Fehlschuss. Thomas Bornhauser

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Название Fehlschuss
Автор произведения Thomas Bornhauser
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038182740



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später waren Sirenen zu hören.

      Die folgenden Tage nach dem Tod seiner Frau müssen für Joseph Ritter der blanke Horror gewesen sein. Er geriet derart aus dem Tritt, dass er nur vier Wochen später die USA verliess, um bei der Schweizer Delegation bei der Waffenstillstands-Überwachungskommission NNSC im Niemandsland von Panmunjom am 38. Breitengrad zwischen Nord- und Südkorea einen Cousin zu besuchen und sein Trauma zu verarbeiten.

      Das Wellblechhütten-Camp der Schweden und Schweizer als Vertreter von neutralen Staaten auf der Südseite der Demarkationslinie (Tschechen und Polen waren, als ehemals kommunistische «Bruderstaaten», auf der Nordseite zu finden) war alles andere als eine Wohlfühloase, inmitten einer verlassenen Umgebung, zum Teil mit Minenfeldern bespickt.

      Die Schweizer Delegationsmitglieder – und auch ihr Leiter, mit der Bezeichnung eines Generalmajors und einer grossartigen Fantasieuniform, die jedem echten Schweizer General zu Ehren gereicht hätte – konnten deshalb an Wochenenden jeweils ins 55 Kilometer entfernte Seoul flüchten und dort im US-Camp «Yongsan» übernachten.

      Ritter blieb danach unerwarteterweise ganze drei Jahre in Südkorea, weil er – als früherer Ehemann einer US-Bürgerin – beim amerikanischen Truppenkommando in Seoul auf einer Luftwaffenbasis der US Air Force USAF eine Kaderstelle als Ausbildner im Bereich der Security angeboten bekommen hatte. Ende 2002 schliesslich kehrte Ritter in die Schweiz zurück, nach Bern. Sozusagen als Quereinsteiger – aber durchaus mit den notwendigen und verlangten Voraussetzungen – trat er Anfang 2003 eine Stelle beim Kriminaltechnischen Dienst KTD der Kantonspolizei Bern an.

      Mit seinen Schwiegereltern stand er immer noch in Kontakt, regelmässig.

       Ein intelligentes Gewehr

      Perron 2 im Bahnhof Münsingen, 05:35 Uhr. Regnerisch und kalt war es einen Tag später, am Dienstag, 6. Mai. Joseph Ritter und die wenigen Mitwartenden würden um diese Zeit keine Sitzplatzprobleme haben. Der Abteilungsleiter hatte ob der vielen Arbeit fast keine andere Wahl, als diesen frühen Zug zu nehmen, «mitten in der Nacht», wie es ihm während eines kräftigen Gähnens durch den Kopf ging.

      Er hatte wohl nicht mehr als vier Stunden geschlafen, war gestern erst gegen Mitternacht nach Hause gekommen, den Kopf voller Wirrungen, wie üblich, wenn eine Aufklärung erst an ihrem Anfang stand, mit lauter Fragen ohne Antworten. Die Pendlerzeitung war heute noch nicht in den blauen Kästen beim Bahnhof, per Zufall lag die Berner Zeitung jedoch bereits um 05:30 Uhr in seinem Briefkasten. Im Zug versuchte er, sich mit Lesen abzulenken, um den Kopf frei zu bekommen.

      Ritter merkte, dass er die Berichte gar nicht richtig lesen mochte, zu sehr hingen seine Gedanken den Ereignissen vom Vortag nach, so dass er die Zeitung nach nur einer Minute etwas zerstreut und irrtümlicherweise auf die Hutablage legte, worauf sie prompt von einem Mitreisenden aus dem Nachbarabteil mit einem «Darf ich? Danke vielmals, sehr nett» geschnappt wurde, noch bevor er überhaupt antworten konnte. «Sygseso»6, dachte er sich.

      «So ein Zufall! Sie im Zug, um diese Zeit, Herr Ritter? Das muss bestimmt mit dem Toten in der Marktgasse und dem ausgebrannten Auto zusammenhängen», tönte es ihm entgegen, worauf der ihm unbekannte ungefähr 40-Jährige ungefragt vis-à-vis von Ritter Platz nahm. «Und? Wissen Sie bereits mehr, als in der Zeitung steht?» Ritter wunderte sich plötzlich über sich selber, denn den entsprechenden Bericht in der BZ hatte er glatt überblättert.

      «Und was schreiben sie, in der Zeitung?»

      «Dass in der Marktgasse offenbar ein Unschuldiger erschossen wurde. Ist das nicht schrecklich? Wo führt das noch hin, Herr Ritter?»

      «Ich weiss es nicht», sagte Ritter zum Fragenden.

      «Und was ist mit den beiden Toten im Ferrari? Wenn Sie mich fragen, dann …» «Ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich habe Sie nicht gefragt … », entfuhr es Ritter wenig diplomatisch, weil inzwischen einige Leute zu ihm hinüberschauten und das Gespräch mehr oder minder auffällig belauschten. «Und bitte entschuldigen Sie mich, ich muss noch schnell etwas nachschauen.»

