Название | Dalriada |
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Автор произведения | Gerhard Streminger |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783701179718 |
Das Leben in England, zumal im ländlichen Teil, läuft um einiges langsamer ab als bei uns, vielleicht mit Ausnahme der Schweiz. Alles scheint, auch die Reaktionen der Menschen, ein wenig in Watte gepackt zu sein. Kaum jemand empfindet es deshalb als einen Makel, wenn man sich mit Reaktionen ein wenig Zeit lässt und zuerst einmal nachdenkt, ehe man handelt oder urteilt. Allein diese Geduld ist schon recht zivilisiert, aber in Oxford, so meine Erfahrung, kommt noch etwas Besonderes hinzu: Es scheint dort geradezu verpönt zu sein, auf Fragen eine ritualisierte, erwartete, allzu übliche Antwort zu geben. Selbst alltäglichste Erkundigungen wie nach der Uhrzeit werden oft so beantwortet, als wollte man dem Gegenüber versichern, hellwach und geistesgegenwärtig, ganz da zu sein. Dies geschieht, indem man – wenn gefragt – zunächst einmal die dazu relevanten Fakten oder Umstände im Kopf durchgeht, dann auswählt und von diesen, wenn möglich mit etwas Humor, berichtet. Das dauert zwar länger als üblich, aber diese klarsichtige Sachlichkeit auch in unerwarteten Situationen schafft Vertrauen. Allerdings hat diese Verachtung des allzu Gewöhnlichen auch eine Schattenseite, nämlich eine bemerkenswerte Vorliebe für ziemlich verstiegene, wenn nicht gar verrückte Ansichten.
Neben den Pubs erfüllen die zahlreichen Parks in ganz England, natürlich auch in Oxford, eine zentrale soziale Funktion. Sie sind ein wichtiger Treffpunkt, ein Ort der Erholung und ein Hort der achtsamen Pflege anderer Lebewesen. Seit zumindest 5.000 Jahren gibt es – beispielsweise aufgrund von Beobachtungen an der Kult- und Kulturpflanze Wein im alten Ägypten – das Wissen, dass es gelegentlich der klugen, kultivierenden Hand des Menschen bedarf, sollen Pflanzen sich voll entfalten können. Die Sorgfalt, mit der in englischen Parks andere Lebewesen gepflegt werden – und sei es nur die Sorge, ob Pflanzen wohl genügend Licht und Wasser bekämen –, könnte ein Vorbild dafür sein, dass Menschen auch ihre soziale Umgebung achten und kultivieren sollten. Bürger und Bürgerinnen, so könnte man den Gedankengang weiterspinnen, müssen für den Staat Sorge tragen, damit dieser blühe und gedeihe wie ein Garten; und der Staat wiederum sollte die Bedingungen dafür schaffen, dass Menschen und andere Lebewesen weitestgehend frei ihren eigenen Begabungen und Interessen nachkommen können.
Dennoch wirken englische Parks auf den ersten Blick ungeordnet, ungezähmt und geradezu schlampig im Vergleich zur Pflanzendressur in französischen Barockgärten. Aber auch hier trügt der Schein. Denn in einem english garden steckt sehr viel Planung, allerdings interessierten sich die klassischen englischen Landschaftsarchitekten für die von Menschen erdachten Geometrien nicht. Vielmehr ging es ihnen um Abwechslung und um das natürliche Spiel von Licht und Schatten. Französische Barockgärten sind in entscheidender Hinsicht immer gleich gestrickt: Auf einer eingeebneten Fläche werden am Reißbrett geplante Figuren mit Hilfe von Blumen oder Buchsbäumen, Eiben oder Zypressen in die Wirklichkeit übertragen. Englische Landschaftsarchitekten erachteten es hingegen als entscheidend, die Besonderheit des Ortes künstlerisch zu gestalten, und das heißt: das Wesentliche des Orts, den genius loci zunächst einmal zu erfassen und ihn dann zu betonen.
Auf der Basis topographischer Gegebenheiten wurde also in der englischen Landschaftsarchitektur versucht, ein ganz bestimmtes Gebiet mit Hilfe natürlicher Elemente wie Bäume, Hügel, Weiher oder Wiesen behutsam zu verbessern. Ist dies gelungen, so spiegelt sich darin die menschliche Sehnsucht nach paradiesischen Zuständen. Wie die besten Kunstwerke, machen auch englische Parks das Dasein erträglicher und lassen eine andere, gar jenseitige Welt vergessen. Die Balance oder Ausgeglichenheit zwischen den verschiedenen natürlichen Elementen, die in englischen Parks veranschaulicht ist, passt zudem vorzüglich zum geistigen Klima Oxfords. Denn Intellektuelle sind wohl so zu charakterisieren, dass sie bereit und fähig sind, verschiedenste Standpunkte zu verstehen und dann zwischen diesen mittels Urteilskraft abzuwägen, also ein gedankliches Gleichgewicht herzustellen.
