Dalriada. Gerhard Streminger

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Название Dalriada
Автор произведения Gerhard Streminger
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701179718



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schon als schmerzhaft empfand. Gerade diese Behutsamkeit der Darstellung öffnete jedoch zahlreiche Räume und ließ mich – und wohl auch unzählige andere – am Geschehen fast unmittelbar teilhaben. Zugleich erlaubte diese Gemächlichkeit, die heutzutage als ziemlich exotisch gelten dürfte, sehr viel Zeit für eigene Assoziationen. So reiste man nicht nur im Großbritannien der 20er und 30er und 40er Jahre sowie in der Gedankenwelt und den zum Teil bizarren emotionalen Welten anderer dahin, sondern ich unternahm zugleich eine Wanderung in die eigene Vergangenheit, gelegentlich voller Überraschungen.

      Sowohl Schauplätze als auch das Besondere der Verfilmung von Wiedersehen mit Brideshead blieben mir also in lebhafter Erinnerung. Gerade in hektischen Zeiten war die epische Sprache des Films zuweilen so etwas wie ein Hort der Muße und Entspannung. Da mich zu guter Letzt auch noch englische Parks und die Ideen, die deren Gestaltung zugrunde liegen, brennend interessierten, war der Entschluss zur Teilnahme an diesem Symposium über Gartenarchitektur schnell gefasst.

      Für den betreffenden Zeitraum nahm ich also einen langen Sonderurlaub in der Absicht, mit meinem Wohnmobil nach England und dann – gleichsam als Draufgabe und Kontrapunkt zu dieser zivilisierten Welt – in die wilden schottischen Highlands zu reisen. Da ich ähnliche Fahrten bereits mehrmals unternommen hatte, wusste ich gut um den für mich bestmöglichen Ablauf Bescheid: Vor der Abreise würde ich ein oder zwei Tage fast nur schlafen und mich ausruhen, um dann – mit vielen Unterbrechungen – den Weg nach Oxford in einem zurück zu legen. Überdies war die Reise so geplant, dass ich abends in Oostende ankam, eine Nachtfähre nahm und mich bei Dunkelheit auf menschenleeren Straßen an den britischen Linksverkehr gewöhnen konnte. Noch vor den Morgenstaus würde ich dann, wenn alles klappte, in Oxford ankommen.

      Auch die damalige Reise nach Großbritannien verlief ohne Probleme. Da die erste Spur auf den Autobahnen dereinst noch keine mobile Lagerhalle war, fuhren die Lastwägen auch noch nicht Stoßstange an Stoßstange. Wenn man also bereit war, bei gemächlichem Tempo die erste Autobahnspur zu benützen, und wenn es einen nicht störte, gelegentlich von großen Sattelschleppern überholt zu werden, dann konnte man entspannt und fast allein auf der Autobahn dahinrollen und sich so auch der Landschaft und den eigenen Gedanken widmen.

      Bei diesen Reisen fand ich besonderen Gefallen daran, die Lokalsender der jeweiligen Gegend zu hören, und ich überließ es daher dem Radio, immer wieder die nächstgelegene Sendestation anzupeilen. Geburtstagwünsche für die liebe Omama drangen dann über den Äther, oder es wurde leidenschaftlich über die Finanzierung des neuen Hallenbades diskutiert, oder im Kindergarten waren soeben einige Eltern mit ihren Sprösslingen aus Partnergemeinden eingetroffen. Wenn man sich dann erneut einer größeren Stadt näherte, wurde der Gesprächsstoff sogleich allgemeiner. Aus der Landes- oder Bundeshauptstadt waren Berichte zu hören, und auch Korrespondenten aus Brüssel oder Washington meldeten sich zu Wort. Hatte man schließlich das Einzugsgebiet der Großstadt hinter sich gelassen, wurden wieder die Inhalte der Nachrichten im Nu konkreter. Wohl vom besonderen Lokalkolorit beeindruckt, kam mir bei einer dieser Fahrten die Idee, wie attraktiv es doch wäre, gäbe es neben den vielen Autobahnen auch noch Alleen durch ganz Europa. In den verschiedenen Abschnitten wären dann autochthone, also für die jeweilige Gegend typische Bäume gepflanzt, die anderswo nicht so prächtig gedeihen können.

      Einigermaßen entspannt, kam ich bei der besagten Reise am Abend in Oostende an. Dort fand ich problemlos einen Platz auf einer der fast leeren Nachtfähren, genoss endlich wieder das Schaukeln eines großen Schiffes auf rauer See, schlief ein wenig und gewöhnte mich, wie geplant, auf der Fahrt von Dover nach Oxford an den Linksverkehr. Noch vor Morgengrauen kam ich dort an und verschlief den Tag auf einem Campingplatz in meinem Wohnmobil.

      Abends, als gerade das tägliche Glockenspiel über der Stadt zu hören war, schlenderte ich die Themse flussaufwärts ins Zentrum der Stadt. Wie einen Willkommensgruß empfand ich den lauen, ungewohnt langen englischen Sommerabend – mit den riesigen Bäumen ringsum, den gelegentlichen Blumendüften, die von irgendwo heranwehten, und den kleinen Menschengruppen, die sich zu einem Picknick in den Parks oder am Ufer der Themse getroffen hatten. Als wollte sie überhaupt nicht mehr untergehen, wanderte die Sonne stundenlang den Horizont entlang.

