Название | Wir Eltern sind auch nur Menschen! |
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Автор произведения | Jörg Mangold |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867812337 |
→ Abb. 1.3 Der obere Weg. Vgl. Siegel, Daniel, The Developing Mind: How Relationships and the Brain Interact to Shape Who We Are. New York: Guilford Press, 2001.
Unsere Handlungen werden nicht nur von oben geplant, sondern auch vom Chef mit dem abgeglichen, was sich bislang für uns bewährt hat. Wir sind in der Lage, die Folgen unseres Tuns durchzuspielen und dementsprechend abzuwägen.
Wenn der Chef im Stirnhirn mitredet, ist das für uns als Eltern der entscheidende Heimvorteil in der Aktion mit unseren Kindern.
Wir haben schon einiges erlebt und Erfahrungen gesammelt. Wir können weiter voraus und um die Ecke schauen. Unser Chef im Hirn hält dann auch die ganzen schnellen und akuten Emotionen von unten aus dem alten Säugetier-Hirnanteil (Limbisches System) im Zaum. Er weiß, dass sich direktes Handeln aus Ärger, Wut oder Panik oft nicht wirklich lohnt. Er kann vorher beurteilen, was es kostet, aus dem ersten Affekt zu reagieren und was es kostet, nicht zu handeln. Es wäre schön, wenn unsere Kinder das alles auch schon könnten. Viele Alltagssituationen wären dann viel leichter miteinander zu bewältigen. Aber sie müssen diese Steuerung erst lernen und üben.
→ Abb. 1.4 Der untere Weg. Vgl. Siegel, Daniel, The Developing Mind: How Relationships and the Brain Interact to Shape Who We Are. New York: Guilford Press, 2001.
Wir merken allerdings, dass uns selbst als Erwachsene der Chef immer mal wieder abhanden kommt. Das sind meist Situationen, in denen wir ganz anders reagieren und handeln, als wir das mit etwas Abstand und Ruhe tun würden.
Gerade für uns Eltern gibt es im Hin und Her mit unseren Kindern immer wieder viele Gelegenheiten, die uns aufregen und in Stress bringen. Dann laufen wir Gefahr, dass falscher Alarm ausgelöst wird und wir auf den unteren Weg geraten.
Unten rum geht’s schneller
Dieser untere schnelle Weg ist in keiner Weise schlecht. Im Gegenteil: Wenn wirklich Gefahr droht, erlaubt er uns, schnell und sofort zu handeln und unser Kind zu retten oder zu schützen.
Wenn wir beispielsweise an einer viel befahrenen Straße stehen, unseren Kleinen der Ball herunterfällt und auf die Straße rollt und sie den ersten Schritt machen, um hinterherzulaufen. Dann greifen wir sie unvermittelt beim Arm, ohne vorher durchgerechnet zu haben, woher die Autos kommen, und ob es gut gehen könnte.
Oder ein anderes Beispiel: Sehen wir im Augenwinkel, dass von rechts etwas großes zotteliges Schwarzes auf uns zuspringt, sortieren wir nicht erst geistig durch, ob das Tante Helgas lieber Neufundländer ist oder ein anderer Hund; und schon gar nicht, um welche Rasse es sich handelt. Wir sind sofort auf Alarmstufe rot, bereit zu Flucht oder Verteidigung.
Die eigentliche Aufgabe des unteren Wegs im Gehirn ist die akute Notreaktion. Er ist wesentlich, wenn es schnell gehen muss und keine Zeit ist, alle Entscheidungen dem Chef da oben im Kopf vorzulegen.
Teil des unteren Wegs ist der sogenannte Mandelkern (Amygdala), eine ständig aktive Alarmanlage. Der Mandelkern scannt alle unsere Wahrnehmungen auf Gefahren da draußen, bevor uns das oben überhaupt bewusst wird.
Schrillen die Sirenen – „Raumschiff Enterprise auf Alarmstufe rot und alle auf Gefechtsstation!“ –, werden prinzipiell drei archaische Reaktionsmuster ausgelöst: Kampf oder Flucht; im schlimmsten Fall, wenn beides erfolglos scheint, Totstellen beziehungsweise Erstarren.
Im Körper wird das Stresssystem (Sympathikus) zum Kämpfen oder Fliehen hochgefahren, Stresshormone werden ausgeschüttet. Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, um alle Muskeln mit mehr Blut zu versorgen. Die Bronchien werden weit, die Atemfrequenz wird erhöht, um möglichst viel Sauerstoff in den Organismus zu pumpen. Wir sehen scharf. Und beginnen zu schwitzen, um schon mal zu kühlen, bevor die Aktion losgeht. Jetzt sind wir bereit gegen alle Säbelzahntiger der Welt zu kämpfen, unser Kind bis zum Äußersten zu verteidigen. Oder vielleicht zu fliehen, wenn wir alleine sind.
