Название | Wir Eltern sind auch nur Menschen! |
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Автор произведения | Jörg Mangold |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867812337 |
Heute, nach einiger Praxis in Selbstmitgefühl, kann ich auch wieder gleich auf die Bögen schauen und mir sagen: „Ach, irgendjemand ist immer unzufrieden, du kannst nicht alle erreichen. Dafür sind die Menschen zu unterschiedlich. Wenn die Mehrheit zufrieden ist, dann bin ich das auch.“ Ich weiß also aus eigener Erfahrung, dass Kritik manchmal schwerer wiegt als Lob.
Rick Hanson, ein US-amerikanischer Neuropsychologe, meint, dass Kritik fünfmal stärker wahrgenommen wird als Lob. Bei mir war das sicher eher im Verhältnis 10:1. Aber herauszufinden, dass die historische Ausrichtung meines Gehirns da mitspielt und ich nicht besonders überempfindlich bin, hat mir geholfen. Es ist auch gut zu wissen, dass ich selbst etwas dafür tun kann, um dieser Negativ-Tendenz entgegenzusteuern oder sie gar auszugleichen. Ich kann mit einem selbstfreundlichen Geist meinem Gehirn neue Pfade beibringen und diese festigen.
Was hat das alles mit dem Elternsein zu tun?
Greifen wir das Verhältnis „Kritik zu Lob“ auf. Eine kleine Mathe-Aufgabe für Eltern:
Gehen wir davon aus, dass uns Kritik und Lob im Verhältnis 5:1 berühren. Jetzt rechnen wir mal hoch, wie oft wir im Alltag unser Kind kritisieren beziehungsweise korrigieren und wie oft wir es loben. Diese Rechnung ist wichtig, weil ja auch Kinder im Sinne des „negativity bias“ kritische Anmerkungen viel stärker wahrnehmen.* Die Negativtendenz ist ein Sinnbild dafür, dass wir bei so vielem – was wir denken, fühlen und wie wir reagieren – von einem Gehirn gesteuert werden, das sich über Millionen von Jahren zum Überleben in einer völlig anderen Welt ausgebildet hat. Je mehr wir im Alltagsleben gestresst oder unter Druck sind, desto eher geraten wir in den „Dinosaurier-Modus“. Wir schalten automatisch und vorbewusst auf diese uralten Hirnanteile und ihre Not- und Überlebensprogramme zurück.
Starke Anforderung, Stress und Bedrohung passen nun durchaus gut zur Stellenbeschreibung dieses härtesten (und freudigsten) Jobs der Welt, dem Elternsein.
Das Bild des Dinosaurier-Modus kann uns helfen, so manche unserer Reaktionsweisen als Vater oder Mutter besser zu verstehen. Vor allem wenn wir nach einem Streit, nach einem Hineinrauschen in Genervtsein, Schimpfen und Strafen-Verhängen hinterher manchmal selbst verblüfft sind, was uns da geritten hat.
Und es gibt noch eine weitere wichtige Erkenntnis: Das Gehirn, dieses Oberzentrum, ist auch nur ein Organ unseres Körpers. Es regelt wichtige Funktionen und generiert die ganze Zeit Gedanken, so wie unsere Speicheldrüse uns das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt oder unser Magen Magensaft produziert, wenn wir eine leckere Speise essen.
Oft ist uns gar nicht bewusst, dass hier unentwegt „geistige Spucke“ läuft. Zudem vergessen wir manchmal, dass das nur Gedanken sind und nicht die Wirklichkeit.
Jeder von uns kennt Situationen, in denen wir vollständig von unseren Gedanken überzeugt sind, uns aber Momente, Stunden oder Tage später wundern, was wir uns da eigentlich zusammengereimt haben. Wenn wir Pech haben, sind uns die Gedanken schon aus dem Mund gelaufen, und wir würden uns sehr wünschen, sie wieder zurückholen zu können.
Es ist beinahe eine Entzauberung dieses Organs: „Hey ja, dauernd sind da Gedanken, aber eigentlich sind es nur Gedanken, sonst nichts.“
Gedanken sind nur Gedanken, sind nur Gedanken. Glaube nicht alles, was du denkst!
Versuchen Sie mal 3 Minuten ruhig zu sitzen oder zu stehen und einfach zu atmen. Achten Sie nur auf die Bewegungen des Atmens in Ihrem Körper. Sie werden merken, dass Sie ganz schnell auch Gedanken wahrnehmen, vielleicht sogar einen ganzen Fluss an Gedanken. Wenn Sie aufgeregt sind, dann fließt er noch schneller.