      Das alte Oxford, aus orangem, grauem, ocker- oder maisgelb gefärbtem Sandstein erbaut, liegt in einer kleinen Talsenke, von sanften Hügeln umgeben. Die Stadt trägt den Beinamen The Heart of England, also ›das Herz Englands‹. Aber dieser Ehrentitel ist wohl ein typisch britisches Understatement. Denn In Wirklichkeit ist Oxford, in der die erste englischsprachige Universität gegründet worden war, natürlich viel mehr als nur das geistige Zentrum eines bestimmten Landes.

      Nachdem ich mich auf einer Bank, mit Blick auf eine grandiose Flusslandschaft etwas ausgeruht hatte, verließ ich das Ufer der Themse und die vielen, entspannt in der Wiese Sitzenden und spazierte am Christ Church College vorbei. Gleich neben dem Hauptgebäude graste in den dazugehörigen Wiesen, den Meadows, friedlich eine Herde schwarz-weiß gefleckter Kühe. Viele Jugendliche kamen mir entgegen, oft ein Fahrrad schiebend und miteinander schwatzend. Ihre zumeist dunkelblau gefärbten Pullover hatten sie, da es noch ungewöhnlich warm war, um die Schultern gebunden. Auf dem Fahrradlenker war häufig ein Korb befestigt, in dem Bücher, ein Laptop oder etwas Essbares lagen.

      Sobald man Oxfords geschäftige Hauptstraßen verließ und einen der Innenhöfe der Colleges betrat, umfing einen eine Atmosphäre der Ruhe und Geborgenheit: ein sorgsam gepflegter Rasen, der mit einem niedrigen Eisenzaun von den geschotterten Wegen getrennt war; einige zumeist efeuberankte, nur zwei oder drei Stockwerke hohe Gebäude in einem großen Viereck; die weit in den Innenhof ragenden abgerundeten und abgetretenen Steinstufen; die knarrenden Holztreppen hinauf zu den Zimmern; die windgeschützten Sitzbänke, wo sich Studierende in der Abendsonne entspannten oder in einem Buch blätterten. Das alles schien erfüllt von einer lockeren, überaus kreativen Atmosphäre und vom Hauch Jahrhunderte alter, jugendlicher Träume.

      Den Mittelpunkt Oxfords bildet eine Riesenbibliothek, die weltberühmte Bodleian Library mit einem Bestand von etwa zehn Millionen Büchern. Von dort zum Fluss Cherwell, der im Süden der Stadt mit der Themse zusammenfließt, ist es nur ein kurzer Spaziergang. Bei Sonnenschein drängen sich auf dem Fluss dutzende punting boats. In diesen Flachbooten steht auf dem hinteren Teil der ›Gondoliere‹, der mit einer langen Stange den Boden des Flusses zu erreichen und auf diese Weise das Boot anzuschieben und zu lenken versucht. Zumeist sind es Studierende, die ihre Kommilitonen, die nicht selten miteinander eine Flasche Champagner teilen, zu den Pubs entlang des Flusses rudern. Manchmal gleitet das Boot mit gut gelaunten Insassen an Obdachlosen vorbei, die am Ufer auf einer Bank sitzen und reglos in die Ferne starren, neben sich eine in einen braunen Papiersack gewickelte Flasche. Bisweilen machten die Bootsleute aber gleich irgendwo am Ufer Halt und legten sich auf die Wiese unter einen Baum, betrachteten den Himmel und den Rauch der Zigaretten, der wie ein Schleier empor zu den Blättern wehte.

      Einige Tage lang blieb ich in Oxford und besuchte jene Orte, an denen ich schon hunderte Male zuvor gewesen war: das Pub ganz in der Nähe der Bibliothek sowie jenes aus dem 13. Jahrhundert, wo schon Dezennien vor der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus Studenten ein und aus gegangen waren. Mehrmals stieg ich die Stufen zum Eingang des Sheldonian Theatre hinauf, um mich auf einer der Sitzbänke im Freien auszuruhen und einfach zu schauen; oder ich spazierte nach Summertown, jenem Stadtteil im Norden der Stadt, der auch auf breiten Gehwegen durch einen Park und neben Villen und modernen Universitätsgebäuden zu erreichen ist.

      An einem ziemlich kühlen Nachmittag wanderte ich die Themse entlang nach Norden zu den Pubs am Rande der Stadt. Hatte es längere Zeit nicht geregnet, so saßen sogleich viele mit einem Getränk in der Hand am Flussufer und schauten den Fischen zu, die sich um das Futter zankten, das ihnen Kinder zugeworfen hatten. Kaum etwas schien sich in all den Jahren geändert zu haben, die Zeit stand zumindest dort, in den ländlicheren public houses, still. Continuity, also ›Beständigkeit‹ oder einfach ›Kontinuität‹ ist wohl das Typische, wenn nicht das Geheimnis der englischen Kultur. Vieles ändert sich wie ein träger Fluss nur sehr langsam, wenn überhaupt, und das Allermeiste wird, wenn nur irgendwie möglich, bewahrt. Neu hinzugekommen sind allerdings die zahlreichen Überwachungskameras und die allgegenwärtigen Handys, die regelmäßig nach einem kurzen Gesang oder Trommelwirbel Menschen aus der Nähe in eine andere Welt lockten. Wenn ich die Fußgängerzone