Es war für mich also von vorneherein klar, dass ich in Oxford viel Zeit in Parks oder am Ufer des Cherwell oder der Themse verbringen würde. Und doch fehlte mir etwas: Obwohl die Stadt über großartige Flusslandschaften verfügt, gibt es – was ich anderswo in England zum ersten Mal gesehen hatte – nirgendwo großzügige, unverändert gebliebene Flussinseln. Diese besonderen Enklaven eignen sich meiner Erfahrung nach besonders gut zur Beobachtung von Vögeln und deren Nistverhalten. Diese Lebewesen scheinen sich auf derartigen grünen Inseln – den Katzen so fern – pudelwohl zu fühlen. Wenn man sich also die Zeit gönnt, so sieht man auf diesen Flussinseln ein ständiges Kommen und Gehen, ein Davonfliegen und ein Heimkommen, und man erfährt als Betrachter ein erlesenes Tiefenerlebnis. Ich erinnere mich noch gut, dass einmal erst durch das Treiben dieser Lebewesen sich für mich eine bloße Kulisse in eine Landschaft verwandelte. Im zivilisierten Oxford, wo der erste botanische Garten Englands gegründet worden war, gibt es aufgrund vieler Flussbegradigungen diese ganz spezielle Raumerfahrung aber nicht mehr.
Nach einigen Tagen der Entspannung verließ ich Oxford und fuhr in Richtung York mit dem Ziel Castle Howard, das etwa zwei Dutzend Kilometer nördlich der berühmten mittelalterlichen Stadt erbaut wurde. Noch in der Nacht brach ich meine Zelte ab, um bei Beginn des Morgenverkehrs bereits auf der Autobahn zu sein. Znächst folgte der Schwärze der Nacht das Grau der Dämmerung. Die Scheinwerfer der Autos, die kegelförmige Lichter in die Dunkelheit gebrannt hatten, verloren zusehends an Kraft; und alles das, was außerhalb dieses Lichts gelegen war, wurde allmählich sichtbar. Schemenhaft waren bereits Häuser und Bäume und Hecken zu erkennen, und langsam verfärbte sich das allgemeine Grau in das Rosa der Gefieder von Flamingos; auch die weißen Kondensstreifen der Flugzeuge vor blauem Hintergrund waren nun deutlich zu erkennen.
Als der oberste Rand der Sonne am Horizont sichtbar wurde, fuhr ich bereits auf der Autobahn. Aber anders, als ich es erwartet hatte, herrschte dort eine fast gespenstische Ruhe: Anstatt sich dem schnellstmöglichen Fortkommen zu widmen, fuhren die Lastwagenfahrer, aufgefädelt in der ersten Spur, ganz langsam und schauten offensichtlich gebannt zum Horizont. Die zweiten und dritten Fahrstreifen blieben praktisch unbenützt. Völlig unerwartet, befand ich mich damals inmitten einer Sattelschlepperprozession der aufgehenden Sonne entgegen. In dem Augenblick jedoch, in dem die Sonne in ihrer ganzen Größe hinter dem Horizont aufgetaucht und das Licht zu grell geworden war, um die Sonne direkt anzuschauen, traten die Lastwagenfahrer auf das Gaspedal, und das übliche Gerangel setzte ein. Im hellen Licht waren nun alle Gegenstände, wie gewohnt, deutlich zu erkennen, aber alles wirkte kleiner und niedriger als in der Dämmerung zuvor.
Gleich neben den Ausfahrten der Autobahnen oder nahe den zahlreichen Kreisverkehren hatten da und dort Roma und Sinti ihre Wohnwägen geparkt. Außer diesem sagenhaften ›Fahrenden Volk‹ waren gelegentlich auch noch sie unterwegs, die Hippies der 60er Jahre und ihre Nachkommen. Mit einem alten Lastwagen oder einem alten Autobus, den sie zum Wohnhaus umfunktioniert hatten, fuhren sie übers Land. Zumeist waren die langhaarigen Frauen dieser homeless people in bunte, lange Röcke gekleidet, in die kleine, zumeist runde Blechstücke eingenäht waren. In ihnen spiegelten sich die Blicke der Betrachter. Als mir einmal nahe Oxford solche ätherischen, zumeist barfüßigen Wesen auf einer Fußgängerbrücke begegneten und sich Teile meines Körpers in ihren Kleidern spiegelten, dachte ich sonderbarerweise an die Gestalt des Hofnarren bei William Shakespeare. Als Einziger außer den Liebenden durfte er in einer adeligen Welt des Scheins die Wahrheit sagen – und die Torheiten anderer, selbst des Königs, widerspiegeln.
Zumeist werden diese homeless people von den Sesshaften, selbst im ziemlich toleranten England, mit einiger Verachtung angeschaut, oder man weicht ihnen großräumig aus, oder aber man blickt durch sie hindurch, als wären sie Fensterglas oder Büsche, die gerade ihre Blätter verloren hatten. Viele dieser gestrengen Betrachter sind gewiss gute Protestanten, deren Religion die Arbeit geheiligt hat. Mit großem Ernst werden sie, falls sie noch bibelkundig sind, sich auf die Autorität der von Gott offenbarten Schrift berufen, auf den heiligen Paulus vor allem. Aber der Held des Christentums und seine ersten Anhänger hatten nicht gearbeitet. Jesus von Nazareth warnte sogar vor der Arbeit und erkor die sorglosen Lilien im Felde zum Vorbild.
Häufig zu sehen waren diese modernen Nomaden allerdings nicht mehr, weshalb sie auch