Название | Wir Eltern sind auch nur Menschen! |
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Автор произведения | Jörg Mangold |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867812337 |
1.2 Das Gehirn hat eine Geschichte
→ Abb. 1.1 Dreieiniges Gehirn (engl. „triune brain“). Vgl. McLean, P. et al., A Triune Concept of the Brain and Behaviour. Toronto: University of Toronto Press, 1973.
Das Gehirn ist nicht über Nacht in unseren Kopf geraten. Seine Reifung hat auch nicht erst mit unserer Zeugung begonnen. Unsere Eltern haben uns zwar mit ihren Genen den Bauplan vererbt. Aber der Aufbau dieses Organs und grundlegende Schaltkreise haben sich in Millionen von Jahren der Evolution entwickelt.
Es lohnt sich also zu schauen, wo wir herkommen. Denn die Art und Weise, wie wir heute uns selbst, unsere Kinder und die Welt wahrnehmen, basiert ganz entscheidend darauf, wie sich dieses Organ im langen Lauf der Zeiten an seine Aufgaben angepasst hat.
Alte und neue Hirnanteile
Noch heute kann man die Entwicklungsstufen im Gehirn erkennen. Grundlegende Systeme bestehen schon seit der Zeit der Dinosaurier. Diese Hirnstrukturen sind bei uns und zum Beispiel Eidechsen noch immer ziemlich ähnlich aufgebaut. Nennen wir diese Anteile das „Dinosaurier-Gehirn“. Es regelt überlebensnotwendige Funktionen wie Atmung, Schlaf, Durst, Hunger und Körpertemperatur, aber auch grundlegende Reaktionen auf angenehme und unangenehme Reize, auf Bedrohung und zudem die Sexualität. Hier können wir heute noch ticken wie ein Dino.
Eine große Veränderung durchlief das Gehirn, als Tiere anfingen, ihren Nachwuchs zu säugen. Das verlängerte die Brutpflege erheblich und bedurfte einer engen, fürsorglichen Bindung an den Nachwuchs. Bindung braucht Emotionen. Deshalb entwickelten sich besondere Strukturen im Gehirn. Sie ermöglichten es, Gefühle mit Erfahrungen zu verknüpfen und die neuen Eigenschaften zu speichern. In späteren Entwicklungsstufen der Säugetiere waren diese Areale auch beim Lernen sowie für Beziehungen und Gruppenbildung wichtig. Nennen wir sie zusammenfassend das „alte Säugetiergehirn“. Wir haben zur Evolution ja meist martialische Begriffe wie Kampf und Auslese im Kopf. Es ist doch eine nette Randnotiz, dass Nähe, Versorgung und Fürsorge die Basis für diese so erfolgreiche Weiterentwicklung der Säugetiere und ihrer Gehirne bildeten.
Zuletzt kamen die Errungenschaften hinzu, die uns als Homo sapiens so einzigartig machen. Direkt hinter der Stirn sitzt die Kommandozentrale für die Denkfertigkeiten, die uns als Menschen besonders auszeichnen. Dort ist die Hirnmasse in der Menschwerdung am meisten gewachsen. Deswegen haben wir diese hohe aufrechte Stirn und nicht mehr die flachere Stirnform unserer Vorfahren, der Neandertaler.
Nur ein Wimpernschlag Menschheit
→ Abb. 1.2 Menschwerdung
Mit Blick auf die Erdentstehung erscheint die gesamte Geschichte des Homo sapiens nur wie ein Blinzeln. Noch einmal dramatisch an Fahrt aufgenommen hat die Entwicklung seit der industriellen Revolution vor 200 Jahren. Und in den letzten 30 Jahren der digitalen Revolution wurde unsere Lebensart mit Computern, Internet und Smartphones noch einmal rasant umgekrempelt. Unsere Kinder können sich ein Leben ohne digitale Technik im Wohnzimmer und das Smartphone in der Hosentasche – mit Verbindung zur ganzen Welt – gar nicht mehr vorstellen.
Wenn ich erzähle, dass meine Familie bis ich 10 Jahre alt war noch nicht einmal ein Telefon besaß, komme ich völlig antik daher. Unser Schwarz-Weiß-Fernseher empfing nur drei Programme und spätestens um Mitternacht gab es nur noch das Testbild zu sehen. (Ich erinnere mich gut an den Streit „Daktari versus Sportschau“, den mein Vater immer gewann.)
