungen und zwangsläufig alles Starke und arbeite deshalb den sie dafür vielleicht doch verschonenden und belohnenden Großmächtigen zu.

      Inzwischen nun, so Kohr dazumal, sei alles dermaßen großaufgeblasen, dass es flugs verkleinert werden müsse, bevor das Ganze, z. B. von NATO und EWG bis UNO, durchexplodiere. Mit dem Wort großaufgeblasen hat Kohr wie bereits erwähnt das Böse ergründet. Tatsächlich lautet im Deutschen die Etymologie, die Grundbedeutung, von böse aufgeblasen. In diesem Sinne auch sagte Kohr, dass große Männer fast immer schlechte Menschen seien. Denn jede Macht korrumpiere. Je mehr Macht jemand wolle oder habe, umso korrupter und korrumpierender sei und werde er. Hingegen brauche man als Mensch in Wahrheit, um das, was wirklich zu tun sei, wirklich tun zu können, keine Macht. Sondern es gelte: Je mehr wir tun, umso mehr können wir. Je mehr wir tun, umso mehr können wir! Das zu verstehen, darum gehe es. Laut Kohr.

      Des Weiteren sagte er, dass ihm immer einzig seine Freunde seine Heimat und seine Nationalität gewesen seien. Die Freunde hatte er bekanntlich überall auf der Welt. Er ist freilich oft leicht wo eingeschlafen, war irgendwo auf der Welt eingeladen, bei einer Versammlung, Konferenz; auf einmal eben ist er eingeschlafen, und wenn er wieder einmal aufgewacht ist, hat er nicht gewusst, wo er gerade ist, nicht einmal, auf welchem Kontinent. Ich weiß nicht, geschätzte Damen und Herren, ob ich Sie inzwischen schon zum Einschlafen gebracht habe oder ob Sie kurz davor sind einzuschlafen. Ich würde Ihr Einschlafen am heutigen Abend freilich durchaus als Lob nehmen. Nämlich dafür, dass sie Ihr Leben als behütet und sicher empfinden, als Zeichen also für das Behutsame im Leben, um das es Leopold Kohr gegangen ist. Ums Lebendige und ums Behutsame und Beschützende. Der gute Schlaf war dem im Wachzustand quirlig sprudelnden Leopold Kohr jedenfalls so wichtig, dass er sich selber gern mit einer bekannten, die meiste Zeit dahin schlummernden russischen Romanfigur aus dem 19. Jahrhundert verglichen hat. Sobald er gestorben sei, sagte Kohr zu seinen Freunden auch, solle man ja nicht um ihn trauern und verzweifeln, sondern, ruhigen Sinnes an ihn und das viele von ihm wahrgenommene weiße Licht denkend, freudig in die Natur hinaushüpfen und dort miteinander fröhlich und frohgemut feiern.

      Bei Kohr jedenfalls werden Sie, werte Damen und Herren, meines Wissens nirgendwo das Wort Angst geschrieben oder gesprochen finden. Auch nicht das Wort Depression. Schwere Depressionen hatte Kohr allerdings geraume Zeit lang. Und zwar weil er als knapp 30-Jähriger durch seine Arbeit im Goldbergwerk plötzlich nahezu völlig taub war und blieb. Seiner Schwersthörigkeit konnte er im Laufe der Zeit mithilfe seines Hörgerätes freilich einiges abgewinnen, zum Beispiel hörte er statt think tank stink tank und teilte das den Anwesenden auch so mit. Stinktank statt Denktank.

      Kohr hat sich selber einen Provokateur und Satiriker genannt und einen Sozialisten. Sein Autonomie-, Autarkie- und Anarchie-Sozialismus reichte jedoch nicht weit, gerade jeweils zirka 20 km. Das mag ein Ärgernis sein. Kohr meinte es auch durchaus so. Als Ärgernis. Wenn er irgendwo in Österreich oder eben sonst wo auf der Welt zwischen einer größeren Stadt und ihren Vororten 20 km spazieren gehe, erlebe er in diesen vier Gehstunden – oder eineinhalb Fahrradstunden wären das umgerechnet –, die für besagte Strecke benötigt werden, unsagbar mehr, als wenn er in einer Concorde von London nach Australien fliege. Auf Robert Owens Sozialismus berief sich der Sozialist Kohr übrigens des Öfteren. Owen, bis zum 14. Lebensjahr infolge von Armut Analphabet, später dann Fabriksleiter und wieder anderswo