      Sprachs, stand auf und lief auf die Plattform zu den Eingangstüren, um die App der Berner Zeitung auf seinem Smartphone anzuklicken, denn es war wirklich kein Nachteil, bereits am frühen Morgen zu wissen, was die Tageszeitungen zu berichten wussten.

      Der «Ringhof», wo unter anderem auch die Einsatzzentrale der Kantonspolizei Bern zu finden ist.

      05:52 Uhr. In Bern angekommen, war er aufdatiert, samt den Online-Portalen der Boulevard- und Pendlermedien. Zusammengefasst: Es wurde zum Ereignis des Vortages spekuliert und Zeugen befragt, die aber nichts gesehen und schon gar keinen Schuss gehört hatten. Eine Zeitung lehnte sich sogar so weit zum Fenster hinaus, dass sie einen Zusammenhang mit dem Ferrari-Brand vermutete. Immerhin stand zum Schluss der Schlagzeile ein Fragezeichen, um den eigenen Bericht gleich selber wieder in Frage zu stellen. «Fastfood-Journalismus, einfach grandios …», murmelte Ritter vor sich hin.

      Ritter nahm vor dem Hauptbahnhof auf Perron G den Bus in Richtung Nordring. Zufall war es nicht, dass auch schon Stephan Moser im Fahrzeug stand. «Gut geschlafen, J.R.?», fragte er seinen Chef mit einem verschmitzten Lächeln, worauf er ein Achselzucken als Antwort erhielt.

      «Du?»

      «Überhaupt nicht.»

      «Ich schlage vor, dass wir uns im Büro einen Kaffee genehmigen und dann den gestrigen Nachmittag nochmals chronologisch durchgehen, einverstanden?»

      «Klar doch, vor allem das mit dem Kaffee ist eine sehr gute Idee.»

      Zehn Minuten später stand Ritter im Büro vor einer zweiten, noch leeren grossen Plexiglasscheibe, die dazu diente, das Wichtigste eines Falles aufzuschreiben oder anzuheften.

      «Ist etwas von den Kollegen des KTD zu lesen, vom IRM?», wollte er von Stephan Moser wissen, als dieser seinen PC gestartet hatte.

      «Negativ.»

      Just in diesem Moment ging die Türe auf, Regula Wälchli und Elias Brunner kamen gleichzeitig zur Arbeit, im Wissen, dass heute Grosskampftag angesagt war, auch in Bezug auf die Medienanfragen, die aber zum Glück von den Kapo-Kommunikatoren abgefangen wurden, so dass sich das Team auf seine eigentliche Arbeit konzentrieren konnte.

      «Übrigens», kam plötzlich von Regula Wälchli, «es ist reiner Zufall, dass Elias und ich gleichzeitig ankommen, ihr braucht gar nichts zu vermuten …»

      «Wir haben ja gar nichts gesagt», meinten die beiden anderen Herren beinahe synchron.

      «Aber einander angeschaut habt ihr euch …»

      Ritter begann mit der Zusammenfassung der Ereignisse vom Vortag. Der Schuss in der Marktgasse fiel um 12:11 oder 12:12 Uhr, Sekundenbruchteile bevor Arthur Aufdermauer – so hiess der Mann – gemäss Aussagen des Notarztes «mausetot» umfiel. Er habe nicht einmal mehr den Aufprall gespürt, derart präzis hätte das Geschoss in den Rücken das Herz getroffen.

      «Ein Profi?», fragte Regula Wälchli in Richtung des Chefs.

      «Durchaus möglich, muss aber nicht unbedingt sein, denn es gibt heute Technowaffen, die sich leicht handhaben lassen und extrem zielgenau sind.»

      Das Geschoss hatte man nach längerem Suchen hinter einer Bauabschrankung gefunden und sofort zu ballistischen Untersuchungen an den KTD weitergeleitet. Wie sich herausstellte, war Aufdermauer selbständiger Finanzberater mit einem Büro am Bahnhofplatz 3, wohnhaft in Muri, an bester Adresse, an der Pourtalèsstrasse. Beides war auf seinen Visitenkarten ersichtlich, die er in seiner Brieftasche trug, welche von der Kugel beim Austritt noch leicht gestreift wurde.

      Das Duo Wälchli /Brunner, von Ritter telefonisch aufgeboten, machte sich gestern nach diesen Erkenntnissen sofort zur Liegenschaft am Bahnhofplatz 3 auf. Dort hatten einige Notare und Anwälte ihre Büros, in unmittelbarer Nähe zu Cigarren Flury und vom Läckerli-Huus, deshalb wohl auch der nicht alltägliche Duft im Treppenhaus. Auffallend, unmittelbar links nach der Eingangstüre: Die uralten, aber seither wohl mehrmals