Название | Ich zähle jetzt bis drei |
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Автор произведения | Egon Christian Leitner |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990471173 |
Worum ich Sie, sehr geehrte Damen und Herren, bitte, falls und sofern das von mir Ihnen Vorgelesene Ihrem Innenleben oder Ihrer Denkungsart irgendwie konveniert, ist: im Sozialstaatsschuber, im Register, unter Seppi und Günther nachzuschauen und sodann an den dort genannten Stellen. Seppi war mein Volksschulfreund und man hat ihm sukzessive und fälschlich Intelligenz und Lebensfähigkeit abgesprochen und ihn mit knapp über 20 Jahren in ein Altersheim, Pflegeheim gegeben. Und sein ihn liebender Bruder, herzensgut, fleißig, hilfsbereit und erschöpft, hat sich mit knapp über 50 Jahren in der Mur ertränkt. In der Folge. Vom Leben der beiden z. B., von dem, was sie versucht und worauf sie sich gefreut hatten, berichte ich. Auf Günthers Grab sitzt im Übrigen ein halbhandkleiner kitschiger weißer Engel, aus einem weißen Buch vorlesend. Kann leicht sein, der liest ihm vor, was die vorgeblichen Bildungs- und Hilfseinrichtungen samt exekutierendem Personal den beiden Brüdern verwehrt und unterschlagen haben. Der Sozialstaatsroman erzählt tatsächlich von tatsächlichen Menschen, denen de facto die Lebensfähigkeit samt Leben abgesprochen wurde und das Bewusstsamt dem Menschsein. Einer Frau z. B., von der es hieß, sie werde nicht überleben und wenn, dann ohne jegliche höhere geistige Funktion und Fähigkeit. Nichts davon war dann wahr. Zum Glück. Von diesem Glück z. B. erzähle ich. Wie darum gekämpft wurde. Von Menschen. Und wie es dann wirklich da war. Und so weiter und so fort. Der Sozialstaatsroman hat, nebstbei gesagt, vielleicht deshalb seine 1.200 Seiten, weil er von vielleicht 1.200 Menschen Bericht gibt. Solchen und solchen. Das Zweite jedenfalls, worum ich Sie, sehr verehrte Damen und Herren, bitte, ist: Wiederholen Sie jetzt endlich das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren! So schnell wie Ihnen jetzt nur irgend möglich! Der Zweiten Republik ist, kommt mir vor, nicht viel eingefallen, das dermaßen vernünftig war wie das Sozialstaatsvolksbegehren. Im Jahr 2002 war das und wesentlich im Bemühen verbunden unter anderen mit dem Arzt und Pflegeanwalt Werner Vogt, dem Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister, der Frauenministerin Johanna Dohnal. Und, was die Wenigsten wissen, mit dem Menschen- und Wirklichkeitswissenschaftler Pierre Bourdieu. Für ganz Europa hatte der so etwas vor. Sozusagen Österreich statt Katastrophe. (Wie auch immer.) Tun Sie es einfach! Bitte! Wiederholen Sie’s! Ah ja, und wenn Sie gerade dabei sind: Warum gibt es da hier kein Schulunterrichtsfach, das Helfen heißt? Installieren Sie es einfach. Bitte! Und im ORF ein fixes Friedensforschungsformat, Friedensprogramm, z. B. jede Woche 2 Stunden.
Mein Sozialstaatsroman, das sei noch gesagt, ist kein Schlüsselroman; der Schlüssel lautet vielmehr einzig wie folgt, nämlich: Menschen sind gut und klug, wenn man sie es sein lässt, und Systeme sind änderbar, wenn man sich ihrem Verhängnis nicht fügt. Sie würden, sehr geehrte Damen und Herren, würden Sie in den Sozialstaatsschuber schauen, keinen einzigen Menschen finden, niemanden, nicht unter den Opfern, nicht unter den Tätern, der nicht Entkommen und wirklichen Ausweg selber sich wünscht und selber benennt und selber versucht.
Wenn wir sprechen, sehr geehrte Damen und Herren, sind wir, kommt mir vor, wie Affen, die von Baum zu Baum springen. Sind unsere Sätze falsch, unser Satzen eben, sind wir auf der Stelle tot oder bald. Durchs Reden also, Sie und z. B. ich, lassen wir unsere Fehler, falschen Sätze eben, an unserer Stelle sterben. Ersparen uns so Leid und Tod. Könnten. Den anderen Leuten auch. Der Sozialstaatsroman jedenfalls besteht aus solchen Sätzen. Aus Situationen und Menschen besteht der und was die tun mit welchen Folgen. Schicksalhaften. Und eben diese werden durchbrochen. Fehler sind wiedergutmachbar. Jeder hat eine 2. Chance, ein 2. Leben. Mindestens.
Weltmaschine Graz. Festival Literaturhaus Graz und steirischer herbst ’19
Intervention 26. Juni 2019
Sofort springen Frösche, wenn man sie ins kochende Wasser wirft, wieder heraus aus dem Wasser. Aber wenn man ihnen, heißt’s, das Wasser peu à peu erhitzt und die Grade auf der Skala langsam, langsam nur, langsam ansteigen lässt, lassen die Frösche sich allesamt problem- und widerstandslos kochen. Dabei steigen die Frösche die Froschleiter immer höher hinauf und zum Schluss eben sind sie gar. (Mehr war nicht, mehr ist nicht.) Inhalt und Handlung von Bourdieus Die feinen Unterschiede sind einmal so ausgelegt worden. Österreichisch. Als Analyse des langsamen Eingekochtwerdens. Sohin als Beschreibung und Erklärung dessen, was dazu bringt, die Leiter hinaufzuwollen und -zukommen, sozusagen sich hinaufzuretten, anstatt dem Kesseltreiben schnell und ohne Zögern zu entfleuchen. Also sich herauszuretten.
Ebenfalls auf Österreichisch wurden Bourdieus Überlegungen zu Herrschaft, Macht und Gegenmacht allesamt einmal wie folgt kommentiert: Es gehe unter Erwachsenen durchaus zu wie in Schulklassen. Mitunter hole da dann eben der Lehrer den störendsten Störenfried oder die aufrührerischste Aufrührerin zu sich heraus oder herauf und sage zum Störenfried oder zur Aufrührerin, er, sie soll die Klasse übernehmen. Jetzt. Die Verantwortung also oder was auch immer. Die Macht halt. Und da dann steht oder sitzt der Störenfried oder die Aufrührerin der Klasse, der Masse perplex gegenüber und wisse preisgegeben, isoliert und ausgeliefert nicht, was tun. Die gegenwärtige linke Parteipolitik und die gegenwärtigen linken Protestbewegungen seien so: Wenn ein kleiner frecher Empörer, eine kleine muntere Empörerin von unten und draußen in eine gewisse Machtposition komme, wisse er oder sie eben nicht, was tun, und tue dort dann alles in allem dasselbe wie alle anderen dort sonst auch. Und Bourdieus Kunstsoziologie, die, die wurde auf Österreichisch einmal mit der simplen Frage quittiert, ob Bourdieu die Dirigenten als unnötig abschaffen wolle.
Der stets provokante, zuvorderst an Karl Kraus, Till Eulenspiegel, Joseph Hellers Militär-, Wirtschafts- und Gesellschaftssatire Catch 22, an Erving Goffman, Robert Merton, am common sense, Pragmatismus und an Kohorten von Paradoxien, Aporien und Anomien geschulte und gewitzte Sozialwissenschaftler, der die Frage nach der Abschaffung des Dirigenten gestellt hat und von dem auch der Vergleich mit den Fröschen stammt sowie der mit den reüssierenden Klassenkasperln, zuerst kecken, dann schockierten, dann braven, hieß Hans Georg Zilian. Verstorben 2005. Grazer. Bekanntlich spezialisiert auf die Arbeitswelt. Auch auf die von Hilfseinrichtungen. Diese hat er vorm Looping und Unterleben ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewarnt. Die Begriffe Looping und Unterleben stammen von Goffman und bedeuten in etwa Doublebind, Burnout und Absturzexistenz, nämlich dass die Belegschaft, das Personal, der Einzelne, die Jeweilige unlösbare Aufgaben aufgetragen bekommt und dann für die Fehler der Vorgesetzten zur Verantwortung gezogen wird. Mit allen Konsequenzen und infolge von obrigkeitlichem Organisationsversagen. Für die Ausbildung der steirischen Sozialarbeiterschaft war Zilian übrigens auch mitzuständig.
Als Franz Schultheis, der Herausgeber der deutschen Fassung von La Misère du Monde und damals Vizepräsident von Bourdieus Raisons d’agir, im Frühherbst 2000 durchaus auch in Vorbereitung von Bourdieus späterem Auftritt in Wien nach Graz kam, wurde er in der Diskussion vom Moderator Zilian gleich eingangs gefragt, wie das Bourdieusche Vorhaben einer europaweiten sozialen Sammelbewegung in Österreich denn überhaupt gelingen können solle. Denn: 1. träfen die französischen BourdieuanerInnen in Österreich ja auf alternativ-soziale Gruppen, die ihre Einzelinteressen massiv und egoistisch anderen, konkurrierenden Gruppierungen gegenüber durchzusetzen gewohnt und willens seien. 2. träfen die französischen BourdieuanerInnen ja lediglich aufs andere Österreich, aufs andere Wien, aufs andere Graz, also auf ohnehin alternativ gesinnte Minderheiten, die mit der Mehrheit nur schwer kommunizieren können, keine breite Öffentlichkeit finden und sich nicht bei der Mehrheit durchzusetzen vermögen. 3. Widerstand müsse sich immer irgendwie rentieren, sonst komme er nicht wirklich zustande. Wirklich Widerstand