Ich zähle jetzt bis drei. Egon Christian Leitner

Читать онлайн.
Название Ich zähle jetzt bis drei
Автор произведения Egon Christian Leitner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990471173



Скачать книгу

und nicht zerstört werden. Dem Gesicht könne keine Gewalt angetan werden, das Wichtigste gegen die Gewalt sei immer das Gesicht. Besagte therapeutische und politische Ethik, die der Sozialpsychiater Dörner permanent zu praktizieren sich bemüht hat, ist nicht leicht zu verstehen. Eigentlich gar nicht. Wirkt völlig absurd. Kommt freilich und bekanntlich von jemandem her, der den Faschismus überlebt hat, seine gesamte Herkunftsfamilie verloren hat durch die Nazis. Von Emmanuel Lévinas, für viele der bedeutendste Ethiker des 20. Jahrhunderts. Von diesem hat Dörner gelernt, was los ist und was dagegen zu tun.

      Der Österreicher Rolf Schwendter nun wiederum, der Devianzforscher Schwendter, selber durch und durch deviant, immer gerettet durch Zufall, drei Doktorate und eine Professur, Freundschaften, Glück, Frau, Kind, Enkelkind, hat mit dem Sozialpsychiater Dörner viel zusammengearbeitet. Für Schwendter nun waren Die feinen Unterschiede Bourdieus die Auseinandersetzung Bourdieus mit dem Blick des Dr. Pannwitz. Die Analyse nämlich der allgegenwärtigen Blicke zwischen Menschen, sowohl von oben nach unten als auch untereinander. Wie das ist, wenn die Menschen ganz automatisch so schauen wie dieser jener Pannwitz. Täglich, davon handle besagtes Bourdieu-Werk, meinte Schwendter, tun die das und ganz selbstverständlich, z. B. der jeweiligen Rentabilität wegen. Als Kind hat er oft von Flugzeugangriffen geträumt aus dem Nebel heraus auf Brücken in der Nacht im Krieg. Das Lesen hat er sich mit drei, vier Jahren selber beigebracht, indem er Litfaßsäulen entzifferte. Seine Eltern waren sehr einfache, zerbrechliche Leute. 1968 wäre er fast zugrunde gegangen. Es war eines der anstrengendsten und bedrohlichsten Jahre seines Lebens, er hatte kein Geld, keine Unterkunft, nichts zu essen, keinerlei Schutz oder Sicherheit, war schwer abhängig und sich gewiss, verloren zu sein. Aber dann hat er, auf Anregung Rudi Dutschkes hin, die Gegengesellschaften erforscht, die Gegenmilieus, sozusagen die Gegenökonomien, die Gegenuniversitäten, die Gegenkulturen, die Gegeneliten, die Gegenöffentlichkeit und ihre Gegenmedien. Hat immer alles gesammelt, was es gab und sich tat. Die Subkulturen und ihre Hoffnungen. Zeit seines Lebens ist Schwendter stets schutzlos im Regen gegangen, als junger Mensch stundenlang darin gelegen. Z. B. dafür ist er bekannt gewesen, für sein Gehen im Regen. Schutzlos und stoisch zugleich. Stoisch schutzlos. Übrigens kommen die Begriffe Vernetzen, Netzwerke im Deutschen von Rolf Schwendter her und der Dichter Erich Fried, der Gewaltforscher Galtung, der Zukunftsforscher Robert Jungk, der Sexualforscher Borneman waren wirkliche Freunde von Schwendter, Joseph Beuys und Schwendter waren auch wirklich befreundet. Auch war just der seltsame Schwendter oft Vertrauens- und Verbindungsmann in und zwischen Gruppen. Die Sozialbewegungen würden sich alle viel leichter tun und viel mehr zustande bringen, würden die Leute darin einander mehr mögen, pflegte er unter die jeweiligen Leute zu bringen. Das wäre die Lösung. Das Konkurrenzprinzip müsse wo nur irgend möglich außer Kraft gesetzt werden. Wenn sich jemand über diese Ansicht lustig machte, nämlich wie das gehen solle, sagte Schwendter: Jeder sollte sich 15 Minuten lang alleine überlegen, wen er warum nicht mag, und dann soll offen und gemeinsam darüber geredet werden. Immer gemeinsam darüber reden jeweils sei das Wichtigste. Dass Pierre Bourdieu das Konkurrenzprinzip wie und wo nur möglich außer Kraft zu setzen riet und sich mühte, genauso wie eben auch Schwendter das sagte, gefiel Letzterem außerordentlich. Theatermensch, Dichter und Sänger war er bekanntermaßen auch. Seine Kindertrommel freilich nur konnte er spielen. Die reichte aber bekanntlich vollauf. Als Anfang 2000 Bourdieu für Wien angesagt war, nicht kam, in Abwesenheit die Halle dennoch füllte und damals in einer berühmt gewordenen kurzen Rede Österreich per Video zum Vorreiter im europa- und weltweiten Kampf gegen den Neofaschismus und den Neoliberalismus erklärte, war Schwendter einer der vortragenden Redner auf der österreichischen Seite. Übrigens: Wie wichtig für Bourdieus Ökonomie- und Ethnologieverständnis der – jüngst hier in Wien in der AK wiederentdeckte – österreichische Ökonom Karl Polanyi von Anfang an und immer war, hat Rolf Schwendter damals, anno 2000, sei es gewusst, sei es trefflich erraten. Gestimmt hat es jedenfalls. Und später dann einmal überlegte er sich, was Bourdieu mit Galtung, mit Gramsci, Ivan Illich, Erich Fromm und Adorno zu tun haben könnte, mit Paul Feyerabend, mit Bloch, mit Paulo Freire, mit Foucault sowieso, mit Frantz Fanon, mit Rosa Luxemburg und so weiter und so fort. Schwendter arbeitete im Geiste erklärtermaßen an einer Art einfachem Alternativlehrbuch voll der Alternativdenker und Alternativdenkerinnen. Denn die werden ja in den Mittelschulen allesamt nicht unterrichtet, in keinem Fach stehen die auf dem Lehrplan, an den Unis ja auch nicht wirklich. Und die Alternativdenker und Alternativdenkerinnen des 20. Jahrhunderts irgendwie verbinden auch mit Bourdieu wollte er. Die Alternativdenkerinnen und die Alternativdenker verbinden mit Ideen und Praxeologien von Bourdieu. Und die mit dem Alternativnobelpreis Ausgezeichneten auch. So etwas also hatte er vor, der Rolf Schwendter. Ein einfaches AlternativdenkerInnenlehrbuch für Schulen aller Art und zwar just gegen das, was Bourdieu Klassenrassismus und Rassismus der Intelligenz genannt hat, hatte Schwendter da vor. Koch war er bekanntlich auch, ein sehr guter, denn er mischte und verband gerne Überreste und Übrigbleibsel aller Art, nach armer Leute Art tat er das: Alles ist nutzbar. Aus allem, was da ist, was machen. Ja nichts wegwerfen! Niemanden wegwerfen! Keinen Menschen. Alles hat Wert, jeder.

