Название | Ich zähle jetzt bis drei |
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Автор произведения | Egon Christian Leitner |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990471173 |
Zilians Aporien benannten den üblichen, banalen, läppischen, alltäglichen Konkurrenzkampf. Innen wie außen. Den materiellen; personellen. Zwischenmenschlichen sowieso. Positionellen. Systematischen und strukturellen auch sowieso. Finanziellen z. B. Was denn sonst!
Zilian schockierte die sogenannte Zivilgesellschaft gewohnheitsmäßig und man kam auch bourdieuanerseits nicht wirklich zurande mit ihm. Nichtsdestoweniger war er vom österreichischen Sozialstaatsvolksbegehren des Jahres 2002 beeindruckt und insbesondere auch von der Wahlverwandtschaft des Sozialstaatsvolksbegehrens mit Bourdieus Vorhaben. Just der ansonsten stets skeptische, desillusionierende Beobachter Zilian hat 2002 öffentlich darauf gewettet, das unter anderem vom Arzt Werner Vogt, dem Ökonomen Stephan Schulmeister und der legendären Frauenministerin Johanna Dohnal initiierte Sozialstaatsvolksbegehren werde 1½ Millionen Unterschriften bekommen. Denn die Österreicher seien sehr sozial, wenn man sie es nur sein lasse; sie nicht gegeneinander hetze, sie nicht gegeneinander ausspiele und sie nicht ständig halb und falsch informiere. Völlig falsch auch sei es zu glauben, der Sozialstaat sei nur für die Randgruppen da. Vielmehr müsse man im Werben für das Sozialstaatsvolksbegehren klarmachen, dass der Sozialstaat die Masse der Bevölkerung, die absolute Mehrheit, versorge. Darum gehe es, wolle man das Potential von 1½ Millionen Unterzeichnenden ausschöpfen. Um die verlässliche, schützende, rettende, bewahrende Hilfe in und vor belastenden, bedrückenden, bedrohlichen, vernichtenden Lebenssituationen gehe es. Die Menschen verstehen allesamt sehr wohl, worum es geht, meinte Zilian. Um Leib und Leben gehe es. Um sie selber gehe es, um ihr Leben und um das ihrer Lieben. Jeder Mensch verstehe das. Jeder.
Was Zilian, der ja stets in den verschiedensten sich ihm bietenden öffentlichen Situationen den Unterschied – sozusagen den jeweils feinen Unterschied – zwischen Ethik, Etikette und Etikettenschwindel ins öffentliche Bewusstsein zu heben getrachtet hat, am Bourdieuanum neben dessen Affinität zum österreichischen Sozialstaatsvolksbegehren dermaßen gefallen hat, war der Rat Pierre Bourdieus für den Umgang mit jedweden machthabenden Eliten. Besagter Bourdieusche Rat lautet bekanntlich, dass man unbefangen, uneingeschüchtert und wahrheitsgemäß doch ja stets aufschreien solle wie das Kind in Andersens Märchen vom dummen, narzisstischen Machthaber mit den neuen Kleidern.
In seiner Jugend hat Zilian übrigens an einem Roman über das Fußballspielen geschrieben und auch noch kurz vor seinem unerwarteten Tod hatte er ein Forschungsprojekt im Sinne übers Fußballspielen da hier. Von wem alles und wodurch alles der österreichische Fußball ganz offensichtlich kaputt gemacht wird. Und vor allem was dagegen getan werden kann. Für diese Studie zum Zwecke des Gedeihens, Aufblühens, des österreichischen Fußballs suchte Zilian sowohl nach interessierten Geldgebern als auch unter anderem nach Leuten, die sich in Bourdieus soziologischem Werkzeugkasten ausreichend auskennen. Mit all den Feldanalysen Bourdieus also. Wie man diese gebrauchen könnte für die hiesigen Fußballfelder. Der Zustand des österreichischen Fußballs als Folge, Symptom, Spiegelbild der österreichischen Gegenwartsgesellschaft. Das war in etwa das Vorhaben.
Übrigens auch fand da hier in der Arbeiterkammer Wien wenige Tage vor Bourdieus Tod eine Veranstaltung zu den neuen Technologien und Arbeitsformen in der zunehmend durchdigitalisierten Welt statt. Zilian wetterte da, Jänner 2002 wie gesagt, erschrocken gegen die Zulassung der bis dahin in Deutschland (und ich glaube, auch in Österreich) verbotenen Hedgefonds. Erschrocken auch gegen das sozialhalluzinatorische ewige Du der Handys samt Internet. Und gegen die werbepsychologische, in den politischen und ökonomischen Auseinandersetzungen und gerade auch bei den Zukunfts- und Trendforschern übliche, plötzlich allgegenwärtige, ständige Praxis des polyperversen, vorgeblich freien und vorgeblich befreienden Denkens, nämlich des in einem fort umgekehrt Denkens, Wegwerfdenkens, dessen weltweit wirkmächtiger Erfinder just ein Österreicher war. Berühmter Psychologe. Politikerberater. Der Begriff der Wegwerfgesellschaft wurde einstens geprägt, um besagtem österreichischem Psychologen das Handwerk zu legen. Vergeblich, versteht sich. Auch Bourdieu hat in Den feinen Unterschieden gegen besagten Österreicher Stellung bezogen. Auch vergeblich. Besagter Psychologe hatte auch die Idee, im Weltraum Altersheime, Altenstationen zu bauen. Die Alten sozusagen auf den Mond zu schießen. Allen Ernstes. Zilian war entsetzt. Zutiefst erschrocken des Weiteren wetterte Zilian – ebenso wie sattsam bekannt Pierre Bourdieu das in seinen Gegenfeuern tat – gegen die neoliberale mit etlichen Nobelpreisen ausgezeichnete Ökonomie der Chicagoboys, die juristisch und de facto das Verursacherprinzip außer Kraft setzen, nämlich absurderweise die Geschädigten sowohl für den tatsächlich bereits erlittenen Schaden als auch für die künftige Schadensprävention aufkommen lassen wollen. Gerade so, wie’s bei der Mafia zugeht. Schutzgeldartig.