In Übungen zur Achtsamkeit versuchen wir uns selbst und auch unser Denken wahrzunehmen. Bemerken, wie viele Gedanken da sind, wie sie ständig kommen und gehen. Wir versuchen uns dabei ein wenig neben den Fluss der Gedanken zu stellen, statt mittendrin zu sein.
Gerade wir Eltern sind ständig in Aktion und denken quasi doppelt, für uns und für die Kinder. Vor allem wenn wir im Stress sind und über viele Sorgen oder Befürchtungen nachdenken, kann es helfen, sich neben den Gedankenfluss zu stellen und zu beobachten, um nicht mit dem Gedankenfluss fortgespült zu werden.
Wir werden das in Kapitel 3 aufgreifen und Übungen dazu ausprobieren.
Kurz und knapp:
• Unser Gehirn ist älter als wir denken. Es hat sich über Millionen von Jahren entwickelt, angepasst, um zu überleben.
• Die Menschen mit den empfindlichsten Alarmanlagen im Gehirn haben überlebt und ihre Gene weitergegeben.
• Aus diesem Grund speichern wir heute noch kritische Ereignisse intensiver ab als positive. Das nennt man die Negativ-Tendenz des Gehirns. Deshalb berührt uns Kritik auch viel stärker als Lob.
• Wir haben fantastische Denkfunktionen entwickelt in unserem „neuen Hirn“ und verändern damit die Welt. Aber je stressiger es wird, desto mehr greifen wir auf unser „altes Hirn“ zurück und führen im Autopilot evolutionäre Überlebensprogramme gegen „Säbelzahntiger“ aus.
1.3 Der Chef sitzt oben, der Dino geht unten rum – Der obere und der untere Reaktionsweg des Gehirns
Nun wollen wir uns die uralten und die neuen Regulationsmechanismen unseres Gehirns noch etwas genauer anschauen.
Wenn wir ruhig und gelassen sind, können wir mit allen jüngeren Hirnabteilungen arbeiten, reif und überlegt handeln. Das Kommando wird dann im Gehirn von oben nach unten weitergegeben. Eine Vielzahl neurobiologischer Befunde zeigt aber, dass wir unter Druck oder Stress mit dem alten Dinosaurier-Gehirn arbeiten, sozusagen eine Abkürzung nehmen.
Das bezeichnet Daniel Siegel, US-amerikanischer Psychiater und Neurowissenschaftler, der sich auch mit Achtsamkeit und Erziehung beschäftigt hat, als den unteren Weg. Wir führen dann unbewusst und blitzschnell vor Urzeiten angelegte Notreaktionen aus.
Oben beim Chef
Wesentlich für den oberen Weg sind die Gehirnareale hinter der Stirn, vor allem die Regionen, die Neurowissenschaftler als Präfrontaler Cortex und Anteriorer Cingulärer Cortex bezeichnen. Wenn diese zwei Bereiche mitspielen dürfen, sitzt der reife Erwachsene als Chef am Steuer.
Wir haben dann eine Chance, uns vorher zu überlegen, was wir tun oder sagen wollen. Wir können unsere Gefühle und Emotionen regulieren. Der obere Weg hat also eine Bremse eingebaut, die es uns erlaubt, unsere Impulse noch einmal zu überprüfen.
Sich bewusst zu steuern, ist eine wichtige menschliche Eigenschaft, die während der Entwicklung eines Kindes zum Erwachsenen immer besser ausgebildet wird. Sie wird neurowissenschaftlich Exekutivfunktion genannt. Dabei hemmen die jüngeren Hirnareale den Überschuss der anderen, von oben nach unten.
Übrigens haben Kinder und Erwachsene mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) genau mit diesen Exekutivfunktionen Probleme. Bei ADHS sind die Mitarbeiter des Chefs in Gehirnabteilungen weiter hinten und unten quasi schwerhörig. Sie reagieren oft nicht auf die Anweisungen ihres Chefs. Die Konsequenz ist, dass Reize, innere Ideen und Impulse nicht so gut gefiltert und gehemmt werden.
Ein Ausspruch einer Erwachsenen mit ADHS verdeutlicht das: „Ich möchte endlich das sagen können, was ich wirklich meine, und