Liebe, Wissenschaft und die Wiederverzauberung der Welt. Jeremy W. Hayward

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Название Liebe, Wissenschaft und die Wiederverzauberung der Welt
Автор произведения Jeremy W. Hayward
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783867812443



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die für diesen Anlaß vorgesehenen Zeremonien ausführen, um den Kami dieses Ortes die gebührende Achtung zu erweisen. Im Verlauf der Bauarbeiten folgen weitere Zeremonien, die die Energie und Kraft der Kami auf diese Stelle lenken sollen.

      Die vorbuddhistischen Traditionen Tibets kannten Energiewesen, die drala genannt wurden und offenbar den japanischen Kami, den Heiligen Leuten der Navajo und den heidnischen Gottheiten und Feen des mittelalterlichen Europa sehr ähnlich sind. Drala bedeutet wörtlich »über dem Feind«. Trungpa Rinpoche schreibt in einem seiner Bücher dazu: »Drala ist die unbedingte Weisheit und Macht der Welt, die jenseits aller Dualismen ist; Drala steht über jedem Feind oder Konflikt.« In diesem Sinne meint Feind jede Form von Aggression oder Territorialdenken – alles, was unsere Welt in getrennte, einander bekämpfende Parteien aufteilt. Die Drala-Energien schaffen Harmonie zwischen den Teilen unserer Welt und heilen ihre Zersplitterung. Ich werde den Begriff »Drala« häufiger verwenden, weil er für uns neu und daher noch nicht mit Vorstellungen wie »Gottheiten«, »Feen«, »Engel« und so weiter befrachtet ist.

      Chögyam Trungpa Rinpoche glaubte, daß die westliche Welt zwar im Laufe der Zeit zu großem Wohlstand gelangt war, daß aber ein Großteil der Vitalität des Landes durch industrielle Produktion, Ausbeutung der Bodenschätze und so weiter verlorengegangen ist. Und deshalb haben sich die Dralas zurückgezogen. Damit diese Vitalität wiederhergestellt und eine ungesunde Situation geheilt werden kann, lehrte er im Westen den Shambhala-Pfad der heiligen Kriegerschaft, der den Menschen ermöglichen sollte, ihre ursprüngliche Herzensweisheit wieder mit der Energie und Kraft der Dralas zu verbinden. Diese Praktiken, sagte er, können Licht und Würde in die stoffliche Welt und unseren Körper zurückbringen, Überzeugungskraft in unsere Rede und schließlich Mut und die Kraft des Herzens in unseren Geist. Er betonte auch, daß wir tatsächlich Kontakt zu den Dralas aufnehmen können, daß sie nicht bloß eine nette, tröstliche Vorstellung sind. Aber zu diesem Kontakt kommt es nur, wenn wir praktisch daran arbeiten und nicht bloß darüber reden.

      • In all diesen Lebensformen – im mittelalterlichen Europa, bei den Navajo, in Japan und Tibet – erleben die Menschen ihre Welt offenbar in vielen Dimensionen. Hier der Bereich der materiellen Wirklichkeit, dort die Regionen der Götter, Geister, Ahnen und Engel. Das sind einfach verschiedene Arten, dieselbe Welt wahrzunehmen.

      So berichtet Carolly Erickson beispielsweise von einem Manuskript aus dem dreizehnten Jahrhundert, in dem von drei Mönchen erzählt wird, die zusammen den Ort finden wollten, »an dem Himmel und Erde sich vereinigen«. In zutreffenden geographischen Einzelheiten wird berichtet, wie sie den Tigris überqueren, Persien (den heutigen Iran) durchwandern und schließlich die weiten Ebenen Asiens erreichen. Unterwegs begegnet ihnen allerlei Merkwürdiges: ein Volk von kaum zwei Fuß großen Menschen, eine öde Berggegend voller Drachen, ein von Elefanten bevölkertes Gebirge, ein Ort, an dem Sünder furchtbare Qualen zu erdulden haben, und so weiter. Erickson schreibt:

      Der Bericht von der Wanderung der Mönche findet sich in einem eigentlich der Geographie gewidmeten Manuskript, das aber etliche Dimensionen der Wirklichkeit zu einer einzigen bruchlosen Landschaft verschmilzt. Es fließt auch eine spirituelle Geographie mit ein …, die einfach als ein Teil der terrestrischen Geographie behandelt wird.

      Die vielgestaltige Wirklichkeit als Hintergrund für die Reise der Mönche ist eine Art verzauberte Welt, in der die Grenzen zwischen Imagination und äußerer Tatsachenbeschreibung ständig wechseln. Mal werden die beobachtbaren Grenzen von Raum und Zeit anerkannt, mal werden sie ignoriert oder, anders betrachtet, transzendiert. Die ständige Ausweitung und Einengung des Wahrnehmungsfeldes geschieht jedoch so selbstverständlich, daß mittelalterliche Autoren sie gar nicht bemerken und daher auch keinen Anlaß sehen, Unstimmigkeiten zu bereinigen.