      Beispiel 2: Von Befreiungstheologen – die gibt’s wirklich noch und wieder und die werden auch, sagt man, zusehends mehr an Zahl und Rang – ist Pierre Bourdieu soeben jüngst auch entdeckt und in Verwendung genommen worden. Und zwar um eine Befreiungstheologie für Europa aufzubauen. Eine europäische Befreiungstheologie! Ein, vor Jahrzehnten zuerst und zuvorderst von Arbeiter- und Armenpriestern ausgesprochenes, Grundprinzip jeglicher Befreiungstheologie lautet ja bekanntlich: Sehen, Urteilen, Handeln! Dieses Sehen, Urteilen, Handeln!, in gewissem Sinne das Gewissen, wird nun jetzt von den Befreiungstheologen mit Bourdieus Elend der Welt und mit den Feinen Unterschieden in Kombination gebracht, insbesondere mit dem Habitusbegriff. Denn der Habitus – das sind ja eben die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, also just Sehen, Urteilen und Handeln (und zugleich aber deren Beschränktheit, Unfreiheit; das Eingesperrtsein im Körper, im Gehirn, in der Lebenswelt). Ein Grundwerk der Befreiungstheologie in der Dritten Welt stammt bekanntlich von einem Österreicher. Von Adolf Holl. Jesus in schlechter Gesellschaft. Ein anderes Werk Holls, Die linke Hand Gottes. Biographie des Heiligen Geistes, gehört, habe ich mir sagen lassen, zu den Lieblingsbüchern des österreichischen Jungbischofs Glettler. Bruno Kreiskys Lieblingsbuch, nebstbei bemerkt, soll Holls Kinder- und Jugendbuch Wo Gott wohnt gewesen sein. Wie auch immer, der seiner sakralen Befugnisse enthobene Priester Holl hat vor 20 Jahren eine Mischung aus Burleske, Krimi, Liebes- und Religionsgeschichte verfasst, die sogar im Vatikan Freunde gefunden haben soll, nämlich Falls ich Papst werden sollte. Als der neue Papst Franziskus eingesetzt wurde, ging sogar das Gerücht, Hollywood wolle auf der Stelle Holls Papstbuch verfilmen. In besagtem amüsanten kleinen, kompakten Werk jedenfalls nimmt sich Papst Holl Pierre Bourdieu zum Berater. Der Feinen Unterschiede wegen. Sozusagen weil Religion Geschmackssache ist. Und auch, weil für Bourdieu Gott irgendwie die Gesellschaft ist.

      Beispiel 3: Elisabeth List, die Energische, stets Streitbare, die Grazer feministische Philosophin, im ersten erlernten Beruf Volksschullehrerin, seit langem nun mit schwerer Krankheit zu kämpfen habend und den Rollstuhl oft als Freiheit erlebend, als Befreiung vom Krankenlager nämlich, betrachtete Anfang dieses unseres 3. Jahrtausends da hier Bourdieus Einmischungsbuch in die Feminismen dieser Welt -– Die männliche Herrschaft – mit beträchtlicher Mentalreservation. Das sei so alles nichts Neues unter der Sonne. Und stimmen tue es so auch nicht wirklich. Das gelte sowohl für Bourdieus Verständnisse von Liebe als auch für seine Resümees der Frauenbewegung. Alles nichts Neues von Bourdieu. Und auch nicht wirklich hilfreich. Die Frauenleben in Bourdieus Elend der Welt freilich interessierten List sehr wohl und weit mehr, also die junge Polizistin dort zum Beispiel oder die kleine Geschäftsfrau im rabiaten Problemviertel oder die entlassene Sekretärin oder die müde Postangestellte oder die pensionierte Sozialarbeiterin im Altersheim, verzweifelte, oder die Psychologievokabeln studierende, sich davon endlich Hilfe erhoffende Schullehrerin oder die junge Migrantin und ihre Mutter oder die abservierte Frauenhausleiterin oder die Putzfrau mit Schulden und schwer krankem Mann – und so weiter und so fort. Die Lebenskonstellationen, Bewältigungsversuche dieser Frauen solle man doch aus Bourdieus Elend der Welt gleichsam herauslösen und mithineinpublizieren in Bourdieus Die männliche Herrschaft, meinte List dazumal. Letztgenannte Schrift gewänne dadurch beträchtlich an Nutzen und Verständlichkeit. Wäre nicht mehr so umständlich.