Wie auch immer, ich getraue mich jedenfalls zu wetten, sehr verehrte Damen und Herren, dass es österreichweit am Anfang dieses Jahrtausends nicht sonderlich viele Veranstaltungen gab, die annähernd so umsichtig, vorausschauend, lebhaft und vehement waren. Nicht zuletzt dank des forschen Sozialforschers Hans Georg Zilian. Sie werden ihn namentlich, sehr verehrte Damen und Herren, jedoch weder im Bourdieu-Handbuch noch im jüngsten Resümee der Bourdieustiftung genannt finden. Verständlicherweise. Denn er hat sich nicht zugesellt. War selber schnell von Begriff und selber Jemand. Im rechtzeitigen Sozialstaatsvolksbegehren freilich, österreichischen, bourdieuartigen, sah der distanzierte permanente Desillusionierer Zilian wie gesagt das realistischste, handhabbarste, rechtzeitigste, wirksamste Gegenmittel gegen all das, was da kommen werde an Mafia und Halluzination.
Ich gestatte mir, Ihnen, geschätzte Damen und Herren, auch in dem folgenden noch verbleibenden bisschen Überrest an Zeit weiter von ein paar österreichischen Menschenkindern mehr zu berichten, die allesamt nicht im Handbuch stehen. Ich tue das, damit Sie, werte Damen und Herren, sehen, dass Sie das Rad vielleicht gar nicht neu erfinden müssten. Heute und morgen z. B. Sie bräuchten es nur in Gang zu setzen. Es wäre, kommt mir halt vor, alles da, was Sie hier und jetzt brauchen, anno 2019 folgende. Bloß es endlich wirklich in Gebrauch zu nehmen, wäre vonnöten. Sollten Sie allerdings verärgert meinen, ich verfehle die Themen Ihrer Tagung und vergeude unverschämterweise Ihre kostbare Zeit mit Brimborium, Dekoration und Antiquitäten, darf ich Sie, verehrte Damen und Herren, beruhigen. Mit Bourdieu hat das, wovon ich Ihnen auch im Folgenden Bericht geben werde, sehr wohl wesentlich zu tun; substanziell sozusagen; desgleichen mit der Tätigkeit von Bourdieus Raisons d’agir in Österreich vom Jahr 2000 an bis dato. Mit den Reaktionen und Resonanzen auf diese Tätigkeit.
Beispiel 1: Der Pannwitzblick, der Blick des Dr. Pannwitz: Primo Levi, der diesen Blick Überlebende, hat davon Bericht gegeben: Wie der Dr. Pannwitz sich immer die Menschen anschaut. Ob der da oder der da oder ob die da oder die da etwas wert ist und jetzt dann im Betrieb des Direktor Dr. Pannwitz arbeiten wird oder nicht. Dr. Pannwitz entscheidet rational und sachlich, sowohl nämlich als Arzt als auch als Ökonom und als Techniker. Ganz schnell fällt Dr. Pannwitz diese Entscheidung. Routiniert, professionell. Mit einem Blick alles. Bis auf Weiteres Arbeit und Leben sodann oder alles aus und vorbei. Entweder Hilfe und Rettung jetzt oder jetzt, feststehend, der Tod. – Auschwitz, Auschwitz natürlich. Wo sonst? Antwort: überall. Der deutsche Sozialpsychiater Dörner, in seiner Kindheit und Jugend selber naziartig, hat den Pannwitzblick als Schlüssel für das weitergehende Alltagsgeschehen in den Demokratien nach 1945 bis heute hier und jetzt begriffen und benannt. Wie man z. B. Jugendliche sich anschaut und die Kinder bereits schon und die Minderheiten sowieso immer. All die Minderwertigkeit eben überall, auf die richtet sich der Blick des Dr. Pannwitz. Auf all die vermeintlich Minderwertigen überall. Der entscheidende Blick. Hier und jetzt. In der Politik und in der Verwaltung. Und in der Wirtschaft. Und in der Ausbildung. Und beim Helfen eben auch. In den helfenden Berufen. Der Blick des Dr. Pannwitz. Als Gegenmittel gegen besagten ganz selbstverständlichen Dr.-Pannwitz-Blick hat besagter Sozialpsychiater Dörner eine Ethik der Visage, des Gesichts, des Antlitzes sich erarbeitet