      • Auch das Universum der australischen Aborigines hat zwei Seiten: die gewöhnliche physikalische Welt, in der man seinen Alltag lebt, und eine zweite Welt, die Traumzeit genannt wird. Sie sehen aber beide Welten als gleichermaßen real an. Die Götter der Aborigines, die auch ihre Ahnen sind, wandern genau jetzt durch das Land und singen Geschichten. Dieses Land, das sonst leer und tot wäre, wird Augenblick für Augenblick durch das Erzählen und Wiedererzählen der Geschichten zum Leben erweckt. Die Geschichten lassen die Berge und Täler und Felsen und Tümpel entstehen. Die Songlines eines Ahnen, auch Traumpfad genannt, sind der Weg, den er bei der Erschaffung des Landes geht.

      Für traditionelle Aborigines ist es wichtig, die Regeln des Träumens zu erlernen und nach ihnen zu leben. Sie werden nach und nach in immer tiefere Schichten der Deutung ihrer Lieder und Geschichten eingeführt. Und je mehr sie lernen, desto mehr vermögen sie dem Land selbst anzusehen. Das Land selbst ist ihr Lehrbuch. In den Geschichten des Landes verbirgt sich alles, was man über die Dimensionen des Daseins wissen muß. Die Geheimnisse des Landes enthalten alles Wissenswerte.

      Die Lieder und Traumpfade sind deshalb so wichtig, weil sie die Wirklichkeit nicht nur beschreiben, sondern gleichzeitig die Kräfte sind, die diese Wirklichkeit in Gang halten. Sie sind die kosmischen Rhythmen und Melodien, die der alltäglichen Welt ihre Gestalt geben. Sie sind nicht von Menschen komponiert, denn dann hätten sie nicht die Kraft, die äußere Welt zusammenzuhalten und mit der Traumzeit zu verknüpfen. Die Lieder kommen von den Ahnen. Sie werden von Generation zu Generation weitergegeben und durch Träume ständig erneuert. Wenn ein Aborigine einen Traumpfad geht und das dazugehörige Lied singt, wird er ein Teil jenes Ahnen und damit zum Mitschöpfer des Landes. Ein Navajo würde vielleicht sagen: »Er geht in ho’zho.«

      Für viele traditionelle Völker lebt das Land auf diese Weise, zugleich enthält es die Weisheit der Ahnen. Der als Cree-Indianer geborene Autor und Universitätsprofessor Stanley Wilson berichtet von einem Erlebnis, das er während einer Konferenz in Georgia hatte. Er stand auf dem Campus und unterhielt sich mit seiner Frau Peggy auf Cree, als plötzlich ein noch nie erlebtes Hochgefühl über ihn kam, gefolgt von einer furchtbaren Depression. Als er später einen der Ältesten seines Stammes zu diesem Erlebnis befragte, erzählte dieser ihm, das Land bewahre uralte Erinnerungen an die Vorfahren, und diese Erinnerungen seien auch in den Zellen seiner eigenen Knochen gespeichert. Sie seien durch das Betreten dieses Landes wachgerufen worden.

      Um diese Geschichte verstehen zu können, mußt Du wissen, daß die Universität, an der die Konferenz stattfand, auf dem »Pfad der Tränen« lag – auf jenem Weg, den die Ureinwohner Amerikas zu Tausenden gehen mußten, als man sie aus ihrer angestammten Heimat in Georgia vertrieb, um sie in Reservaten in Oklahoma wieder anzusiedeln. Unzählige waren auf diesem Weg gestorben. Wilsons Ahnen gaben zuerst ihrer Freude darüber Ausdruck, daß sie jemanden Cree sprechen hörten, und erzählten ihm dann vom Kummer des Landes.

      • Welche Bedeutung könnten diese Geschichten für uns haben, Vanessa? Existieren Götter, Engel, Feen, Geister, Heilige Leute, Ahnen, Kami und Dralas wirklich? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Sie existieren wohl nicht als gänzlich eigenständige Wesen. Welche Form sie annehmen, ist eindeutig durch die jeweilige Kultur bestimmt. Aber sie sind auch nicht einfach subjektive Einbildungen, nicht bloß »in unseren Köpfen«. Was ich damit meine, wird hoffentlich im weiteren Verlauf klar werden, wenn wir die Natur der Erfahrung untersuchen und der Frage nachgehen, wie unsere sogenannte reale Welt zustande kommt.

      Es wird sich dann zeigen, daß wir dies auch von allem sagen können, was unserer Meinung nach in unserer Welt existiert, von Bäumen, Steinen, Vögeln, unserem Hund Sernyi, von Mama und mir: Nichts davon ist im Grunde von Dir getrennt, und nichts davon ist lediglich Deine subjektive Imagination. Mit Dralas und dergleichen ist das nicht anders. Und weil wir nicht grundsätzlich von ihnen getrennt sind, können wir Kontakt zu ihnen aufnehmen und ihre Energie in unser Leben herüberziehen. Und weil sie nicht einfach »nur in unserem Kopf sind«, können sie uns Kraft geben und uns helfen.

      Bei den Völkern, von denen ich Dir in diesem Brief erzählt habe, und darüber hinaus bei den meisten Naturvölkern der Erde, finden wir ein gemeinsames Thema: Die Welt ist lebendig, von lebendiger Energie, Mitgefühl und Bewußtsein durchdrungen. Und alles, was wir in unserer Welt sehen, hören und berühren, hat teil an diesem mitfühlenden, lebendigen Bewußtsein.

      Wir können sagen, daß Naturvölker mit der Seele der Welt verbunden sind – und damit ist nicht die Seele als ein besonderes »Ding« gemeint,