Gerade als Eltern erleben wir aber oft den falschen Alarm. So können wir im Kinderzimmer oder am Esstisch immer weiter den Streit mit unserem Kind eskalieren, um dann wilde Maßnahmen auszusprechen. Oder wir haben unseren geliebten Sohn schon fünfmal gerufen, weil wir eigentlich schon zu spät dran sind, und unser Stresssystem steigert die Erregung immer mehr. Und warum?
Sobald wir unter Stress geraten, rauschen wir auf den unteren Weg, weil uns unsere Kinder so wichtig sind. Vielleicht wurde in uns auch ein besonders wunder Punkt berührt, der den Alarm auslöst. Jedenfalls hat uns etwas so stark und heiß am Wickel, dass innerlich der Feueralarmknopf gedrückt wird, obwohl gar kein Feuer ausgebrochen ist. Und schon läuft das volle Notfallprogramm ab: Die Sirenen schrillen los, die Sprinkler gehen an, mit quietschenden Reifen fahren die Einsatzfahrzeuge vor.
Nicht selten stehen wir dann später pudelnass inmitten hektischer Feuerwehrleute und fragen uns, wie wir bloß wieder in diesen Schlamassel hineingeraten sind. Wir sind mit Vollkaracho über den unteren Weg geeilt, ohne dass der reife Erwachsene in uns als Chef mitsprechen konnte.
Wir können uns also gerade als Eltern selbst in eine gefühlte Bedrohung manövrieren. Dies ist auch ein Grund dafür, warum es besonders oft mit unseren liebsten Kleinen kracht, wenn wir einen ganz genauen Plan im Kopf haben wie die Dinge laufen sollen. Nur unsere Hübschen verfolgen ja oft ganz andere Pläne!
Unser Stresssystem fährt hoch, die Alarmanlage wird immer sensibler und meldet irgendwann Bedrohung (auch wenn es nur für die Pläne ist). Und schon sind wir auf der Abkürzung unten rum. Diese „Falle“ im Umgang mit unseren Kindern funktioniert umso besser, je kleiner sie sind, je mehr sie sind, je energiegeladener und selbstbewusster sie sind.
Sind dann auch noch andere beteiligt, können die Wege vollends durcheinandergeraten. Sehr wahrscheinlich sind wir sehr schnell auf dem unteren Weg, wenn der Nachbar wutentbrannt auf unseren Sohn zugestürmt kommt, weil der gerade die schönen Rosen dort drüben geköpft hat. Dann stellen wir uns als Löweneltern dazwischen, besetzen alle Gefechtsstationen auf höchster Alarmstufe und sind bereit, für unser Kind zu kämpfen. Das kann zu sehr spannenden Ergebnissen führen, wenn der Nachbar ebenfalls gerade auf dem unteren Weg rast, um seine geliebten Rosen zu verteidigen oder zu rächen.
WIR KÖNNEN NICHTS FÜR DIESES TRICKREICHE GEHIRN
Das ist die große Botschaft aus den bisherigen Betrachtungen, wie unser Hirn gebaut ist und für was es sich entwickelt hat.
Wir haben unser Gehirn nicht ausgesucht, wir hatten kein Mitspracherecht beim Bauplan. Über Millionen von Jahren entwickelt zum Überleben, ist es uns so zugeschustert worden. Ergänzend wurden noch ein paar Besonderheiten unseres persönlichen Temperamentes über die Gene unserer Eltern eingebaut. Auch die haben wir nicht aussuchen können. Und so versuchen wir nun unser Bestes als Vater oder Mutter, um mit diesem trickreichen Organ bei allen Aufgaben unserer Brutpflege einen Weg zwischen oben und unten zu finden.
Es ist Zeit für Selbstmitgefühl und nicht für Selbstvorwürfe, wenn wir feststellen, dass wir mal wieder ungeplant unter falschem Alarm in die Abkürzungsfallen geraten sind.
Die gute Botschaft ist: Wenn wir erkennen und verstehen, wie wir mit den alten und den jüngeren neuen Anteilen im Gehirn reagieren, können wir lernen, das Zusammenspiel selbst mehr zu beeinflussen. Wir können Wege üben, den Chef zu stärken und ihm Zeit für Mitsprache zu geben.
Bemerkenswert ist, dass wir das ganze Phänomen des oberen und unteren Weges oft recht gut erkennen können, wenn wir anderen dabei zuschauen. Wir wundern uns vielleicht sogar ein bisschen, wenn unsere Bekannten oder Freunde mit ihren Kids in das Schattenboxen mit den vermeintlichen Säbelzahntigern einsteigen: „Warum machen die jetzt so ein Drama?“ Wir haben emotional mehr Abstand und versuchen unsere Freunde aus ihrer Erregung wieder herunterzubringen.
Wir haben also das Zeug dazu!
In den Kapiteln 3 und 4 wollen wir deshalb genauer erforschen,
• wie wir uns selbst gute Freunde sein können,
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