Wir haben als Menschen ein ganz neues Zeitalter geschaffen, in dem wir uns mit unseren alten und neuen Gehirnanteilen zu behaupten haben. So schnell konnte dieses Organ gar nicht „hinterherkommen“ und auch als Individuum fällt es uns nicht immer leicht.
Später kommen wir noch ausführlicher darauf zu sprechen, dass es auch eine Kehrseite der Medaille dieser neuen Hirnwindungen und menschlichen Denkfunktionen gibt, und welche „unerwünschten Nebenwirkungen“ sich daraus für unsere Psyche ergeben können.
Eine Urwelt voller Gefahren steckt uns noch heute im Kopf
Viele Urbewohner der Erde haben es nicht geschafft, zu überleben und sind im Verlauf der Zeit ausgestorben. Aber das menschliche Gehirn hat sich in einer Art und Weise entwickelt und verändert, die hilfreich war für das Überleben. Anders als in unserer jetzigen Lebenswelt ging es dabei die meiste Zeit um Leben und Tod.
Die Hauptregel war:
»To have lunch or to be lunch!«
also
»Hast du was zu essen oder wirst du gefressen?«
Das hatte Auswirkungen auf das Gehirn. Es hat gelernt, negative Ereignisse stärker zu gewichten. Die Wissenschaftler bezeichnen das als „negativity bias“.
Vielleicht wird uns als Mutter oder Vater am Ende des Tages klar, dass wir einen wirklich blöden Fehler gemacht haben. Daneben könnten uns noch 35 Dinge in den Sinn kommen, die an diesem Tag wirklich gut gelaufen sind. Wenn wir trotzdem grübelnd bei dieser einen Geschichte hängen bleiben, hat das genau damit etwas zu tun.
In der Urzeit war es eben wichtiger, sich die kritischen Lebensereignisse zu merken, etwa zu wissen, wo der Säbelzahntiger kreuzt, als zu speichern, wo die größten Pilze wachsen. Das heißt nicht, dass es nicht prima war, wenn sich einer aus dem Stamm gemerkt hatte, wo die besten Pilze wachsen und dafür auch gelobt wurde. Aber all diejenigen, die sich Gefahren nicht merken konnten, wurden zur Mahlzeit. Unterm Strich führte das zu einer Auslese zugunsten der Menschen mit Angst-, Gefahr- und Krisenspeicher-Gehirnen, die diese Gene für ein starkes Alarmsystem weitergeben konnten. Es haben also die nervösen Angsthasen überlebt, die ständig in Hab-Acht-Stellung waren und überall Unheil lauern sahen.
Kommt uns das irgendwie bekannt vor als Eltern?
Und jetzt wissen wir: Dafür können wir gar nichts! Denn wir haben ein Gehirn im Kopf, das sich evolutionsbedingt an die kritischen Ereignisse besonders gut erinnert.
Dazu kommt noch, dass wir aus uraltem Antrieb unsere Kinder schützen wollen. Es geht ja biologisch auch darum, die eigenen Gene weiterzugeben. Säuger, das wissen wir nun, versuchen dies über intensive Brutpflege zu ermöglichen. Wir Menschen haben das ja zu einem Extrem getrieben: Ab welchem Alter würde unser Kind eine Woche überleben, wenn es im Wald auf sich gestellt ist? Gut, manche Mütter würden sagen nie und manche Väter wären vielleicht mutiger. Aber im Vergleich zu anderen Säugern braucht unser Nachwuchs doch extrem lange, bis er ansatzweise selbstständig ist.
Kritik wiegt schwerer als Lob
Vom reinen Überlebensvorteil bei Gefahr hat sich der evolutionäre „negativity bias“ auch in die Spielregeln des Zusammenlebens unserer Vorfahren eingeschlichen. Heute erleben wir das hautnah, zum Beispiel bei Kritik und negativen Rückmeldungen.
An wie viele Komplimente oder Lob können Sie sich aus dem Stehgreif erinnern? Und wie präsent sind Ihnen dagegen vielleicht viel länger zurückliegende Momente einer beißenden Kritik oder Peinlichkeit?
Darauf, wie wir Kritik wahrnehmen, haben sich auch hunderttausend Jahre Leben in kleinen überschaubaren Stammesgruppen ausgewirkt. Verbannung wäre damals der sichere Tod gewesen und damit wurden kritische Rückmeldungen aus der Gruppe viel überlebenswichtiger als besondere Ehrenpreise. Daher hinterlässt Kritik heute noch so viel stärkere seelische Spuren als Lob.
Ein persönliches Beispiel: